Wien als Drehscheibe großer jiddischer Kultur. Facetten der Jiddistik

Wien als Drehscheibe großer jiddischer Kultur. Facetten der Jiddistik

Organisatoren
Institut für Judaistik, Universität Wien
Ort
Wien
Land
Austria
Vom - Bis
11.12.2013 - 13.12.2013
Url der Konferenzwebsite
Von
Marianne Windsperger, Institut für Germanistik, Universität Wien

Unter dem Motto „Wien als Drehscheibe großer jiddischer Kultur. Facetten der Jiddistik“ trafen sich von 11.-13. Dezember 2013 am Institut für Judaistik der Universität Wien Forscher/innen aus Deutschland, der Schweiz, Rumänien, Salzburg und Wien. Ein Fokus der Konferenz war es, über Disziplinengrenzen (Slawistik, Germanistik, Judaistik, Geschichte, Theater-, Film- und Medienwissenschaften) hinweg, neue Forschungsfelder der Jiddistik zu präsentieren und vergleichende Perspektiven sowie Schnittstellen und Vernetzungsmöglichkeiten in den Blick zu nehmen. In ihrem einführenden Vortrag betonten die Veranstalter GERHARD LANGER (Universität Wien) und ARMIN EIDHERR (Universität Salzburg) die wichtige Rolle, die Jiddisch für Formen jüdischer Selbstverortung spielte und spielt. Wien galt lange Zeit als Drehscheibe jiddischer Kultur: In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts kamen Dichter aus Galizien und der Bukowina nach Wien, die jiddischsprachige Theaterszene florierte hier und hat bis heute ihre Spuren im Wiener Kabarett hinterlassen.

Hier setzte auch der erste Vortrag an: Die Theaterwissenschaftlerin BRIGITTE DALINGER (Universität Wien) stellte das jiddische Theater in Wien als Teil der Wiener Theaterkultur vor und zeigte Verbindungen und kulturelle Transferprozesse zwischen den jüdischen und nichtjüdischen Theaterensembles in den Jahren 1880 bis 1938 auf. So war das Genre der Revue sowohl auf deutschsprachigen wie auch auf jiddischen Bühnen in Wien anzutreffen, besonders beliebt waren die „Leopoldstädter Lokalpossen“ der Rolandbühne auf der Wiener Praterstraße.

In den beiden folgenden Vorträgen wurden Wien-Bilder in der jiddischen Literatur diskutiert: Während GABRIELE KOHLBAUER-FRITZ (Jüdisches Museum Wien) Darstellungen der Stadt in jiddischen Gedichten präsentierte, widmete sich das Referat von THOMAS SOXBERGER (Wien) Darstellungen Wiens in jiddischen Novellen, Erzählungen, Feuilletons und Memoiren. Wenn es auch keinen "großen Wien-Roman" auf Jiddisch gibt, so finden sich Beschreibungen des Wiener Milieus, der Bewohner der Kaiserstadt sowie öffentlicher Räume in zahlreichen Werken jiddischer Autoren (Abraham Moses Fuchs, Sigmund Löw, Melech Rawitsch). Die Texte der jiddischen Literaten sind geprägt von den Hoffnungen und Enttäuschungen, die sie mit den tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen in Wien zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbinden.

Unter dem Titel „Zwischen stummen Seelen und Frauen des Wortes.“ setzte sich KATARZYNA HIBEL (Universität Wien) mit sprachlichen Identitätskonstruktionen galizisch-jüdischer Autorinnen in literarischen und publizistischen Werken zu Beginn des 20. Jahrhunderts auseinander. Mit Blick auf wenig bekannte jiddisch-schreibende Autorinnen betonte Katarzyna Hibel die unterschiedlichen identitären Bezugsrahmen dieser Autor/innen, die vor allem in deren Mehrsprachigkeit im galizischen Raum Ausdruck fanden.

Der zweite Konferenztag setzte mit den Überlegungen zu Möglichkeiten und Notwendigkeiten der Kooperation zwischen Jiddistik und Slawistik ein: Mit Blick auf die ostjüdische Kulturrenaissance lieferte SABINE KOLLER (Universität Regensburg) einen spannenden Beitrag zu dem von El Lissitzky illustrierten Kinderbuchklassiker „Yingl Tsingl Khvat“ (1919) des Schriftstellers Mani Leib. Sabine Koller zeigte, wie in diesem Buch jüdische Volkskunst und Kubismus kombiniert werden, um die klangvolle Rhythmik des gereimten Gedichts ins Bild zu übersetzen. Mit der Übersetzung von Sprache in Bild, so die Referentin, stellt Lissitzkys Graphik zugleich ein Plädoyer für das säkulare jiddische Buch und die jiddische Literatur dar.

