Eigentumsregime und Eigentumskonflikte im 20. Jahrhundert: Deutschland und die Tschechoslowakei im internationalen Kontext

Eigentumsregime und Eigentumskonflikte im 20. Jahrhundert: Deutschland und die Tschechoslowakei im internationalen Kontext

Organisatoren
Deutsch-Tschechische und Deutsch-Slowakische Historikerkommission
Ort
Eisenach
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.10.2011 - 30.10.2011
Url der Konferenzwebsite
Von
Pavla Šimková, Collegium Carolinum e.V.

Die Feststellung, dass die Umwandlung von Eigentumsverhältnissen in engem Zusammenhang mit den politischen Konflikten des 20. Jahrhunderts steht, erscheint so banal, dass man meinen könnte, sie verdiene gar keine besondere Erwähnung. Die Geschichtsschreibung hat indessen meist den politischen Entwicklungen mehr Aufmerksamkeit gewidmet als ihren wirtschaftlichen Folgen. Diese Beobachtung nahm die Deutsch-Tschechische und Deutsch-Slowakische Historikerkommission zum Anlass für einen Perspektivwechsel: Thema ihrer Jahrestagung, die vom 28. bis 30. Oktober 2011 in Eisenach stattfand, waren die Eigentumsregime und Eigentumskonflikte des 20. Jahrhunderts in Mitteleuropa. Den Ausgangspunkt der Tagung, so DIETER GOSEWINKEL (Berlin), einer der Organisatoren der Konferenz, bildete die These, dass im Zuge jedes politischen Systemwechsels Eigentum zum Kampfgegenstand werde und Eigentumsfragen immer auch konfliktauslösend und -verstärkend wirkten.

Eigentumsregime und -konflikte wurden in den meisten Beiträgen der Konferenz aus vergleichender Perspektive diskutiert, und zwar auf zwei Ebenen: Einerseits wurden Entwicklungen im 20. Jahrhundert verglichen, andererseits Ländervergleiche vorgenommen, in die nicht nur Deutschland und die Tschechoslowakei, sondern auch andere Staaten Mittel- und Osteuropas – und vereinzelt auch Westeuropas – einbezogen wurden. Das Tagungsprogramm war in drei chronologisch gegliederte Sektionen aufgeteilt, wobei eindeutig das Interesse an Wandel, Umwälzungen und Zäsuren der Eigentumsverhältnisse, von denen die Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht nur in Mitteleuropa stark geprägt ist, im Vordergrund stand. Kontinuitäten und Status quo fanden indessen weniger Berücksichtigung.

Im ersten Teil des ersten Panels wurden Eigentumskonflikte in der 1918 gegründeten Tschechoslowakei behandelt. Für diese Zeit, so Christoph Boyer (Salzburg), der die Sektion moderierte, sei ein Verständnis von Eigentum als nationalen Besitzstand charakteristisch und damit eine Auffassung, die zwischen der des kommunistischen Gemeineigentums und dem klassisch-liberalen Privateigentumskonzept liege. Im ersten Vortrag ging ANTONIE DOLEŽALOVÁ (Prag) den politischen, nationalen und wirtschaftlichen Motiven der Bodenreform nach, die in der Tschechoslowakei zwischen 1919 und 1927 stattfand, und gelangte zu dem Schluss, dass ökonomische Interessen bei diesem Eingriff in die Besitzstruktur wichtiger gewesen seien als nationalpolitische. Dass die Eigentumsverhältnisse in der Ersten Republik aber auch eine unübersehbare nationalpolitische Komponente hatten, belegten EDUARD KUBŮ (Prag) und JIŘÍ ŠOUŠA (Plzeň), die sich in ihrem Vortrag mit dem Prozess der so genannten Nostrifizierung befassten. Sie stellten den Transfer vor allem bedeutender Industrieunternehmen unter die Kontrolle des Staates – und damit die Übertragung der entscheidenden ökonomischen Macht in die Hände der neuen tschechoslowakischen Elite – als Instrument der Machtpolitik des neuen Staates vor.

Daran anschließend beschrieb ROMAN HOLEC (Bratislava) die Auswirkungen staatlicher Maßnahmen wie der bereits erwähnten Nostrifizierung oder der Boden- und Währungsreform auf die Eigentumslage der ungarischen Minderheit in der Slowakei. Er wies darauf hin, dass die überwiegend in der Landwirtschaft beschäftigte ungarische Bevölkerung auf andere Art von diesen Reformen betroffen war als die deutsche Minderheit in den böhmischen Ländern, die überwiegend im industriellen Bereich tätig war.

