HT 2014: Gewinner und Verlierer im Normenwandel? Spätmittelalterliche Praktiken der Güterwegnahme an Land und auf See im Vergleich

HT 2014: Gewinner und Verlierer im Normenwandel? Spätmittelalterliche Praktiken der Güterwegnahme an Land und auf See im Vergleich

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.09.2014 - 26.09.2014
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Von
Florian Dirks, Historisches Seminar, Universität Erfurt

Mit dem Vergleich spätmittelalterlicher Praktiken der Güterwegnahme an Land und auf See stand ein Thema im Mittelpunkt der Sektion, bei dem per se Gewinner und Verlierer generiert werden. Doch ist die Scheidung zwischen Gewinnern und Verlieren nicht so eindeutig. JAN RÜDIGER (Basel) stellte in seiner einleitenden Moderation daher anhand einer Abbildung der englischen Gratiszeitschrift ‚Time Out‘, auf deren Titelseite die Worte „Take me, I’m yours“ das Nehmen einfordern, die Frage, wer bei diesem Nehmen gewinnen kann und wies damit auf die allgegenwärtige semantische Signalwirkung in der heutigen Wirtschafts- und Werbewelt hin. Doch sei in der öffentlichen Wahrnehmung ein cultural brokerage zumeist weniger interessant als das Geschehen an den Börsen der Welt.

In der thematischen Einführung forderte zunächst GREGOR ROHMANN (Frankfurt am Main/Köln) dazu auf, seitens der Forschung die Praktiken der Güterwegnahme an Land nicht mehr als Raub, sowie auf dem Wasser nicht mehr als Piraterie zu bezeichnen. Die Sektion diene einem doppelten Vergleich, sowohl zur Überprüfung der Funktionen, als auch zur Gegenüberstellung der Methoden. Gefragt werden solle nach der Legitimation von Eigentumstransfer, was auf See das Vorhandensein von Rechtsformen impliziere. Verknüpfen lässt sich dies mit Diskursen um Konzepte von Souveränität in einer Zeit des Übergangs, in der Sphären (proto-)staatlichen und privaten Eigentums zunehmend ausdifferenziert wurden. Die Frage nach dem Vorhandensein eines Rechts auf See führt zu einem Vergleich mit den rechtlichen Rahmenbedingungen und Usancen an Land. Wie ließ sich eine Wegnahme von Gütern legitimieren? Im Vordergrund stand allgemein die Suche nach Verhandlungslösungen. Daneben lassen sich sowohl an Land als auch auf See verschiedene Grundformen nachzeichnen, die beiden Räumen gemein waren. Dazu zählten der Einsatz von Fehdehelfern, sowie von Schriftlichkeit, der auf See in Form sogenannter Markebriefe und vorhergehender schriftlicher Warnung Ausdruck fand. Auch eine zunehmende Professionalisierung der Akteure kann als Grundgemeinsamkeit ausgemacht werden, bei der eine wachsende Zahl von Gewaltdienstleistern und Gewaltunternehmern auch zur Quantität der Besoldung sowie einer Ausdifferenzierung des Prisenrechts beitrugen. Die Verfolgung von „Seeräubern“ unterlag politischer Opportunität und war verknüpft mit einer Gewaltökonomie. Im Anschluss skizzierte Rohmann den Ablauf einer Wegnahme auf See und fragte, in welchen Quellen man sich ihr nähern könne. Dazu seien besonders Klagen über Wegnahme geeignet, die aber kaum von Piraten sprächen.

Güterwegnahme spielte sich in Räumen ab, die von Rechtspluralismus geprägt waren. Dabei spielt die Frage nach ähnlichen oder unterschiedlichen Auswirkungen an Land und auf dem Wasser eine erhebliche Rolle. Zu diskutieren ist künftig die Frage, ob man das Meer als Mark auffassen kann, in der gegensätzliche Rechtsräume aufeinandertrafen. Eine Folge dessen sei die starke Betonung von Aushandlungspraktiken. Zur Klärung dieser Frage könne man die sich ausbildenden Territorien und Marken um 1400 kontrastieren; auch ein Vergleich des Mittelmeerraums mit dem Norden des Heiligen Römischen Reichs an Nord- und Ostsee stehe noch aus, wenn auch die Mechanismen der Piraterie für die englischen und französischen Gewässer bereits gut erforscht sind.1 Abstrakt formuliert ließe sich fragen, ob die Güterwegnahme mit der Ausdifferenzierung ihrer Merkmale und rechtlichen Gegebenheiten Ausdruck fortschreitender Staatsbildung oder der um 1400 in Gang befindlichen commercial revolution gewesen ist. Dabei könnte die Selbsthilfe als Störfaktor gewertet worden sein und der Staat sich nur aufgesattelt haben. Insgesamt solle man statt bislang vom Piraten eher vom Kaperfahrer sprechen, statt vom Räuber vom Söldner.

