Ungleichheit zwischen Natur und Gesellschaft. Zur Debatte um ‚Vererbung oder Umwelt‘ seit 1945

Ungleichheit zwischen Natur und Gesellschaft. Zur Debatte um ‚Vererbung oder Umwelt‘ seit 1945

Organisatoren
Constantin Goschler/ Till Kössler, Ruhr-Universität Bochum
Ort
Bochum
Land
Deutschland
Vom - Bis
27.06.2014 - 28.06.2014
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Von
Maik Tändler, Zeitgeschichtlicher Arbeitskreis Niedersachsen (ZAKN), Georg-August-Universität Göttingen Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte

Im Januar 2005 hielt Lawrence Summers, Wirtschaftswissenschaftler und damaliger Präsident der Universität Harvard, einen umstrittenen Vortrag zur Frage, weshalb Frauen in den Spitzenpositionen der technisch-naturwissenschaftlichen Fächer weiterhin stark unterrepräsentiert sind. Sozialisations- und Diskriminierungseffekte hielt Summers für weniger relevant als genetisch bedingte Geschlechtsunterschiede. Fünf Jahre später entfachte in Deutschland Thilo Sarrazin eine heftige Kontroverse mit der dysgenischen These vom genetisch bedingten Intelligenzverfall aufgrund der überdurchschnittlichen Fertilität muslimischer Einwanderer und sozial schwacher Schichten. Diese prominenten Beispiele machen deutlich, dass die Bochumer geschichtswissenschaftliche Tagung zur Vererbung-Umwelt-Debatte seit 1945 zu Recht den Anspruch erheben konnte, sich eines bis in die Gegenwart virulenten Themas gesellschaftlicher Selbstverständigung anzunehmen.

In ihrer Begrüßung führten die Veranstalter CONSTANTIN GOSCHLER und TILL KÖSSLER (beide Bochum) in das Thema ein und präzisierten die geschichtswissenschaftliche Zielsetzung der Tagung. Mit der Französischen Revolution rückten das Gleichheitsideal und seine Kritik in das Zentrum der Selbstverständigung moderner Gesellschaften, und zum Ende des 19. Jahrhunderts hatten sich wissenschaftlich das biologische und das soziologische Paradigma, nature und nurture, als die beiden Pole der Ungleichheitsdebatte etabliert. In Hinsicht auf das 20. Jahrhundert habe sich die einschlägige Forschung dabei bisher vor allem mit dem Nationalsozialismus als eliminatorischem Kulminationspunkt einer biologistisch-rassistischen Weltanschauung beschäftigt. Mit der angestrebten zeitlichen und thematischen Öffnung des Forschungsfelds sollten daher auch gängige Annahmen über historische Zäsuren problematisiert werden. Dies gelte nicht nur für das Jahr 1945, sondern etwa auch für ein verbreitetes „Pendelmodell“, nachdem bis in die 1960er-Jahre sozial konservative Vererbungs-Vorstellungen dominant waren, die dann von einem liberalisierenden, soziale Reformen begünstigenden Sozialisations-Paradigma abgelöst wurden, bevor es in den 1990ern mit dem Aufstieg der Neurowissenschaften zu einem biologistischen Rollback kam.