Im Abendvortrag sprach JAN KUKLÍK (Prag) über Forschungsperspektiven, Fragestellungen und Desiderata auf dem Themenfeld der Eigentumsverhältnisse in den deutsch-tschechischen Beziehungen. Er stellte die Jahre 1939-1945 ins Zentrum und betonte die Notwendigkeit, zum einen die Besonderheiten von Einzelfällen zu berücksichtigen, zum anderen den internationalen Kontext zum Vergleich heranzuziehen.

Den zweiten Teil des ersten Panels, der den Horizont durch Bezug auf andere Staaten Europas erweiterte, eröffnete DIETMAR MÜLLER (Leipzig). Er nahm eine Vergleichsanalyse der Bodenreformen nach 1918 und nach 1945 in Polen, Rumänien und Jugoslawien vor und gelangte zu dem Schluss, dass es bereits in der Zwischenkriegszeit zu einer wesentlichen Verwässerung der Eigentumsrechte im Namen des Nationalstaates gekommen sei – und die liberal-individualistischen Eigentumsrechte nicht erst nach 1945 eingeschränkt wurden, wie es vor allem in der Historiografie nach 1989 meist angenommen wird. Diese These fand unter den Teilnehmern großen Widerhall und ging als „Müllersches Theorem“ in die weiteren Diskussionen ein.

Im folgenden Beitrag von OTA KONRÁD (Prag) wurde auch Österreich in die Debatte eingebracht; dabei ging es um die Frage, welche Rolle die Eigentumsproblematik in den tschechoslowakisch-österreichischen Beziehungen nach 1918 spielte. Konrád untersuchte unterschiedliche Funktionen von Eigentumskonflikten, von symbolischen Bedeutungen bis zu Eigentum als einem Mittel der Erpressung. Eigentumskonflikte könnten als eine Art Spiegel von Beziehungen verstanden werden und zeigten zudem, wie ökonomische Beziehungen zur Durchsetzung politischer Interessen eingesetzt würden. CHRISTIANE KOHSER-SPOHN (Berlin) schloss das Panel mit einem Beitrag ab, der die Vergleichsperspektive auf einen westeuropäischen Fall ausweitete: Sie sprach über die Enteignung und Vertreibung eines Großteils der deutschen Bevölkerung aus dem Elsass nach dem Ersten Weltkrieg, wobei sie hervorhob, dass Vertreibungen und Enteignungen nicht nur in Diktaturen, sondern auch in Demokratien stattfanden.

Wie der Titel des zweiten Panels, „1938-1945: Umwälzung der Eigentumsverhältnisse“ bereits andeutete, war für diese Periode eine grundlegende Veränderung der Eigentumsverhältnisse charakteristisch. Im ersten Vortrag stellte JÖRG OSTERLOH (Frankfurt am Main) die Prozesse von „Arisierung“ und „Germanisierung“ im Sudetenland 1938-1945 als wirtschaftliche Verfolgungsmaßnahmen dar, die die politische Umwandlung begleiteten. Arisierung beschrieb er einerseits als gewichtiges wirtschaftliches Unternehmen des NS-Regimes im „Sudetenland“, andererseits verortete er sie im Spannungsfeld zwischen Reichs- und Regionalinteressen, die im Hinblick auf die Frage, was mit dem arisierten Eigentum geschehen sollte, kaum in Einklang zu bringen gewesen seien.

Mit der Beobachtung, dass sich die wirtschaftlichen Interessen des Reiches und ihre tatsächliche Umsetzung im „Protektorat Böhmen und Mähren“ nicht deckten und tschechische Interessen keineswegs vollständig unterdrückt worden seien, beschäftigte sich JAROMÍR BALCAR (Bremen/München). Wie er anhand seiner Studie zu der Prager Eisen-Industrie-Gesellschaft zeigen konnte, kam es in diesem Fall zu einer bemerkenswerten Kräfteverteilung, bei der sich auf der einen Seite die reichsdeutschen Unternehmen, auf der anderen dagegen tschechische Großunternehmen und die deutschen Protektoratsbehörden befanden, wobei sich die finanziellen Interessen und die Machtinteressen dieser ungleichen Partner zeitweise verknüpften. Laut Balcar handelte es sich bei dieser Konstellation um keinen Einzelfall.

