Ideologie und staatliche Gewaltverbrechen – Internationale Nachwuchstagung

Ideologie und staatliche Gewaltverbrechen – Internationale Nachwuchstagung

Organisatoren
DoktorandInnen, Institut für Diaspora- und Genozidforschung, Ruhr-Universität Bochum
Ort
Bochum
Land
Deutschland
Vom - Bis
04.12.2013 - 06.12.2013
Url der Konferenzwebsite
Von
Christian Wobig, Ruhr-Universität Bochum

Vom 4. bis 6. Dezember 2013 fand an der Ruhr-Universität Bochum eine internationale Nachwuchstagung für Interdisziplinäre Genozidforschung unter dem Titel „Ideologie und staatliche Gewaltverbrechen“ statt, die von den DoktorandInnen des Instituts für Diaspora- und Genozidforschung ausgerichtet wurde. Den Ausgangspunkt der Tagung bildete die Überlegung, dass zahlreiche Beispiele aus der Geschichte staatlicher Gewaltverbrechen des 20. Jahrhunderts, wie der Genozid an den Armeniern oder der Holocaust, zeigen, dass Ideologie bei der Konstitution einer Tätergruppe und deren Mobilisierung eine zentrale Rolle zukommt. Nichtsdestotrotz bleibt Ideologie als Analysekategorie der geistes- und kulturwissenschaftlichen Beschäftigung mit Genoziden und kollektiven Gewaltakten bis heute weitgehend unterbelichtet.

MIHRAN DABAG (Bochum), Direktor des Instituts für Diaspora- und Genozidforschung, eröffnete die Tagung mit einem Abendvortrag, in dem er seine Überlegungen zu den Begriffen Ideologie und Genozid in ihrem Verhältnis zu dem Phänomen der generationalen Selbstermächtigung ausführte. Dabag verdeutlichte, dass individuelles Täterhandeln nur vor dem Hintergrund seiner gesellschaftlichen Rahmung analysierbar sei. Anhand der Gründungstexte, sowohl der Jungtürken, als auch denen der Nationalsozialisten, zeigte er auf, dass der Begriff der Generation eine zentrale Rolle bei der Konstituierung des politisch handlungstragenden Akteurs zukomme. In beiden Fällen markiere die „junge Generation“ eine Grenzziehung zu der als korrumpiert geltenden „älteren Generation“, die daher weder moralischer Maßstab noch Autorität für die Nachgeborenen sein könne. So entstehe innerhalb eines Kohorten- und Erfahrungszusammenhangs ein Bewusstsein der geschichtlichen Erwähltheit, das eine Legitimation des politischen Handelns von außerhalb obsolet mache.

In seinem Vortrag über „Ideologische Dynamiken der Massengewalt“ konstatierte JONATHAN LEADER MAYNARD (Oxford), dass komparative Ansätze das Problem hätten, hinter den Ergebnissen der Fallstudien zurückzubleiben. Zudem gäbe es nur wenige integrative Theorien zwischen Gewalt- und Ideologieforschung. Maynard plädierte für eine Definition von Ideologie, die breit angelegt und subtypologisiert sein solle, sowie die Reichhaltigkeit von Ideologie berücksichtige. Ideologien, so Maynard, seien komplexe Netzwerke von Ideenbeständen, die nicht auf einzelne Ideologeme, wie zum Beispiel Antisemitismus, verkürzt werden dürften.

Maynard argumentierte, dass ein besseres Verständnis der ideologischen Dynamiken von Genoziden und anderen kollektiven Gewaltverbrechen über sechs ‚Rechtfertigungs-Mechanismen‘: „Entmenschlichung“, „Schuldzuschreibung“, „Bedrohungskonstruktion“, „Handlungsentmächtigung“, „Tugend-Rede“ und „Zukunftsgläubigkeit“ erreicht werden könne, wobei die ersten drei primär Opfercharakterisierungen darstellten, während die übrigen vor allem Tätercharakterisierungen seien. Hinzu kämen drei ‚Intensivierungs-Mechanismen‘: „ethische Skepsis“, „epistemische Arroganz“ und „Polarisation“. Durch dieses theoretische Gerüst sei es möglich, schloss Maynard, einzelfallübergreifende Muster in der ideologischen Dynamik von kollektiver Gewalt begrifflich zu fassen und zu erforschen.