Die erste Sektion war humanwissenschaftlichen Theorien menschlicher Determiniertheit gewidmet. PETER BECKER (Wien) fragte nach Übereinstimmungen und Unterschieden zwischen der Kriminalbiologie des späten 19. Jahrhunderts und den neurowissenschaftlichen Erklärungen für Aggressionen und Gewalt, die seit einiger Zeit Einzug in die kriminologische Debatte halten. Eine wichtige Parallele sah Becker im ausgeprägten Hang zur Visualisierung körperlicher Normabweichung als Mittel der Evidenzerzeugung. Wollten Kriminalbiologen wie Cesare Lombroso den „geborenen Verbrecher“ anhand physiognomischer Merkmale sichtbar machen, verlässt sich die Neurowissenschaft auf die MRT-Bildgebung, um physiologische Abweichungen im Gehirn von Gewalttätern nachzuweisen. Gerade die Aufweichung biologistisch-deterministischer Vorstellungen in Form der These von der Neuroplastizität, also der Beeinflussbarkeit von Hirnfunktionen durch äußere Einflüsse, ermögliche dabei die Formulierung weitreichender sozialer Interventionsprogramme der Früherkennung und Therapierung von „Risikopersonen“. In der Diskussion wurde noch auf die Bedeutung von Big Data als Voraussetzung für solche Programme gesamtgesellschaftlichen screenings hingewiesen. CONSTANTIN GOSCHLER (Bochum) befasste sich mit der Geschichte der Zwillingsforschung. Zwillinge übten als scheinbares „Naturexperiment“, das Auskunft über die natürlichen und sozialen Ursachen von Ungleichheit versprach, und als populär leicht zu vermittelndes „Beweismittel“ seit dem 19. Jahrhundert eine große wissenschaftliche Faszination aus. Eine Zäsur erkannte Goschler in den späten 1960er-Jahren, in denen es zu einem nachhaltigen Popularisierungsschub von Zwillingsexperimenten kam, der vor allem in Biologiebüchern und Printmedien zu beobachten war. Im Vergleich zu den vorherigen, über die NS-Zeit hinausreichenden Vererbungsdebatten, die stärker an der Erblichkeit von Krankheiten und „asozialem“ Verhalten – kurz: der pathologischen Abweichung – interessiert waren, rückten nun die Themen Bildung und Intelligenz in den Mittelpunkt, und Zwillinge wurden als Repräsentanten des Durchschnittlichen und „Normalen“ präsentiert. Dabei wurde nun auch die Frage nach den biologischen Determinanten von Ungleichheit, die in Deutschland nach 1945 zunächst diskreditiert war, wieder offen gestellt.

CHRISTIAN GEULEN (Koblenz) wies auf die aktuellen Versuche einer Überwindung der Nature-Nurture-Dichotomie hin, die sich in einer wechselseitigen interdisziplinären Öffnung zwischen Natur- und Kulturwissenschaften und Schlagworten wie „Neuroplastizität“ oder „Epigenetik“ widerspiegelt. Er argumentierte, dass sich solche Annäherungen zyklisch immer wieder im 20. Jahrhundert beobachten lassen und mit wissenschaftlichen Krisensituationen in Verbindung stehen, in denen deterministisch-biologistische Erklärungsmodelle in eine Sackgasse gerieten. Die stets mitlaufende Kritik am Determinismus zeige zudem, wie schwer er mit dem fundamentalen Selbstverständnis menschlicher Freiheit und Verantwortung in Übereinstimmung zu bringen sei. Allerdings hatte CHRISTINA BRANDT (Bochum) in ihrem Kommentar zur vorangegangenen Sektion bereits angemerkt, dass sowohl nature als auch nurture determinierende Faktoren darstellten, die Erbe-Umwelt-Debatte insofern nicht deckungsgleich mit der Frage nach Freiheit und Determinismus sei.

CHRISTIAN GRABAU (Bochum) fragte nach der Rolle von neurowissenschaftlichen Begriffen im pädagogischen Diskurs. Wie auch der Gen-Diskurs beruhe die Rede vom Gehirn im pädagogischen Zusammenhang nicht auf dem spärlichen wissenschaftlichen Erkenntnisstand, entscheidend sei vielmehr ihre handlungsinitiierende gouvernementale Funktion. Im Zusammenhang mit der Annahme neuronaler Plastizität rücke die „Selbstregulierungskompetenz“ und damit die flexible, eigenverantwortliche Anpassung an die Schwankungen des Marktes in den Mittelpunkt pädagogischer Konzepte, die sich auf diese Weise dem neoliberalen Paradigma anverwandeln. Auf den ersten Blick schienen Grabaus Überlegungen weit entfernt vom Vortrag von MEIKE BAADER (Hildesheim), der von den Erziehungskonzepten in der sich nach 1968 entfaltenden antiautoritären Kinderladenbewegung handelte. Waren die ideologischen Ansätze der verschiedenen Kinderläden recht heterogen und breit gefächert, so lasse sich doch die „Selbststeuerung“ als ein zentrales Erziehungsziel identifizieren, ein Begriff, der über die freudomarxistischen Schriften Wilhelm Reichs aus den 1930er-Jahren in die antiautoritäre Pädagogik eingeflossen war. Die frappierende Ähnlichkeit zwischen antiautoritärem Selbststeuerungs- und neurowissenschaftlich-neoliberalem Selbstregulierungsideal wirft die interessante Frage nach dem historischen Zusammenhang zwischen den politisch-kulturellen Umbrüchen von „1968“ und dem Aufstieg neoliberaler Gouvernementalitätsformen auf, die in der Diskussion jedoch nicht weiter verfolgt wurde.

