Vom Kompetenzmodell zum besseren Geschichtsunterricht. Schlusstagung der internationalen Kooperation "FUER Geschichtsbewusstsein"

Vom Kompetenzmodell zum besseren Geschichtsunterricht. Schlusstagung der internationalen Kooperation "FUER Geschichtsbewusstsein"

Organisatoren
Prof. Dr. Béatrice Ziegler; Daniela Prina; Forschungsschwerpunkt Individuum und Gesellschaft (Institut Forschung und Entwicklung, Pädagogische Hochschule FHNW)
Ort
Aarau
Land
Switzerland
Vom - Bis
22.09.2006 - 23.09.2006
Url der Konferenzwebsite
Von
Béatrice Ziegler, Pädagogische Hochschule der FHNW

Die geschichtsdidaktische Tagung wurde vom Forschungsschwerpunkt Individuum und Gesellschaft des Instituts Forschung und Entwicklung der PH FHNW organisiert. Dieser zeigte denn auch geschichtsdidaktische Forschungs- und Entwicklungsarbeiten, die am Schwerpunkt vorangetrieben werden. Gleichzeitig ermöglichte die Tagung der Kooperation "Forschungsprojekt zur Förderung und Entwicklung von reflektiertem Geschichtsbewusstsein "FUER Geschichtsbewusstsein"" (vgl. http://www.fuer-geschichtsbewusstsein.de ), den Abschluss einer dreijährigen Förderperiode mit der Präsentation ihres Kompetenzmodells und darauf aufbauender Umsetzungsbemühungen in der Schweiz zu verbinden. Die Kooperation, an der der Aarauer Schwerpunkt beteiligt ist, suchte damit die Diskussion in der Schweiz zu fachdidaktischen Kompetenzmodellen und darauf aufbauenden Standards für das Fach Geschichte in Gang zu bringen.

In seiner Eröffnungsrede stellte der Leiter des Forschungsinstituts, der Erziehungswissenschaftler Professor Lucien Criblez, die Funktion und die institutionelle Einordnung von Forschung an der Pädagogischen Hochschule der FHNW vor, die durch gesetzliche Bestimmung integrierender Bestandteil der Hochschule und berufsfeld- bzw. anwendungsorientiert zu sein hat (vgl. dazu auch http://www.fhnw.ch/ph/ife ). Ihm folgte der Leiter der Sek.I-Ausbildung, der Geschichtsdidaktiker Professor Peter Gautschi, indem er die Konzeption der Lehrer- und Lehrerinnenausbildung an der PH FHNW vorstellte. Mit der Professionalisierung der LehrerInnenausbildung in der Schweiz durch Tertiarisierung an Pädagogischen Hochschulen haben sich Ausbildungsprofile im Sinne einer Konzentration des Erwerbs der Lehrbefähigung in einigen Schulfächer- und Fächergruppen sowie für bestimmte Stufen stark verändert. Die Angebote der einzelnen PHs gehorchen neben theoretischen Überlegungen einerseits gesamtschweizerischen gesetzlichen Rahmenbedingungen, andererseits den Vorstellungen und Bedürfnissen der Referenzkantone.

Waltraud Schreiber, Professorin für Didaktik und Theorie der Geschichte an der Universität Eichstätt und Leiterin der Forschungskooperation "FUER Geschichtsbewusstsein", und Bodo von Borries, Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg (mit bes. Berücksichtigung der Didaktik der Geschichte) stellten dann das Kompetenzstrukturmodell der Forschungsgruppe vor. 1 Dieses Modell orientiert sich an der didaktischen Grundkategorie „Geschichtsbewusstsein“ (Überlegungen dazu von Baumgartner/Jeismann/Rüsen/Pandel) und entwickelt die disziplinäre Matrix nach Rüsen weiter. Das Modell betont neben der Re-Konstruktion (als einer methodischen Kernkompetenz zur Konstruktion von Geschichte) die De-Konstruktion, eine zweite (Methodenkern-)Kompetenz, die den Umgang damit, dass Texte als konstruierte Geschichten zu analysieren sind, theoretisch entwickelt. Als zentrale Kompetenzbereiche werden Historische Fragekompetenz, Hist. Methodenkompetenz, Hist. Orientierungskompetenz und Hist. Sachkompetenz formuliert, für deren Graduierung erste grundsätzliche Überlegungen vorgenommen wurden. Sie machen deutlich, dass die weiteren theoretischen Arbeiten der Entwicklungslogik und der Systematisierung von Fördermaßnahmen gelten werden, abgesehen davon, dass die theoretischen Entwicklungen durch empirische Forschung überprüft werden muss.

