Die Bedeutung von Populärkultur und ihrer Mittler in den deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 / La place de la culture de masse et de ses médiateurs dans les relations franco-allemandes après 1945

Die Bedeutung von Populärkultur und ihrer Mittler in den deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 / La place de la culture de masse et de ses médiateurs dans les relations franco-allemandes après 1945

Organisatoren
Dietmar Hüser, Universität des Saarlandes; Ulrich Pfeil, Universität Metz
Ort
Saarbrücken
Land
Deutschland
Vom - Bis
09.06.2014 - 11.06.2014
Url der Konferenzwebsite
Von
Dietmar Hüser / Isabelle Morandini / Jasmin Nicklas, Historisches Institut, Universität des Saarlandes

Bei dem interdisziplinären Workshop, der sich sowohl an fortgeschrittene Studierende und NachwuchswissenschaftlerInnen als auch an erfahrene ForscherInnen richtete, ging es um einen bislang unterbelichteten Themenbereich, konkret um deutsch-französische GrenzgängerInnen und MittlerInnen aus dem Bereich der Populärkultur, die im jeweils anderen Land breite mediale Relevanz und massenhafte Rezeption erfahren haben. Bei der Frage, wie denn auf zivilgesellschaftlicher Ebene nach dem Zweiten Weltkrieg aus jahrzehntelanger Konfrontation dauerhafte Kooperation entstanden sei, lag der Fokus stets auf staatlich beförderten Kultureinrichtungen, auf Bürgerengagement in deutsch-französischen Gesellschaften und Städtepartnerschaften oder auf intellektuellen Mittlergestalten wie Robert Minder, Joseph Rovan oder Alfred Grosser. Auf dieser Folie nahm sich der Workshop vor, solche nunmehr etablierten Ansätze um Figuren, Medien und Ausdrucksformen aus dem Feld der Populärkultur zu erweitern. Mit dem Fokus auf Musik und Film, auf Radio und Fernsehen, auf Publikumszeitschriften aller Art, auf Comics und Karikaturen, auch auf kulturellen Praktiken im Bereich neuer Medien oder des Sports sollten besonders die Rolle solcher Mittlerinstanzen, die Funktionsweisen der Transfers sowie die Diffusions- und Rezeptionsmechanismen herausgearbeitet werden. Welche Chancen und Grenzen prägten den binationalen Austausch, welche deutsch-französischen Asymmetrien sind im Zeitverlauf zu konstatieren?

Einleitend skizzierte DIETMAR HÜSER (Saarbrücken) die Forschungskontexte, für die das Themenfeld „Populärkulturelle Mittler“ einen wissenschaftlichen Mehrwert verspricht: Zunächst ganz allgemein für die deutsch-französischen Beziehungen nach 1945, die mehr und mehr den Charakter einer Integrationsgeschichte aus politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Elementen annimmt; dann für eine Geschichte transnationaler Mittler, die nicht mehr allein auf „Ländererklärer“ mit Verständigungsimpetus abhebt, sondern auch nach Mittlern und Praktiken ohne verständigungspolitische Absichten sowie nach deren potenziellen Effekten fragt; weiter für eine lange vernachlässigte Geschichte der Populärkultur, die konsequent nationale Horizonte überschreitet und die transnationale Erkenntnispotenziale ausschöpft; schließlich für eine Geschichte zeithistorischer Kulturtransfers, die weniger die Angebote und Intentionen der Ausgangskultur betrachtet als die Nachfrage und Auswahlmechanismen in den Empfängerkulturen sowie deren Spezifik und Originalität.

In der ersten Sektion „Gedrucktes“ untersuchte SONJA MALZNER (Rouen) die darstellerische Entwicklung Frankreichs im bundesdeutschen Reisemagazin Merian von 1948 bis heute. Es ließ sich zeigen, dass das Heft als Seismograph für die Veränderung des bundesdeutschen Reiseverhaltens gelten kann. Die Berichte über Frankreich konzentrieren sich auf Paris und klassische Tourismus-Regionen wie die Provence. Daneben wird besonders das Elsass als Reiseziel angepriesen, ganz so, als diene die Grenzregion als Aufhänger, um einen versöhnlichen Diskurs zwischen Frankreich und Westdeutschland zu transportieren. Politisches im engeren Sinne kommt freilich nicht vor. Verglichen mit anderen beliebten Urlaubsländern scheint es, als würde Merian einen besonders differenzierten Umgang mit Frankreich pflegen.