NINA VERHEYEN (Köln) rekonstruierte die zu Beginn des 20. Jahrhunderts besonders von Medizinern vertretene Ansicht, dass die zum Erreichen höherer Bildungsabschlüsse erforderlichen geistigen Anstrengungen zur „Entartung“ der Frau und zu fatalen gesundheitlichen Schäden bis hin zur Unfruchtbarkeit führten, und argumentierte im Folgenden, dass diese geschlechtsspezifische Verengung ein relativ neuartiges Phänomen darstellte. Zuvor habe im Bürgertum ein Diskurs dominiert, der ausgeprägten Bildungs- und Arbeitsehrgeiz auch bei Männern für moralisch fragwürdig und geistige Überanstrengung für gesundheitsschädlich hielt. Erst nach 1900 konnte sich das bürgerlich-männliche Leistungsstreben als positiv besetzte Norm durchsetzen. Auch in der von HANNAH AHLHEIM (Göttingen) skizzierten Geschichte der modernen Schlafforschung, die ebenfalls bis ins späte 19. Jahrhundert zurückreicht, spielte Leistungsfähigkeit eine wichtige Rolle. Aufgrund von Entwicklungen wie der Flexibilisierung von Arbeitszeiten oder der fortschreitenden globalen Vernetzung gewann die Frage, wie der Schlaf zwischen Naturnotwendigkeit und Flexibilisierungs- und Individualisierungsanforderungen am besten zu organisieren sei, seit den 1960er-Jahren zunehmend an Bedeutung. Ging es bei den unter anderem von NASA und US Air Force finanzierten Schlafexperimenten, die seit 1963 im „Periodikbunker“ des Max-Planck-Instituts für Verhaltensphysiologie durchgeführt wurden, auch um die Frage, wie der Arbeits- und Kriegsdienst optimal mit dem biologischen Schlafbedürfnis abgestimmt werden konnte, wurde der Verweis auf den „natürlichen“ Schlaf in der Debatte um die gesundheitlichen Folgen der Nacht- und Schichtarbeit seit den 1970er-Jahren zu einem Argument für die „Humanisierung des Arbeitslebens“.

Um höchste körperliche Leistung ging es im Vortrag von JAKOB TANNER (Zürich), der sich mit der pharmakologischen Leistungsoptimierung im Spitzensport – seit den 1960er-Jahren allgemein als „Doping“ bekannt – und ihrer gesellschaftlichen Wahrnehmung auseinandersetzte. Bis zum Ersten Weltkrieg galt die Auslotung körperlicher Grenzen in Form der sportlichen Rekordjagd etwa auf der Radrennbahn als faszinierendes Spektakel von „Freaks“, Doping war dabei individuelle ‚Privatsache‘ der Sportler. Erst nach 1918 wurde Spitzensportlern eine soziale Vorbildfunktion zugeschrieben, und Doping wurde als selbstzerstörerische Praxis moralisch geächtet. Mit Beginn des Kalten Kriegs wurde die pharmakologische Leistungssteigerung im Spitzensport, die in den 1930er-Jahren mit der Erfindung synthetischer Hormone große Fortschritte gemacht hatte, zum selbstverständlichen Mittel der nationalen und Systemkonkurrenz, um dann seit 1960, auch aufgrund medial skandalisierter Todesfälle, wiederum massiv kritisiert zu werden. Seitdem habe sich, so Tanner, die Aporie des Dopings verfestigt: Während eine Freigabe des weiterhin als „unfair“ oder „unnatürlich“ geächteten Dopings den Spitzensport als „Ereignis“ zerstören würde, treiben Optimierungszwang und biotechnischer Fortschritt immer neue Dopingformen hervor, denen mit letztlich hilflosen Dopingkontrollen höchstens symbolisch begegnet werden kann. Mit „Dope“ anderer Art befasste sich CHRISTOPH WEHNER (Bochum), der den wissenschaftlichen und öffentlichen Suchtdiskurs um 1968 in den Blick nahm. Mit dem Einsetzen der „Haschwelle“ Ende der 1960er-Jahre wuchs auch die öffentliche Aufmerksamkeit für den (jugendlichen) Drogenkonsum, die nun verstärkt durch medizinische und psychologische Expertise geprägt wurde. Wenngleich in der Erklärungskonkurrenz zwischen biologischem und soziologischem Paradigma – die sich eher in unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen als in einander ausschließenden monokausalen Modellen äußerte – im Übergang von den 1970er- zu den 1980er-Jahren letzteres die Oberhand gewann, fassten beide auf unterschiedliche Weise Drogenkonsum als pathologische Form der Devianz auf, die der wissenschaftlich-politischen Intervention bedurften.