TAMAR LEWINSKY (Universität Basel) unternahm in ihrem Beitrag zunächst den Versuch, das interdisziplinäre Feld der Jiddischen Studien zu verorten, um dann das geplante UTB-Lehrbuchs zur „Jiddischen Sprache, Kultur und Literatur“ zu präsentieren. Der Band soll aus drei verschiedenen Perspektiven in das Fach einführen: aus dem Blickwinkel der Sprachgeschichte, der Geschichte und Kultur sowie der Literaturgeschichte. Tamar Lewinsky betont, dass eine solche Gliederung den Studierenden, die selten in erster Linie Studierende der Jiddistik sind, gestattet, sich den Themen entweder aus der Perspektive ihrer jeweiligen Fachgebiete zu nähern, oder aber den gesamten Text als Einführung zu lesen.

Das an der Universität Wien angesiedelte und vom FWF-Wissenschaftsfond geförderte Doktoratskolleg „Das österreichische Galizien und sein multikulturelles Erbe“ wurde in einem Kurzvortrag von dem Sprecher des Kollegs, ALOIS WOLDAN, (Universität Wien) präsentiert: Er wies darauf hin, dass es im Rahmen dieses Doktoratsprogramms Querverbindungen zur Jiddistik gibt: Einige Dissertant/innen haben Jiddisch-Programme in New York, Vilnius und Straßburg absolviert, regelmäßig treffen sie sich in Wien zu Lektürekursen jiddischer Texte und integrieren in ihre Dissertationen jiddischsprachige Texte und historisches Quellenmaterial aus Galizien. Besonderes Augenmerk lenkte Alois Woldan auf die im Rahmen des Doktoratskollegs entstandene Arbeit Francisca Solomons zu Nathan Samuely, Karl Emil Franzos und Saul Raphael Landau1.

OLAF TERPITZ (Universität Wien) untersuchte in seinem Konferenzbeitrag russisch-jiddisch-deutsche Begegnungen in (post)imperialien Räumen. Diese „Cultural encounters“, so der Literaturwissenschaftler, fanden ihren Ausdruck in Rezeption und Übersetzung. Anhand zweier Beispiele zeichnete Olaf Terpitz diese Formen gegenseitiger literarischer Wahrnehmung nach: Erstens an der textuellen und intellektuellen Wahrnehmung Grigorij Bogrovs, Proponent der russisch-jüdischen Literatur, durch Sholem Aleichem und zweitens an der Rezeption des Übersetzers Alexander Eliasberg, der neben „Klassikern“ und Modernisten der jiddischen Literatur auch „Die Sagen polnischer Juden“ aus dem Jiddischen ins Deutsche übertrug.

Der erste Teil des zweiten Tages endete mit einem Referat zu dem jiddischen Schriftsteller Josef Burg. RAPHAELA KITZMANTEL (Wien) präsentierte Texte des Czernowitzer Autors, in denen er sich intensiv mit der Stadt Wien auseinandersetzt. Er war in den 1930er-Jahren nach Wien gekommen, um an der Universität zu studieren, die sich zuspitzende antisemitische Stimmung und die zugleich vorherrschende allgemeine Gleichgültigkeit der Wiener/innen gegenüber dem tagesaktuellen Geschehen sind Themen seiner Erzählungen aus dieser Zeit.

Der Nachmittag des zweiten Tags war Präsentationen junger WissenschaftlerInnen gewidmet: LILIAN HARLANDER (Universität Salzburg) stellte Fradel Stock als eine heute fast gänzlich vergessene Autorin vor, plädierte für eine Übersetzung ihrer Werke ins Deutsche und wies auf künftige Forschungsperspektiven zu ihrem Prosawerk hin: So bieten die Texte Fradel Stocks eine weibliche Perspektive auf das Schtetl-Leben und liefern interessante Einblicke in das Milieu der Sweat-Shop-Arbeiter in den USA.