NICOLE COLIN (Amsterdam) referierte über die deutsch-französische Aussöhnung im Spiegel der Vergangenheitsbewältigung im Comic am Beispiel der sechsbändigen „Amours fragiles“ von Philippe Richelle und Jean-Michel Beuriot, die in deutscher Übersetzung mit „Unter dem Hakenkreuz“ betitelt sind. Die Autoren haben die Geschichte selbst als regard croisé angelegt, handelt es sich doch um eine Erzählung aus Sicht des deutschen Offiziers Martin Mahner im besetzten Paris. Problematisch beim Darstellen „schwerer Themen in leichten Formen“, so Colin, sei das Spannungsfeld zwischen Unterhaltsamkeit und historischer Tragweite. Verstärkt werde die Problematik durch Genrekonventionen des Comics, für die Typisierungen und Klischeehaftes unumgänglich seien. Es stellt sich die Frage, inwieweit alternative Narrative gegenüber einem dominanten Narrativ über den Nationalsozialismus überhaupt sichtbar werden und greifen können.

SANDRA SCHMIDT (Clermont-Ferrand) stellte den französischen „Politik-Zeichner“ Plantu (Jean Plantureux) und seinen Blick auf das deutsch-französische Verhältnis vor. Plantu, der sich selbst als dessinateur de gauche bezeichnet und der seit über dreißig Jahren die französische Innen- und Außenpolitik zeichnerisch in „Le Monde“ begleitet, kann fraglos als Mittler zentraler deutsch-französischer Themen für eine interessierte Öffentlichkeit in Frankreich – und dank zunehmender Rezeption seiner Karikaturen mittlerweile auch in Deutschland – gelten.

Auch INGEBORG RABENSTEIN-MICHEL (Lyon) widmete sich Gezeichnetem. Der Fokus des Vortrages lag auf den Arbeiten von Claire Brétecher und Chlodwig Poth, die sich – jeweils bezogen auf ihre Heimatländer – kritisch mit ähnlichen Themen des gesellschaftlichen Wandels in der réalité post-militante auseinandergesetzt haben. Anders als Claire Brétecher, deren erste Bände bereits seit Ende der 1970er-Jahre in deutscher Übersetzung vorlagen und auf beträchtliche Resonanz stießen, fand Chlodwig Poth kaum Rezipienten im Nachbarland.

In der zweiten Sektion am frühen Nachmittag ging es dann um „Gehörtes“. Zunächst thematisierte CORINE DEFRANCE (Paris) in ihrem Beitrag die französische Chanson-Sängerin Barbara, die mit dem Stück „Göttingen“ 1964 ein Symbol der deutsch-französischen Aussöhnung schuf. Entstanden war es als Lied an die Jugend in Göttingen und als Reaktion auf die überaus positiven Erfahrungen, die Barbara dort bei einem anfangs widerwillig zugesagten Gastspiel gemacht hatte. Auch Barbara selbst, die 1967 eine LP mit deutschen Versionen ihrer Chansons veröffentlichte, fungierte bald als Mittlerin einer Verständigung zwischen beiden Ländern, obwohl sie angesichts schmerzhafter persönlicher Erfahrungen während des Nationalsozialismus und der deutschen Besetzung Frankreichs wenig dafür prädestinierte. In Deutschland letztlich weniger populär als in Frankreich, wo sie auch heute noch als Ikone des Nachkriegschansons gilt, lässt sich Barbara in ihrer Mittlerfunktion zwischen verständigungsorientierten und nicht-intentionalen Mittlern einordnen.

Danach präsentierte ANDREAS LINSENMANN (Mainz) eine damals in Frankreich, aber auch in Deutschland sehr bekannte Künstlerin: Édith Piaf. Bereits im Juli 1945 begann die französische Militärregierung im Südwesten Konzerte und andere Kulturveranstaltungen zu organisieren. Dabei zeichnete sich schnell ab, dass besonders das Variété-Genre beim Publikum größeren Anklang fand als hochkulturelle Angebote und damit höhere finanzielle Einnahmen erbrachten. In diesem Kontext gab im Herbst 1945 auch Édith Piaf gemeinsam mit den Compagnons de la Chanson mehrere Konzerte. Angesichts des enormen Erfolges bei einem breiten Publikum war es Linsenmann zufolge eine verpasste Chance, ähnliche Events ab Februar 1947 nicht mehr zu programmieren, unterhaltende Genres als Anti-Kulturpropaganda einzustufen und trotz geringerer Nachfrage auf klassisch hochkulturelle Veranstaltungen zu setzen.