MICHAEL JUCKER (Luzern) markierte in seinem Teil der Einführung die Wegnahme von Gütern als anthropologisches Problem. Gewinner und Verlierer wurden durch den Transfer von Ressourcen festgelegt. Dies war zugleich eine Rechtshandlung, bei der möglicher Schaden kompensiert wurde, ohne dass jedoch um 1400 ein übergreifendes Restitutionsrecht vorhanden gewesen sei. Wichtiger war in der Vormoderne eine Kontrolle von Gewaltpotenzialen, um eine möglichst ideale Beuteverteilung in mehrschichtigen Märkten zu erreichen. Beutegüter wurden dabei sowohl kulturell als auch symbolisch aufgeladen; Objekte konnten multifunktional sein. Verknüpft man dies mit der Kapitalsortentheorie Bourdieus, ließe sich fragen, ob die Güterwegnahme auf See weniger durch Symbolisches geprägt war als an Land. Bislang schienen auf See eher Rechtsfragen im Vordergrund der Forschung zu stehen, an Land die Symbolik. Es gilt jedenfalls den Wandel der Mechanismen zu thematisieren. Darunter fallen Formen der (De-)Legitimation der Praktiken von Güterwegnahme ebenso wie die Frage danach, ob die „Geschäftsbedingungen“ der Akteure gleich blieben oder sich änderten. Waren sie auf See normativ, praktisch oder sozial anderen Usancen und/oder Normen unterworfen als an Land? Auch die Frage nach möglichen Wechselwirkungen zwischen Ansprüchen an eine Wegnahme und ihrer Praxis müsse, wie auch die Folgenden, als zentral erachtet werden: Wie gestaltete sich das Zusammenleben in vormodernen, rechtspluralistischen Gemeinschaften mit spezifischen Formen der Gewaltmoderation? Welchem Wandel unterlag die Rezeption der herrschenden Normen und wie war ihre Resonanz? Gab es ein Wechselspiel mit öffentlicher Ordnung?

BASTIAN WALTER (Wuppertal) widmete sich in seinem Vortrag der Frage, was mit erbeuteten Gegenständen aus königlichem Besitz geschah. Am Beispiel der Gefangennahme der französischen Könige Johann II. des Guten in der Schlacht von Poitiers 1356 und Franz I. in Pavia 1525 konstatierte Walter, dass die Gefangennahme eines Königs in der Gesellschaftsordnung des Mittelalters nicht vorgesehen war. Daher führten diese Akte zu breiter zeitgenössischer Wahrnehmung in vielfältigen Facetten. Erwartet wurde demgegenüber die Mitwirkung des Königs im Schlachtgeschehen mit entsprechendem Gefahrenpotenzial, wobei der Akt der Gefangennahme in der chronikalischen Schilderung einer Prägung durch ritterliche Ehrvorstellungen unterlag. Dass die bei Gefangennahme handelnden Akteure, die in diesem Moment zu den Gewinnern gehörten, auch zu Verlierern werden konnten, wurde anhand der Beteiligten der zwei Beispielfälle deutlich.

Wie sich Obrigkeit(en) und Söldner sowie deren Feldhauptleute bei der Einnahme Schwäbisch Gmünds 1519 und den dort angestellten Verhandlungen um Beutenahme verhielten, untersuchte STEFAN XENAKIS (Gießen), der einen Teilaspekt seines Projekts in der Forschergruppe Gewaltgemeinschaften zu Landsknechten im Dienst des Schwäbischen Bundes vorstellte. Innerhalb der eingenommenen Stadt sei es zu zähen Verhandlungen gekommen. Wie ausdifferenziert die Feldhauptleute des Schwäbischen Bundes bei ihren Verhandlungen vorgingen, zeigen sowohl das Erheben von Ansprüchen auf Schulden, als auch auf Anteile der durch Lehensbeziehungen aufgekommenen Abgaben innerhalb der Stadt. Die Lage in der Stadt sei von einem Wechsel zwischen friedlichen Verhandlungen und Gewalttaten geprägt gewesen, wobei sich die Frage nach dem Verhältnis von Verhandlung und Gewalt nicht pauschal beantworten lässt. Wichtiger als ein solches Verhältnis sei eine aufzustellende Definition von Bedingungen der Beutenahme.