Die Präsentation von TANJA KARLSBÖCK und ANNA WISHEU (Universität Salzburg) stellte den Czernowitzer Dichter Itzig Manger als „Prinz der jiddischen Ballade“ vor, sie zeigten die literarischen Querverbindungen zwischen ihm und seinem deutschsprachigen Czernowitzer Dichterfreund Alfred Kittner auf und wiesen auf die Bedeutung von Mangers Schaffen für die jiddische Kultur bis 1939 hin. TINA ORNEZEDER (Universität Salzburg) arbeitete in ihrem Referat Unterschiede und Parallelen in den literarisierten Kindheitserinnerungen der Autorinnen Bella Chagall und Malka Li heraus. Die Werke der beiden Autorinnen zeichnen sich durch die kindliche Perspektive auf jüdische Traditionen Osteuropas, auf Migration und Lebensweise der ImmigrantInnen in den USA in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts aus.

MARKUS WEIGLEIN und MARIE-LUISE KREILINGER (Universität Salzburg) entwarfen in ihrem Referat einen Plan zu einem Wörterbuch des österreichischen Jiddisch. Nach einer kurzen Einführung zur Lexikographie wurden unterschiedliche Konzeptionen jiddischer Wörterbücher präsentiert. Ein neues jiddisches Wörterbuch des historischen galizisch-bukowinischen Raums müsse, so die beiden, der Offenheit der Sprache Rechnung tragen und daher deskriptiv und kontextualisierend arbeiten.

Der Block der Nachwuchspräsentationen und der zweite Konferenztag endeten mit einem Vortrag von MARIANNE WINDSPERGER (Universität Wien). Unter dem Titel „Bilderwelten und Textspuren“ setzte sich die Literaturwissenschaftlerin mit dem jiddischen Intertext in der Gegenwartsliteratur auseinander und zeigte anhand von Beispielen amerikanischer Autor/innen, wie jiddische Texte in englischsprachige Romane integriert werden, um popularisierte Bilder des Schtetls zu hinterfragen.

Die bereits in dem Vortrag von Birgit Dalinger hervor gestellten Begegnungen zwischen jiddischem Theater und Wiener Kabarett wurden in der Abendveranstaltung am zweiten Konferenztag anschaulich fassbar. Unter dem Motto „aus seinem Kopf fortgeflogen. Jiddisch/jüdisch in Wien: ein Abend wie schon lange nicht mehr aber bald wieder“ präsentierte das Ensemble des L.E.O, des letzten erfreulichen Operntheaters, jiddische und jüdische Lieder, Texte und Possen. Die Autorin Claudia Erdheim las aus ihrer galizischen Familiengeschichte „Längst nicht mehr koscher“, Hazel Carr stellte die autobiographischen Schriften ihres Vaters vor und Armin Eidherr und Gerhard Langer lasen aus Texten Abraham Moshe Fuchs‘.

In Anknüpfung an den zweiten Konferenztag, an dem in einzelnen Beiträgen schon Querverbindungen zwischen Malerei und jiddischer Literatur hergestellt wurden, setzte der letzte Konferenztag mit einem Vortrag der Literaturwissenschaftlerin ANNETTE WERBERGER (Europa-Universität Viadrina, Frankfurt an der Oder) zur Dichtung und Poetik Debora Vogels ein. „In der Dichtung erhält das Wort die Rolle der Linie und Farbe.“ schreibt Debora Vogel in dem Nachwort zu dem Gedichtband „togfigurn“ aus dem Jahr 1930. Die Referentin stellte Debora Vogel als Kunstkritikerin vor, die in ihren Gedichten die Grenzen zwischen Literatur und Malerei brüchig werden lässt.

Um literarische Verbindungen zwischen dem Frühwerk „ejnsame“ (1912) Abraham Moshe Fuchs‘ und Uri Zvi Grinbergs „mefissto“ (1921) ging es in dem lebendigen Vortrag des Jiddisten ARMIN EIDHERR (Universität Salzburg). Diese beiden in Lemberg entstandenen Werke zeichnen sich vor allem durch Ähnlichkeiten in der Metaphorik aus und legen nahe, dass Grinberg Elemente aus dem Werk Abraham Moshe Fuchs‘ aufgreift, zitiert und umdeutet. Jedoch schreibt Uri Zvi Grinberg seinen „mefissto“ vor dem Hintergrund der Erschütterungen des Ersten Weltkrieges und fängt die Auswirkungen des Krieges auf das traditionelle jüdische Leben in apokalyptischen Bildern ein.

Die Autorin CLAUDIA ERDHEIM (Wien) stellte in ihrem Referat die Drohobyczer Zeitung vor, die ab 1883 in deutscher Sprache aber in hebräischen Lettern erschien. Neben politischen Themen, Lokalberichten und Beiträgen zu jüdischen Themen fanden sich in der Zeitung Berichte und Informationen zur Erdölproduktion in dieser galizischen Region.