Abgerundet wurde die Sektion durch einen Blick in die Praxis. Radiomoderator GERD HEGER (Saarbrücken), durch Musiksendungen und Chanson-Abende seit vielen Jahren einer der wichtigsten Vermittler populärer Lieder und Genres aus Frankreich nach Deutschland, verwies auf die strukturellen Differenzen der Songkulturen beider Länder. Trotz enger grenzüberschreitender Radiokooperation und der Förderung französischer Musik durch das Berliner Exportbüro sei doch das Publikumsinteresse gerade unter jungen Leuten begrenzt, wenn es um traditionelles Chanson gehe. Besser kämen frankophone Pop-Produktionen mit internationalem Charakter an. Eine Rezeption deutscher Unterhaltungsmusik in Frankreich gäbe es dagegen kaum oder nur ausnahmsweise. Seine Vision für den Hörfunk ist ein zweisprachiges Radio in der Grenzregion, das einen großen Stellenwert im deutsch-französischen Dialog einnehmen könnte.

Als Auftakt zur dritten Sektion „Gesehenes & Gehörtes“ stellte LAURENCE GUILLON (Nanterre) den beliebten französischen Schauspieler Louis de Funès als Mittler heraus, der mit seinen Filmen einen neuen Blick auf Frankreich ermöglichte: ein Frankreich, das auch über sich selbst, über seine offiziell hochgehaltenen Institutionen und zivilisatorischen Errungenschaften lachen konnte. Im deutschen Aneignen des Schauspielers sei Louis de Funès im Grunde noch einmal neu erfunden worden und habe eine ungezwungene humorvolle Annäherung zwischen den Ländern ermöglicht. Bei aller unterhaltungskulturellen Banalisierung der Figur helfe doch Louis de Funès, den Réné Steinberg zum Beispiel in WDR-Radioepisoden als französischen „Botschafter“ breitenwirksam in Szene setzt, um Deutschen Französisches nahezubringen.

SARA WLODARCZYK (Paris) beschäftigte sich mit der Entwicklung der deutsch-französischen Radiodialoge nach dem Zweiten Weltkrieg 1945. Erörtert wurde, wie Frankreichs Militärregierung in Baden-Baden entsprechende Sendungen als Mittel des „Demokratie-Lernens“ und im Sinne eines verständigungsorientierten Umgangs mit bilateralen Frage- und Problemstellungen initiiert hat, aber auch, welche Schwierigkeiten politischer wie finanzieller Art sich dabei ergaben. Zugleich „erfanden“ die 1950er-Jahre mit solchen dialogischen Formaten radiophone Traditionen, die stilbildend blieben und einen wichtigen Baustein der deutsch-französischen Verständigung bildeten.

CHRISTOPH OLIVER MAYER (Zwickau) betrachtete in seinem engagierten Vortrag den Grand Prix de la Chanson de l’Eurovision seit seinem Etablieren im Jahre 1956 als Chiffre für die Entwicklung des deutsch-französischen Verhältnisses. Dabei ging er zunächst auf die Anfänge des als Komponistenwettbewerb der gehobenen Musik konzipierten Kulturevents ein. Damals war die Sendung eine der wenigen Gelegenheiten, die französische Sprache im westdeutschen Fernsehen zu hören. Im Zuge von Europäisierung und Globalisierung, auch im Zuge der massiven Ausweitung der Teilnehmerstaaten am Ende des Ost-West-Konflikts zerbröselte die Vorrangstellung des Französischen mehr und mehr zugunsten des Englischen. Versuche französischer Grand Prix-Verantwortlicher, das musikalische Image des Landes zu modernisieren und Anfang der 1990er-Jahre immer weniger auf klassisches Chanson als auf Stücke einer France au pluriel zu setzen, mochten kurzfristig durchaus zu Erfolgen führen, nicht aber auf Dauer. In Frankreich verlor der Wettbewerb – im Gegensatz zu Deutschland, das den Grand Prix Ende der 1990er-Jahre für sich neu erfand – erheblich an Attraktivität und Publikumsinteresse, und dies, Mayer zufolge, bis heute und mit Konsequenzen für den deutsch-französischen Musikdialog.

Thema der vierten Sektion „Decodiertes“ war zunächst eine Perzeptionsgeschichte von deutschen und französischen Auswanderern, die DANA MARTIN (Clermont-Ferrand) in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen stellte. Dabei betonte sie ein prinzipiell eher asymmetrisches deutschlastiges Vermitteln französischer Kultur sowie ein schwächeres Interesse von Französinnen und Franzosen. Die Themen der AutorInnen und BloggerInnen beider Länder seien indes ähnlich und bewegten sich in offensichtlichen Alltagsbereichen wie Erfahrungen in der Liebe, Modetrends oder Kulinarischem, aber auch auf weniger offensichtlichen Feldern wie gesellschaftlichen Konventionen. Die MittlerInnen der jeweils anderen Kultur fungierten demnach als Akteure/innen im Verständigungsprozess, dessen charakteristische Prägung durch permanente Kulturvergleiche, durch bewusste Eigen- und Fremdwahrnehmungen und durch respektive Erwartungshorizonte erfolge.