ANDREW BASSO (Calgary) untersuchte die Beziehung zwischen staatlicher Ideologie und Gruppendynamiken. Anhand der Ergebnisse von empirischen sozialpsychologischen Studien (unter anderem Robbers-Cave und Stanford-Prison-Experimente) zeigte Basso, dass die in einer Gruppe wirkenden Dynamiken das Verhalten ihrer Mitglieder innerhalb kürzester Zeit verändern können. Dies gelte besonders für geschlossene Gruppen wie Polizeieinheiten. In Situationen, die die Gruppe außerhalb der gewohnten Umgebung und Normensphäre stelle, so Basso, wirke die ideologische Konstruktion einer äußeren Bedrohung, die es gewalttätig abzuwenden gelte, besonders enthemmend. Die Gruppendynamik erfasse so auch Mitglieder, die nicht rückhaltlos von der legitimierenden Ideologie überzeugt seien. Dabei sei noch nicht ausreichend erforscht, welche Wirkung externe Kritik auf das Handeln der Gruppe habe.

VOLKER PROTT (Florenz) entwickelte hinsichtlich des Feuers in Smyrna von 1922 eine Theorie der ideologischen Rahmung kollektiver Gewalt. Nach Prott bestehe eine zirkuläre Beziehung zwischen internationalem Diskurs, staatlichen Eliten und lokalen Akteuren, die nicht nur als top-down, sondern auch als bottom-up-Verhältnis zu analysieren sei. Die kontrovers diskutierte Frage nach dem Brandleger könne nicht endgültig beantwortet werden. Das Handeln der türkischen Soldaten, die das Feuer nicht löschten und auf die christlichen Viertel eingrenzten, sei ebenso der Dynamik der Situation geschuldet, als auch durch die unter den Soldaten verbreitete nationalistische Ideologie bestärkt gewesen. Diese Dynamik habe sich mit den ideologischen Interessen der türkischen Führung gedeckt und sei erst nachträglich legitimiert worden. Das Handeln der lokalen Akteure habe darüber hinaus mit dem internationalen völkerrechtlichen und bevölkerungspolitischen Diskurs vom homogenen Nationalstaat übereingestimmt.

TEHMINE MARTOYAN (Jerewan) ging in ihrem Beitrag ebenfalls auf das Feuer von Smyrna ein, betonte allerdings die ideologischen Kontinuitäten zwischen der jungtürkischen und der kemalistischen Bewegung. Das Feuer und seine Entstehungsumstände, so Martoyon, müsse im Licht dieser Kontinuitäten gesehen werden. Sie warf die Frage auf, ob die kemalistische, ähnlich der jungtürkischen Ideologie, genozidale Aspekte transportiert und denk- und ausführbar gemacht habe. Dabei müsse weniger die Frage nach dem Urheber des Feuers gestellt werden, sondern vielmehr danach, wem es genützt habe.

SARA ELISABETH SWERDLYK (Budapest) eröffnete eine interessante neue Perspektive auf den NS-Völkermord an den Roma in Tschechien, anhand dessen sie geschlechtsspezifische Besonderheiten aufzeigte. Zwar sei Ruth Bondys Äußerung, das Gas in den Gaskammern habe keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen gemacht, nicht unberechtigt, allerdings seien die meisten tschechischen Roma nicht durch Gas, sondern durch Misshandlungen in den Lagern umgebracht worden. Zu geschlechtsspezifischen Erfahrungen, die Frauen während des Holocaust in den Lagern gemacht hätten, zählten besonders die Konfrontation mit erzwungenem Schwangerschaftsabbruch, Fehlgeburt, ungewollter Mutterschaft infolge von Vergewaltigung und Zwangssterilisation. Auch vergleichbare Erfahrungen, wie die Ankunft und Eingliederung ins Lager sowie das dortige Überleben durch körperliche Arbeit, stellte Frauen vor andere Anforderungen als Männer und bewirkte geschlechtsspezifische Traumata.