Umrahmt von Postern, Gegenständen und Büchern zu Entwicklungen auf der Basis von FUER sowie weiterer Literatur zum Unterricht in Geschichte sowie aus der PH FHNW fand anschließend eine Vernissage statt: Im Rahmen der Anwendungen des Kompetenzmodells von FUER beschäftigte sich der Aarauer „Lehrer-Arbeitskreis“ im Rahmen eines Kurses des Instituts Weiterbildung und Beratung der PH FHNW mit Simulationsspielen im Geschichtsunterricht. Grundlage dafür ist ihre didaktische Konzeptionierung von Dr. Beat Witschi 2. Erarbeitet wurde in der Reihe „Themenhefte“ von FUER eine Serie von konkreten Beispielen für den Geschichtsunterricht für Sek I.(7.-9. Schuljahr) und Sek.II. (10.-12. Schuljahr), die auf die mit ihnen erfolgende Förderung von Kompetenzen in Bezug gesetzt wurden.3

Im Rahmen des gleichen Anlasses präsentierte Carola Gruner, eine wissenschaftliche Mitarbeiterin des Lehrstuhls Schreiber in Eichstaett, SchülerInnen und ihre Ergebnisse aus einem Folgeprojekt von "FUER Geschichtsbewusstsein". Schulklassen in verschiedenen Ländern - so auch eine schweizerische, angeleitet von Dr. Robert Labhardt – hatten sich mit der vergleichenden Analyse der Darstellung der Wende 89/90 in Schulbüchern befasst. Die Begleitung des Projekts durch die Universität Eichstaett ermöglichte Reflexionen zur De-Konstruktionskompetenz von Schülerinnen und Schülern.

Am zweiten Tag fanden jeweils zwei parallele Sessionen statt. Der eine Strang verfolgte die Umsetzung von Kompetenzmodellen in die Praxis. So organisierten Dr. Sylvia Mebus, Gymnasiallehrerin und Privatdozentin für Didaktik der Geschichte (TU Dresden), und Professor Dr. Reinhard Krammer, Fachdidaktik Geschichte an der Universität Salzburg, einen Workshop für Dozierende und Lehrkräfte zum Umgang mit Bildmedien am Beispiel der politischen Karikatur im Zusammenhang mit der Wende 89/90 und diskutierten denselben mit den beiden historischen Grundoperationen Re- und De-Konstruktion.4

Die Arbeit in Workshops wurde fortgesetzt mit drei weiteren Themen, die "FUER Geschichtsbewusstsein" in vielfältiger Praxis demonstrierten. Als erstes erläuterte Dr. Franz Melichar und Mag. Claudia Rauchegger-Fischer, Dozenten der Universität Innsbruck und des Pädagogischen Instituts des Landes Tirol, ihre Arbeiten zu Geschichtsunterricht mit regionaler Verankerung. Thematisiert wurde hier besonders deutlich der Zusammenhang zwischen Kompetenzaufbau und unmittelbarere Betroffenheit durch die regionale Einbettung allgemeingeschichtlicher Thematiken.5

Es folgte Carola Gruner, Universität Eichstaett, zum bilingualen Geschichtsunterricht, der das historische Denken in einer fremden Sprache zum Ziel hat. Dabei wurden Fragen diskutiert wie diejenige, ob unterschiedliche inhaltliche Akzentuierungen in verschiedenen Sprachgemeinschaften zu besonderer Förderung der Frage- und Orientierungskompetenz führen.

Theresia Szauter-Mayer und Gabriella Scherer, Gymnasiallehrerinnen in Baja (Ungarn) stellten den Geschichtswettbewerb zur Zeitzeugenbefragung durch Schulklassen vor. Das von Professor Katalin Arkossy, Universität Budapest, begleitete Projekt leitete deutschsprachige Schulen an, Themen der fünfziger Jahre durch Interviews zu bearbeiten und schliesslich die Erzählungen kritisch zu befragen (De-Konstruktion). Das Projekt hat insbesondere die Oral History in den betreffenden Schulen als Methode eingeführt und auf die Kompetenzenförderung bezogen.

Im Rahmen der parallel zur Umsetzung geführten Forschungspräsentationen wurden drei unterschiedliche Projekte zu Schulbüchern vorgestellt.
Professor Waltraud Schreiber und Dr. Alexander Schöner, Mitarbeiter an Schreibers Lehrstuhl, zeigten die Anlage ihres am Ende des Jahres auslaufenden Schulbuch-Analyseprojekts, das mit computergestützten qualitativen Inhaltsanalysen der Theorieentwicklung dienen sollte. Dafür erarbeiteten sie ein Kriterienraster aus Theorien und Verfahrensweisen von Historik, historischer Forschung, Geschichtsdidaktik, Pädagogik, Sprachwissenschaften und Kognitionspsychologie.6

Die beiden wissenschaftlichen Mitarbeitenden des Forschungsschwerpunkt I&G der PH FHNW, Jan Hodel (Historiker) und Monika Waldis (Erziehungswissenschafterin), stellten aus dem Kooperationsprojekt „Geschichte und Politik im Unterricht“ (PH FHNW, PH Bern, PH Zürich und Universität Zürich), in dessen Rahmen Unterrichtsstunden videografiert sowie SchülerInnen und Lehrkräfte befragt wurden, Ergebnisse zum Einsatz von Medien in Unterrichtslektionen vor. Sie leisten damit einen Beitrag zur Erkenntnis dazu, wie viele und welche Materialien und insbesondere Lehrmittel im Unterricht auf welche Art tatsächlich eingesetzt werden. Die Ergebnisse werden aufgrund einer speziellen Codierung der transkribierten Videoaufnahmen gewonnen. An der Tagung wurden neben Ergebnissen die Code-Entwicklung und die Codierung vorgestellt.