Mit einem öffentlichen Abendvortrag von JÜRGEN KAUBE, Wissenschaftsjournalist bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wurde der erste Tagungstag beschlossen, wobei der aspektreiche, assoziativ mäandernde Vortrag eine bündige Zusammenfassung vereitelt. Es sei nur so viel gesagt, dass Kaube mit systemtheoretisch grundierter Skepsis sowohl Ungleichheitskritiken als auch gängige Ungleichheitsrechtfertigungen hinterfragte.

TILL KÖSSLER (Bochum) befasste sich mit den bundesdeutschen Bildungsdebatten um „Begabungsreserven“ und „Begabtenauslese“ bis in die Reformphase der 1960er-Jahre und betonte dabei die Kontinuitäten zu den Debatten nach dem Ersten Weltkrieg. Wie nach 1918 stand in den 1960er-Jahren weniger das Ideal der Demokratisierung als vielmehr die Förderung von Begabung als zentraler ökonomischer Ressource im internationalen Konkurrenzkampf bzw. dann auch in der Systemkonkurrenz des Kalten Kriegs im Vordergrund. Darüber hinaus wurde die Anhebung des Bildungsniveaus jetzt als notwendige Anpassung an die Bedingungen einer technisierten Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft betrachtet. Dieser Konsens überbrückte auch die selten kategorischen, eher diffusen Meinungsdifferenzen hinsichtlich des Anteils von Umwelt und Vererbung bezüglich der Intelligenzentwicklung. Von langfristiger Bedeutung war dabei vor allem die Ausweitung bildungspolitischer Ansprüche an Schulen und Familien unter dem Schlagwort der „optimalen Entfaltung“ individueller Anlagen.

IGOR J. POLIANSKI (Ulm) ging dem Wandel der kollektivsymbolischen Bedeutung von Erbgut und Genen in der DDR nach. Bevor ab etwa 1950 die neolamarckistische Lehre Lysenkos [Lyssenko], die gegen den genetischen Determinismus die Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften behauptete, zur offiziellen wissenschaftlichen Doktrin erhoben wurde, gab es in der frühen Nachkriegszeit eine relativ autonome ostdeutsche Debatte darüber, inwiefern die kriegerischen Neigungen, die das deutsche Volk im Nationalsozialismus an den Tag gelegt hatte, auf dessen Erbanlagen zurückzuführen seien. Der „Kampf gegen die Erbanlage“ und die Erschaffung des „neuen deutschen Menschen“ schien dann mit Lysenkos Theorie, die eine gezielte Modifizierung des Erbguts von Außen in Aussicht stellte, eine ideologisch akzeptable wissenschaftliche Grundlage zu bekommen. Nachdem Lysenko in der Sowjetunion in Ungnade gefallen war, konnte dann in den 1960er-Jahren die von Watson und Crick entdeckte Doppelhelix der DNS zum Sinnbild der dialektischen marxistischen Natur- und Geschichtsauffassung stilisiert werden. MICHAEL WALA (Bochum) schließlich diskutierte die eingangs erwähnte Rede von Lawrence Summers und stellte sie in den Zusammenhang der politischen Auseinandersetzung um affirmative action, die seit den 1960er-Jahren eine Reihe von Maßnahmen zur Bekämpfung der Rassen- und Geschlechtsdiskriminierung hervorgebracht hatte. Das rein spekulative biologische Veranlagungsargument habe in diesem Zusammenhang dem politischen Zweck gedient, den Vorwurf der Diskriminierung an Universitäten und damit auch Forderungen nach größeren Anstrengungen in der Gleichstellungspolitik zurückzuweisen.

Zwei Hauptpunkte, die in den Diskussionen auf unterschiedliche Weise immer wieder thematisiert wurden, sollen abschließend als Fazit festgehalten und mit weitergehenden Überlegungen zum Forschungsfeld verknüpft werden. Erstens wurde festgestellt, dass der Rückgriff auf die Nature-Nurture-Dichotomie in öffentlich-politischen Auseinandersetzungen meist in einem nur sehr vagen und simplifizierenden Bezug zu den weit komplexeren wissenschaftlichen Debatten steht. Humanwissenschaftliche Konzepte wie das „Gen“ dienen als mitunter beliebig erscheinende Projektionsflächen für politisch-weltanschauliche „Archetypen“ (Polianski). Dass wissenschaftliches Wissen im Zuge der Popularisierung und Politisierung vereinfacht wird, erscheint erst einmal wenig überraschend. Doch wäre in diesem Zusammenhang genauer danach zu fragen, in welchem Autonomie- und Interaktionsverhältnis die jeweiligen Interessen, Denkmuster und Handlungslogiken von wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Feldern zueinander stehen. Und welche Rolle spielt dabei die Konkurrenz der Verwissenschaftlichungen im 20. Jahrhundert, der Kampf um wissenschaftliche Deutungshoheit, gesellschaftliche Interventionskompetenz und materielle Ressourcen zwischen den involvierten Wissenschaften?