Die Vernichtung der Roma in der Ukraine erfolgte, laut MIKHAIL TYAGLYY (Kiew), ohne expliziten Befehl „von oben“. Die federführenden NS-Autoritäten, Wehrmacht, die Zivilverwaltung des Reichskommissariats Ukraine sowie der zuständige höhere SS- und Polizeiführer, wurden vielmehr in Eigenverantwortung tätig. Hinsichtlich der Frage, welche Rolle die nationalsozialistische Ideologie in Bezug auf Initiierung und Durchführung der Vernichtung der Roma in der Ukraine gespielt habe, konnte Tyaglyy bisher nur wenige Indizien für eine ideologische Indoktrination durch die regionale NS-Führung finden. Das Archivmaterial zeige, dass die Anweisungen der NS-Führung nur vage von den speziellen Interessen von Wehrmacht, Kommissariatsverwaltung und Sicherheitsapparat geleitet waren. Auf der lokalen Ebene stieß Tyaglyy dementsprechend auf sehr unterschiedliche Vorgehensweisen, was einen großen Anteil an Eigeninitiative bei der Umsetzung vermuten ließe.

CHRISTINE SCHOENMAKERS (Oldenburg) untersuchte anhand von Gerichtsakten, Presseartikeln, Selbstzeugnissen betroffener Juristen und Interviews mit deren Nachkommen die Wechselwirkungen zwischen der Vorstellung der „Volksgemeinschaft“ und der Praxis der Rechtsprechung. Sie betonte, dass Gerichte aktiv an der Herstellung von „Volksgemeinschaft“ beteiligt waren. Gerichte, so Schoenmakers, dienten als Bühne für die Demonstration der volksgemeinschaftlichen Ideologie, jeder Richtspruch sei Teil ihrer wiederholten Demonstration und Festigung gewesen. Schoenmakers richtete den Blick auf das Fortwirken der Vorstellung von „Volksgemeinschaft“ nach 1945, auf die ungebrochenen Karrieren vieler NS-Juristen, die ein apologetisches Bild der „Volksgemeinschaft“ als Idealtypus einer Gesellschaft propagierten und auf die Konsequenzen dessen für das kollektive Erinnern daran in den folgenden Generationen.

DAVID SCHMIEDEL (Magdeburg) bediente sich eines interdisziplinären Zugangs zwischen Geschichts- und Religionswissenschaft. Schmiedel bemerkte, dass religionsbezogene Studien zur NS-Zeit sich auf kirchliche Institutionen und deren Personal beschränkten. Da 95 Prozent aller deutschen Soldaten formell einer der christlichen Kirchen angehört hätten, sei eine weitestgehende Säkularisierung innerhalb der Wehrmacht nicht anzunehmen. Daher sei eine qualitative und religionssoziologische Analyse von Feldpostbriefen, Tagebüchern, Abhörprotokollen und Seelsorgeberichten angezeigt, um sich Gottesbildern deutscher Soldaten anzunähern. Dadurch könne untersucht werden, welche Aspekte des Christentums anschlussfähig an NS-Ideologeme gewesen seien und dergestalt die Teilnahme der Soldaten an den Gewaltverbrechen des Dritten Reiches legitimiert hätten.

Am Beispiel des Dortmunder Reserve-Polizeibataillons 61 legte JAN-HENDRIK ISSINGER (Freiburg) dar, dass es für die Untersuchung von ideologischen Einflussfaktoren auf Gewaltausübende wichtig sei, die organisatorischen Strukturen einer Gruppe in Beziehung zu ihren internen Prozessen zu setzen. Eine multiperspektivische Annäherung zeige, dass die Gruppenmitglieder höchst unterschiedlich motiviert gewesen seien, neben Ideologie durch opportunistische Handlungsmotivationen, Mentalitäten und Weltbilder. Während willfähriges Handeln auf Akzeptanz in der Heimat hoffen ließ, seien Widerstand und Verweigerung nur selten vorgekommen. Bei der Ausübung von Massengewalt habe sich die NS-Ideologie als Legitimations- und Bezugsrahmen erwiesen, der hohe ein- wie ausschließende Kräfte mobilisieren konnte. Die „Bedrohung der Volksgemeinschaft“, belegte die Ausgeschlossenen mit die Tat legitimierenden Eigenschaften wie Minderwertigkeit und Kriminalität.