PHILIPP HÖHN (Saarbrücken/Frankfurt am Main) stellte eine der wesentlichen Strategien zum Durchsetzen von Rechtsansprüchen hansischer Kaufleute an Land und auf See vor. Dabei sahen die Hansen ein Gerichtsurteil nicht als letztes Wort an, sondern als ein Druckmittel für weitere (außergerichtliche) Verhandlungen, in denen die Personen selbst Schnittmengen von Funktionen (Gewaltunternehmer, Kaufleute, politische Amtsträger etc.) bildeten. Höhn fragte außerdem danach, wie die Kaufleute unter anderem in den Häfen ihre zuvor weggenommenen Waren identifizieren und wiederfinden konnten. Ihre Praxis in Konflikten konnte dabei zur Bildung neuer Normen führen. Gewinner waren dabei diejenigen, die ihr Recht durchsetzen konnten und dazu die sozialen Netzwerke und deren Endpunkte einsetzten. Im Vergleich der Praktiken an Land mit denen auf See ließen sich eher graduale Unterschiede feststellen, wie auch die Güterwegnahme innerhalb der Hansestädte eher spät nachzuweisen ist.

NICOLAI CLARUS (Hamburg) stellte grundlegende Aspekte seiner Dissertation zum im 15. Jahrhundert wohl bekanntesten Auslieger-Hauptmann Bartholomäus Voet vor. Voet und seine Gesellschaft standen als Kriegsprofessionelle im Dienst Lübecks und agierten im Krieg gegen die nordischen Reiche König Erichs von Pommern. Dabei bedienten sie sich der gleichen Praktiken wie die Kaperfahrer, denn nichts anderes seien sie vor ihrer Anwerbung in England gewesen. Bartholomäus Voet dient Clarus als Beispiel, wie nicht-mythisierte Personen in Vergessenheit geraten können und nicht (oder noch nicht?) im heutigen Tourismus instrumentalisiert werden. Doch ist dies auch gar nicht unbedingt nötig, denn Bartholomäus Voet und seine Gesellschaft waren als Auslieger keine gefeierten Seehelden. Dahingehend unterscheiden sich auch die Begrifflichkeiten im zeitgenössischen Verwaltungsschriftgut des 15. Jahrhunderts und die Zuschreibungen und Nennungen in den später entstandenen Chroniken, deren Wertungen oftmals durch die Auftraggeber geprägt waren.

Im abschließenden Kommentar arbeitete CHRISTINE REINLE (Gießen) noch einmal die zwei Hauptstoßrichtungen der Sektion heraus. Zum einen beschäftigten sich alle Vorträge mit Legitimationsstrategien der Güterwegnahme und suchten die Ergebnisse zum anderen zu vergleichen. Doch warf Reinle auch Fragen auf, die in der Sektion eher am Rand anklangen. Eine dieser Fragen, die durch die Vorträge allerdings sogleich relativiert wurde, ist, ob das Meer als offener, herrschaftsfreier Raum gelten könne. Zudem sei nach wie vor fraglich, was den Vergleich zwischen Land und See ausmachen kann. Sind es die angewandten Techniken oder der Name des Raumes? Oder sind es eher die Akteure, die in einer Sphäre handelten, die ihrerseits geprägt war durch ein Fehlen von Souveränität zur Durchsetzung von Recht?