Der zweite Punkt betrifft die historische Periodisierung und die wissenschaftlich-politischen Koalitionen. Es hatte sich gezeigt, dass die Vererbung-Umwelt-Debatte im 20. Jahrhundert eher von periodisch schwankenden Mischungsverhältnissen als von der eindeutigen Ablösung eines hegemonialen Modells durch das andere gekennzeichnet ist. Auch die Verknüpfungen zwischen wissenschaftlichem und politischem Standpunkt sind keineswegs immer eindeutig, Biologismus oder Naturalismus nicht notwendig mit Ungleichheitsapologie, Soziologismus und Kulturalismus nicht eindeutig mit liberalen oder egalitären Gesellschaftsmodellen verbunden. In diesem Zusammenhang wäre freilich insgesamt noch mehr Begriffsklärung zu betreiben. Als überwölbendes Motiv der Vererbung-Umwelt-Debatte könnte sich aber, wie Goschler anmerkte, die Aushandlung gesellschaftlicher Zukunftsentwürfe erweisen, die sich besonders in Umbruch- und Krisenphasen intensivierte. Insofern, so ließe sich dieser Gedanke abschließend fortführen, wäre der utopische Überschuss, den die Human- und Sozialwissenschaften im 20. Jahrhundert (auch) im Modus der Nature-Nurture-Debatte beständig produziert haben und produzieren, als besonders fruchtbares Forschungsthema anzusehen.

Konferenzübersicht:

Begrüßung und Einführung: Constantin Goschler/Till Kössler (Bochum), Die Debatte um 'Vererbung oder Umwelt' als Thema der Geschichtswissenschaft

Sektion I: Determinierung und Kontingenz (Chair: Christina Brandt)
Peter Becker (Wien), Biologische Erklärungen von Gewalt und Aggression: Alter Wein in neuen Schläuchen?
Constantin Goschler (Bochum), Zwillingsforschung in Wissenschaft und Populärkultur

Sektion II: Pädagogisierung (Chair: Till Kössler)
Christian Geulen (Koblenz), Vererbte Umwelt: Erziehung als Determinismus seit 1945
Christian Grabau (Bochum), Imperative der Selbststeuerung. Neurowissenschaftliche und humangenetische Herausforderungen der Pädagogik
Meike Baader (Hildesheim), „Sozialisation“ – ein neuer Begriff in der pädagogischen Debatte um 1970 und seine Rezeption im Umfeld der Kinderladenbewegung

Sektion III: Perfektionierung (Chair: Constantin Goschler)
Nina Verheyen (Köln), Wenn Bildung zur „Entartung“ führt. Die Unfruchtbarkeit promovierter Frauen als medizinischer Topos des frühen 20. Jahrhunderts
Hannah Ahlheim (Göttingen), „Richtig schlafen lernen.“ Debatten um biologische Rhythmen, soziale „Zeitgeber“ und Leistungsfähigkeit nach 1945
Jakob Tanner (Zürich), Zur Physiologie des Sieges. Doping und Chancengleichheit im Spitzensport des 20. Jahrhunderts
Christoph Wehner (Bochum), Die „Drogenwelle“ von 1968 im Blick humanwissenschaftlicher Experten – Suchtdiskurse zwischen Wissenschaft, Medien-öffentlichkeit und Politik

Abendvortrag: Jürgen Kaube (Frankfurt am Main): Arbeitsloses Einkommen, unverdientes Vermögen und das Ideal der Meritokratie

Sektion IV: Politisierung (Chair: Rüdiger Graf)
Till Kössler (Bochum), „Begabungsreserven“ und Begabtenauslese in den bundesdeutschen Bildungsdebatten
Igor J. Polianski (Ulm), „Das Lied vom anders werden“. Lysenko und die politische Semantik der Vererbung in der DDR
Michael Wala (Bochum), ‘all men are created equal‘: Affirmative Action an amerikanischen Hochschulen und die Debatte über „nature“ versus „nurture

Abschlussdiskussion