SVEN DEPPISCH (München) befasste sich mit der weltanschaulichen Schulung der NS-Ordnungspolizei. Bisher existierende Studien hätten den Blick stets auf den Aspekt des Antisemitismus beschränkt, jedoch verstelle eine solche Verengung die Frage nach dem Einfluss von ideologischer Schulung auf das spätere Handeln in den Einsatzgruppen und an anderen Schauplätzen von NS-Verbrechen. Deppisch zeigte auf, dass die Ausbildung der Polizeischüler an die ideologische Schulung der SS angelehnt war. Letztere sollte, Deppisch zufolge, der Konstruktion eines ideologischen Referenzrahmens dienen, innerhalb dessen die Ordnungspolizisten bei der Umsetzung der rassistischen Politik des NS-Regimes, der Verwirklichung und Sicherung des Fortbestands der „Volksgemeinschaft“ helfen konnten.

In der abschließenden Diskussion wurde das vergeblich erscheinende Bemühen um einen empirischen Nachweis von der Wirkmacht von Ideologie auf die Akteure problematisiert, da die Motivationen individuellen Täterhandelns sich stets dem direkten Zugriff der Forschung entziehen. Anstelle Ideologie als feststehendes geschlossenes System aufzufassen, müsse sie als kontingenter Prozess verstanden und nach Entstehung und Plausibilität befragt werden. Bezüglich der Begriffsbestimmung bestehe das Problem darin, dass Ideologie oftmals als von einer Elite entworfenes System aufgefasst werde. Demgegenüber gelte es zu berücksichtigen, dass Eliten ihre Wissensbestände nicht aus sich heraus erschaffen, sondern vielmehr Aspekte aus „dem Matsch der Gesellschaft“ aufnehmen und sie zu einer universellen Theorie verbinden. Ein Ansatz der dies berücksichtige, könnte helfen, die Frage nach den Vermittlungsebenen für Ideologie zu beantworten, indem er Hinweise darauf gäbe, wo einzelne Ideologeme Ansatzpunkte im Diskurs ihrer Zeit finden. Diese Anschlussfähigkeit ließe sich, allerdings nicht mit Blick auf Ideologie allein erklären – vielmehr müssten auch gesellschaftliche Kontexte und reale wie konstruierte Kontinuitäten – wie zum Beispiel ein generationales Sendungsbewusstsein – innerhalb der Gesellschaft in den Blick genommen werden.

Konferenzübersicht:

Eröffnungsvortrag
Mihran Dabag (Bochum), Ideologie, generationale Selbstermächtigung und Genozid

Panel I: Theoretical and Comparative Approaches
Jonathan Leader Maynard (Oxford), A Theory of the Ideological Dynamics of Mass Atrocities

Andrew Basso (Calgary), Understanding Genocide Perpetrators: The relationship between group psychology and ideological exterminationism

Panel II: Case Studies in Collective Violence / Smyrna
Volker Prott (Florenz), The Great Fire of Smyrna: The grassroots level and the transnational dimension

Tehmine Martoyan (Jerewan), Kemalism and the Christian Minorities: The extermination of the Armenian and the Greek population of Smyrna as a manifestation of the Turkish state policy

Panel III: Case Studies in Collective Violence / National-socialist Extermination of Roma

Sara Elisabeth Swerdlyk (Budapest), Gendering Genocide: Feminist analysis and the Holocaust of the Czech Roma

Mikhail Tyaglyy (Kiew), Genocide from the bottom up: Radicalization of the Nazi anti-Roma murderous politics in the occupied eastern terrain in 1942 as a result of local initiatives

Panel IV: Agency in the “Volksgemeinschaft"

Christine Schoenmakers (Oldenburg), Vergemeinschaftung der Gewalt. Die „NS-Volksgemeinschaft“ als ideologische Grundlage für den Holocaust

David Schmiedel (Magdeburg), „Gott“ im totalen Krieg. Wie verarbeiteten deutsche Wehrmachtssoldaten die Spannungen zwischen christlicher Tradition und Vernichtungskrieg?

Panel V: Making Sense of the Holocaust

Jan-Hendrik Issinger (Freiburg), Legitimität und Sinnhaftigkeit als Kerndimensionen staatlicher Gewaltverbrechen

Sven Deppisch (München), Der Lehrplan zur „Endlösung“ – Die weltanschauliche Schulung der Ordnungspolizei als ideologische Legitimation des Holocaust

Zusammenfassung und Abschlussdiskussion


Redaktion
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