Als drittes Forschungsprojekt wurde von Professor Béatrice Ziegler, Leiterin des Schwerpunkts Individuum und Gesellschaft an der PH FHNW, ein Projekt vorgestellt, das die Wirkung von Geschichtslehrmitteln an einem Beispiel prüfen soll. Das Projekt geht davon aus, dass die erste Wirkung bei den Lehrkräften erfolgt, die sich auf Unterricht vorbereiten und dafür Lehrmittel einbeziehen. Lehrkräfte für Geschichte auf der Sek.I-Stufe sollen, ausgewählt aufgrund des theoretical sampling, vor und nach ihrer Beschäftigung mit dem Lehrmittel „Hinschauen und nachfragen – Die Schweiz und die Zeit des Nationalsozialismus im Licht aktueller Fragen“ mittels offener, themenbezogener Interviews befragt werden. Das Lehrmittel „Hinschauen und nachfragen“ wurde gewählt, weil es, wie Professor Gautschi als Co-Autor und Verantwortlicher für das didaktische Konzept zeigte, in didaktischer (Methodenkompetenz) und geschichtswissenschaftlicher Hinsicht (Sachkompetenz) Neues in den Unterricht einbringt und in seinem politikdidaktischem Anspruch im Hinblick auf die Urteilskompetenz Neues abverlangt.7

Am Nachmittag dann präsentierten Professor Bodo von Borries (s.o.) und Andreas Körber, Professor für Erziehungswissenschaft, Didaktik der Geschichte und Politik in Hamburg, bildungspolitische Zusammenhänge der Kompetenzmodellentwicklung unter dem Eindruck der Einführung von Bildungsstandards, indem sie deutlich machten, dass Bildungsstandards nur als fachdidaktische Standards denkbar sind und als solche aus Kompetenzmodellen entwickelt werden müssen. Dabei ist es theoretisch unverzichtbar, vorerst ein Kompetenzstrukturmodell zu entwickeln, wie es an der konkreten Arbeit mit dem Kompetenzmodell von "FUER Geschichtsbewusstsein" aufgezeigt werden konnte, um dann aufgrund und mit Hilfe empirischer Forschung ein Entwicklungs- und Fördermodell zu formulieren, auf dem erst Standards formuliert werden sollten.8 Damit formulierten sie auch eine klare Stoßrichtung für weitere Diskussionen in der Schweiz um die Rahmenbedingungen und Voraussetzungen der Entwicklung von Bildungsstandards für den Geschichtsunterricht.

Anmerkungen:
1 Schreiber, Waltraud u.a., Historisches Denken. Ein Kompetenz-Strukturmodell. (Kompetenzen: Grundlagen – Entwicklung – Förderung 1), Neuried 2006.
2 Witschi, Beat, Spielwelt Geschichte, Bern 2006.
3 Witschi, Beat (Hg.), Geschichte spielen (Themenheft Geschichte 3 ), Neuried 2006.
4 Vgl. Anm. 3 sowie Krammer, Reinhard; Ammerer, Heinrich (Hgg.), Mit Bildern arbeiten. Historische Kompetenzen erwerben (Themenheft Geschichte 2), Neuried 2006.
5 Melichar, Franz Georg; Mascher, Daniel, Tirol im 20. Jahrhundert: Materialien und Anregungen für den Geschichtsunterricht, Wien 2004; Melichar, Franz Georg (Hg.), Quer denken Plus. Tirol im 20. Jahrhundert. Materialien und Anregungen für den Geschichtsunterricht, Innsbruck 2005.
6 Schreiber, Waltraud; Schöner, Alexander, Überlegungen zur Förderung des reflektierten und (selbst-)reflexiven Umgangs mit Geschichte durch Schulbücher, in: Mebus, Sylvia; Schreiber, Waltraud (Hgg.), Geschichte denken statt pauken: Didaktisch-methodische Hinweise und Materialien zur Förderung historischer Kompetenzen, Meissen 2005, S. 301-313; vgl. auch Schreiber, Waltraud; Mebus, Sylvia (Hgg.), Durchblicken: Dekonstruktion von Schulbüchern, Neuried (2. Aufl.) 2006.
7 Vgl. <http://www.hinschauenundnachfragen.ch > (01.11.2006).
8 Körber, Andreas; Schreiber, Waltraud (Hgg.), Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell und Beiträge zur Entwicklung von Bildungsstandards, Neuried 2006 (im Druck).


Redaktion
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