ALBRECHT SONNTAG (Angers) widmete sich dem Massenphänomen Fußball und seiner Rolle im deutsch-französischen Dialog. Er zeigte die Veränderung in der Wahrnehmung des jeweiligen Nachbarlandes auf, die jahrzehntelang von Gleichgültigkeit und Unwissenheit geprägt gewesen sei sowie von jeweils hermetisch abgeschotteten nationalen Profifußball-Diskursräumen. Ein Wandel habe erst in den späten 1990er-Jahren eingesetzt, als die Koinzidenz von Leistungsschwäche des deutschen und ungeahnter Leistungsstärke des französischen Nationalteams dazu führte, dass nach dem Gewinn der Weltmeisterschaft 1998 Frankreich in Deutschland nicht nur als Fußballnation ernst genommen wurde, sondern auch als Inspirationsquelle, um zum Beispiel durch die Übernahme französischer Modelle im Jugendfußballbereich mittelfristig die eigenen Defizite zu überwinden. Inzwischen habe sich freilich die Situation wieder umgekehrt: während die deutsche Nationalmannschaft heute in Frankreich hohes Ansehen genießt, rangiert Frankreichs Team in Deutschland lediglich auf Platz sechs der beliebtesten Mannschaften.

Am Ende des Workshops fasste ULRICH PFEIL (Metz) die Ergebnisse der beiden Tage zusammen und hob das große wissenschaftliche Potenzial der Themen erneut hervor. Er betonte, dass es sich bei der Veranstaltung zu Populärkultur und entsprechenden Mittlern um einen ersten Versuch und um „work-in-progress“ handele, dessen Erkenntnisse aber bei konsequenter empirischer Bearbeitung zahlreicher brachliegender Themenfelder einen künftig nicht zu vernachlässigenden Mehrwert für das Erforschen des deutsch-französischen Verhältnisses darstellen könnten. Anhand einzelner Beispiele rekapitulierte er die ganze Bandbreite an präsentierten Mittlervarianten zwischen den Idealtypen der intentionalen und nicht-intentionalen Mittlerfiguren. Er plädierte für eine breitere Berücksichtigung konkreter Rezeptionsmechanismen in der Analyse von populärkulturellen Genres und Praktiken, um Asymmetrien im deutsch-französischen Dialog noch besser nachvollziehen zu können.

Konferenzübersicht:

Einführung
Dietmar Hüser (Saarbrücken)

Sektion I: Gedrucktes – Magazine, Comics & Karikaturen
Moderation: Christoph Vatter

Sonja Malzner (Rouen), Zum Frankreichbild im Reisemagazin Merian

Nicole Colin (Amsterdam), Triviale Einsichten? – Die deutsch-französische Aussöhnung im Spiegel der Vergangenheitsaufarbeitung im Comic

Sandra Schmidt (Clermont-Ferrand), „Komisches Volk!“ – Der Karikaturist Plantu und sein Blick auf die deutsch-französischen Beziehungen

Ingeborg Rabenstein-Michel (Lyon), Petite sociologie comparée de la frustration dans les B.D. de Claire Brétecher et Chlodwig Poth

Sektion II : Gehörtes - Populäre Lied(ermach)er
Moderation : Dietmar Hüser (Saarbrücken)

Corine Defrance (Paris), Barbara et la réconciliation franco-allemande

Andreas Linsenmann (Mainz), Edith Piaf und das deutsch-französische Rapprochement

Vortrag & Diskussion
Moderation : Cl. Zimmermann

Gerd Heger (Saarländischer Rundfunk), Ein Mittler für Mittler? - Französische Lieder für deutsche Ohren

Sektion III : Gesehenes & Gehörtes – Radio, Kino & Fernsehen
Moderation : H.-J. Lüsebrink

Sara Wlodarczyk (Paris), Rendre la culture aux auditeurs - Le développement des dialogues radiophoniques franco-allemands après 1945

Laurence Guillon (Paris-Ouest Nanterre), Louis de Funès, ambassadeur de la culture populaire française en Allemagne et acteur d’une réconciliation ... à « piti piti pas » ?

Christoph Oliver Mayer (Zwickau), Die deutsch-französische Freundschaft und der Grand Prix de la Chanson de l’Eurovision

Sektion IV : Decodiertes - Neue Medien & Profisport
Moderation : Ulrich Pfeil (Metz)

Dana Martin (Clermont-Ferrand), « Histoires d’expat’ » - Des auteurs et des blogueurs racontent leur quotidien en France et en Allemagne

Albrecht Sonntag (Angers), Zwischen Indifferenz und Inspiration - Der Blick auf den Fußball des Nachbarn

Bilanz des Workshops
Ulrich Pfeil (Metz)


Redaktion
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