Hier ist einzuwenden, dass auch im spätmittelalterlichen Reich Rechtspluralismus vorherrschend war und die Zeitgenossen dies als legitim ansahen. Die Sektion hat vor allem zeigen können, dass die Grundzüge der Fehde auch in Räumen zu beobachten sind, die die Forschung bisher nicht oder allenfalls am Rande unter diesen Gesichtspunkten herangezogen hat. Auch im europäischen Rahmen lassen sich Grundzüge der Fehde feststellen, beispielsweise im spätmittelalterlichen Frankreich, wo eine ganz ähnliche Schädigungspraxis vorhanden war. Schädigungen in Konflikten stellten eine weit verbreitete Technik dar, die vor allem darauf abzielte, das symbolische Kapital des Gegners zu schädigen. Raub und Nahme verwischen im Reich die Grenzen von Krieg und Fehde. Hier sei ein Vergleich mit England angebracht, wo Raub und Wegnahme eher im Krieg festzustellen gewesen seien. Betrachtet man die Akteure und ihre spezifischen Handlungsformen, ist vor allem die Weiterverwendung bzw. Weitergabe der Güter eine Grundkonstante. In ihr lässt sich auch die von Peter Moraw geprägte Mitunternehmerschaft aufzeigen.2 Demgegenüber stehen die Kriegs- bzw. Gewaltunternehmer mit ihren Söldnern, die sich dezidiert gegen die politischen Leitlinien der Zeit gewandt hätten; ihnen näherzukommen, funktioniere eher über die Mechanismen der Beute-Logik. Die Nähe zwischen Raub und Handel erinnert dabei stark an die Wikingerzeit und führte zuweilen zu einem Verbot von Quasi-Hehlerwaren im Binnenland. Die Verbote zeigen, dass die Kaufleute selbst aktiv an Raub beteiligt waren. Sie mutierten gewissermaßen zu Seeräubern auf Zeit. Wie bei der Fehde schon lange bekannt ist, ist auch bei der Güterwegnahme der Einsatz strategischer Gewalt nicht einem sozialen Substrat zuzuordnen. Eine weitere Frage betraf den Aspekt der Vorfinanzierung. In welchem Umfang trat der Auftraggeber für Schädigungen ein? Das Teilen der Beute nach dem Einsatz von Gewalt hatte oft die Funktion eines Katalysators. Der Wunsch nach Kontrolle stieß schnell an seine Grenzen. Waren also Art und Umfang von Schädigungen akteursabhängig? Wenn die Sektion auch Sühnen behandelte, so fragte Reinle, inwieweit Sühnen als Konsens betrachtet werden können. Wie viel Konsens ließ sich erzwingen, wenn die Ausübung von Gewalt das eigene soziale Kapital erhöhte? In diesem Zusammenhang bedurfte es einer rechtlichen Absicherung, die in den behandelten Themen, besonders Städte betreffend, in den Aspekten Sicherheit und Geleit Ausdruck fand. Abschließend fragte Reinle nach Gewinnern und Verlierern – diese Rolle unterlag der Situation und war vielleicht auch von Standesgrenzen bedingt.

Insgesamt konnte die Sektion wertvolle Aspekte zur Güterwegnahme an Land und auf See aufzeigen und die nach wie vor laufende Diskussion der Forschung um die Ausgestaltung von als Fehde geführten Konflikten des Spätmittelalters bereichern. Erweitern ließe sich der angestellte Vergleich zusätzlich um Aspekte der Sklaverei im nordeuropäischen Raum.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung und Einführung: Michael Jucker (Luzern) / Gregor Rohmann (Frankfurt am Main/Köln)

Jan Rüdiger (Basel), Moderation

Bastian Walter (Wuppertal), Von Handschuhen, Schwertern und den „wahren Waffen“ des französischen Königs. Die Erbeutung von Gegenständen aus königlichem Besitz in mittelalterlichen Schlachten

Stefan Xenakis (Gießen), „… zu zaichnen bey iren aiden, waß si in den heyser haben“. Verhandlungen um Beutenahme in Schwäbisch Gmünd 1519

Philipp Höhn (Saarbrücken/Frankfurt am Main), Konsens durch Konfrontation? Güterwegnahmen als Strategie kaufmännischer Konfliktaustragung im Hanseraum auf See und an Land (ca. 1350 – 1450)

Nicolai Clarus (Hamburg), Von „Vitalienbrüdern“ und „Ausliegern“. Der Fall Bartholomäus Voet und Gesellschaft

Christine Reinle (Gießen), Kommentar

Anmerkung:
1 Thomas K. Heebøll-Holm, Ports, Piracy and Maritime War. Piracy in the English Channel and the Atlantic, c. 1280-c. 1330, Leiden 2013.
2 Peter Moraw, Die Entfaltung der deutschen Territorien im 14. und 15. Jahrhundert, in: Gabriel Silagi (Hrsg.), Landesherrliche Kanzleien im Spätmittelalter. Referate zum VI. Internationalen Kongreß für Diplomatik, 2 Teilbände, hier Teilband 1, München 1984, S. 61–108, hier S. 82–83.


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