FRANCISCA SOLOMON (Universität Iași) widmete ihren Vortrag den narrativen Strategien in literarischen Darstellungen des transnistrischen Holocaust. Im Zentrum der Präsentation standen die Texte von Alexander Spiegelblatt und Edgar Hilsenrath. Die Deportationen nach Transnistrien stellten für die Mehrheit der bukowinischen Juden einen unüberwindbaren Bruch in ihrer identitären Verortung dar. Für die Mehrheit der Überlebenden sind die Räume der Kindheit und Jugend verbunden mit dem schmerzhaften Übergang in ein von sprachlichen und kulturellen Herausforderungen geprägtes Leben.

Die Tagung hat einen Rahmen geschaffen, um Forscher/innen aus unterschiedlichen Disziplinen in einen Dialog zu bringen und – so betonten die Organisatoren Gerhard Langer und Armin Eidherr in ihrem abschließenden Resümee – habe gezeigt, dass künftige jiddistische Projekte im Rahmen eines interdisziplinären und grenzüberschreitenden Verbund realisiert werden können. Gerade der Blick hin zu historischen, literarischen und sprachsoziologischen Entwicklungen des Jiddischen kann helfen aktuelle Fragestellungen zu Migration und Mobilität, Überschneidungen und Verflechtungen von Sprach- und Literaturgeschichten sowie kulturellen Austauschprozessen historisch und vergleichend zu kontextualisieren.

Konferenzübersicht:

Begrüßung durch Univ.-Prof. Mag. Dr. Susanne Weigelin- Schwiedrzik, Sektionschef A.D. Dr. Raoul Kneucker, Univ. Prof. Dr. Christian-Hubert Ehalt

Gerhard Langer und Armin Eidherr: Einführung

Brigitte Dalinger: Jiddisches Theater als Teil der Wiener Theaterkultur. Ästhetisch-dramaturgische und theaterpraktische Schnittpunkte

Gabriele Kohlbauer-Fritz: Wien im jiddischen Gedicht

Thomas Soxberger: Wien in der jiddischen Prosa

Katarzyna Hibel: Zwischen_ stummen Seelen_ und_ Frauen des Wortes_. Sprachliche Identitäten der_ neuen Frau_: Selbstbilder, Fremdbilder, Identitätsfragen der galizisch-jüdischen Schriftstellerinnen im 20. Jahrhundert

Sabine Koller: Die ostjüdische Kulturrenaissance in Text und Bild: Möglichkeiten der Kooperation zwischen Jiddistik und Slawistik

Tamar Lewinsky: „Einführung in die Jiddistik“. Ein Lehrbuchprojekt

Alois Woldan: Vorstellung des Doktoratskollegs Galizien

Olaf Terpitz: Begegnungen im (post)imperialen Raum. Russisch-jiddisch-deutsche Interaktionen zwischen Rezeption und Übersetzung

Raphaela Kitzmantel: Josef Burg und Wien

Lilian Harlander: Forschungsperspektiven zu erzählerischen Werk von Fradel Stock

Tanja Karlsböck / Anna Wisheu: Itzig Manger. Jiddischer Dichter aus Czernowitz

Tina Ornezeder: Autobiographien jiddischer Schriftstellerinnen aus Galizien

Marie-Luise Kreilinger und Markus Weiglein: Der Plan zu einem Wörterbuch des österreichischen Jiddisch

Marianne Windsperger: Bilderwelten und Textspuren: der jiddische Intertext in der Gegenwartsliteratur

Annette Werberger: Zur Dichtung und Poetik Debora Vogels

Armin Eidherr: Abraham Moshe Fuchs – sein Frühwerk und dessen Einfluss auf Uri Zvi Grinbergs Mefisto

Claudia Erdheim: Die Drohobyczer Zeitung

Francisca Solomon: Die Bukowina und der transnistrische Holocaust in ausgewählten Schriften von Alexander Spiegelblatt und Edgar Hilsenrath – sprachliche, diskursive und narrative Aspekte

Gerhard Langer und Armin Eidherr: Zusammenfassung und Ausblick

Anmerkung:
1 Francisca Solomon, Blicke auf das galizische Judentum: Haskala, Assimilation und Zionismus bei Nathan Samuely, Karl Emil Franzos und Saul Raphael Landau, Wien 2012.


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