Im folgenden Vortrag berichteten MICHAL SCHVARC und ĽUDOVÍT HALLON (Bratislava) über die Strategien, mit denen deutsche Unternehmen und deutsches Kapital ihren Einfluss auf die Wirtschaft des Slowakischen Staates (1939-1945) erweitern konnten. Der zweite Teil des Panels wandte sich wiederum der Arisierung zu. BENNO NIETZEL (Bochum) beschrieb Verlauf und Ziele des wirtschaftlichen Teils der Arisierungspolitik im Deutschen Reich, d. h. des Transfers jüdischen Vermögens in deutsche Hände beziehungsweise die Vernichtung jüdischen Eigentums. Er bezeichnete Arisierung als Bestandteil der sozialen Dynamik der NS-Herrschaft, die mit Rationalisierung sehr wenig zu tun gehabt habe, da die Liquidierung oft auch prosperierende Betriebe getroffen habe. Gerade die Tatsache, dass es sich überwiegend um eine liquidationsorientierte Politik gehandelt habe, sei bei der Rückerstattung in der Nachkriegszeit hinderlich gewesen. EDUARD NIŽŇANSKÝ (Bratislava) befasste sich in seinem Beitrag über Arisierung in Ungarn und in der Slowakei mit der Frage, auf welche Weise der Weg zur Arisierung in diesen Staaten gesellschaftlich freigemacht und welche propagandistischen Strategien zu diesem Zweck eingesetzt wurden.

Mit dem dritten Panel, in dem es um Vertreibung, Eigentumsentzug und Neuverteilung ging, erfolgte ein Sprung in die Nachkriegszeit. Ľudovít Hallon eröffnete das Panel mit einer chronologischen Darstellung der Verstaatlichungsprozesse in der Tschechoslowakei, die er mit der Nachkriegsentwicklung in einigen anderen „volksdemokratischen“ Staaten verglich. Auf die synchrone Vergleichsperspektive folgte eine diachrone: Dieter Gosewinkel und MATĚJ SPURNÝ (Prag) gingen der Frage nach, in welchem Zusammenhang Staatsbürgerschaft und Eigentumsrecht als Instrumente der Nationalpolitik an den Wendepunkten der tschechoslowakischen Geschichte von 1918 und 1945 standen. An diesem Vergleich, so ihre These, lasse sich deutlich verfolgen, wie sich das Institut des Eigentums von einem individuellen Recht zu einem „staatlichen Instrument der Bevölkerungspolitik im Dienste nationalpolitisch motivierter Zwecke“ entwickelt habe. DAVID GERLACH (Jersey City) konnte hier direkt anknüpfen: Er untersuchte die soziale Dynamik der Enteignung deutschen Besitzes in der Tschechoslowakei, in Polen und in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands und fragte unter anderem nach der Rolle, die die sowjetische Armee dabei spielte. Bei diesen Maßnahmen hätte es sich keineswegs um einen bloßen „Politikimport“ aus Moskau gehandelt, sie hätten vielmehr auch auf Tendenzen in der eigenen Bevölkerung reagiert, die vor allem mit deren Kriegserfahrung zu erklären seien.

Nationalisierung war allerdings kein Phänomen, das sich auf den künftigen Ostblock beschränkte: Verstaatlichungen wurden auch in Österreich durchgeführt, wo man das Eigentum, das vor und während des Krieges in deutsche Hände geraten war, für den österreichischen Staat sichern wollte. HILDEGARD SCHMOLLER (Wien) schilderte den Verlauf der Verstaatlichungsaktionen, die Besonderheiten der österreichischen Lage und die Bedeutung der Verstaatlichung für die österreichische Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Ein Beispiel für die Beschlagnahme „feindlichen Eigentums“ in der unmittelbaren Nachkriegszeit im westlichen Europa präsentierte WOUTER VERAART (Amsterdam) anhand der Geschichte der Industriellenfamilie Schicht.

Im letzten Panel wurde das Thema „Eigentum und Eigentumsdiplomatie vor und nach 1989“ diskutiert. TOMÁŠ JELÍNEK (Prag) behandelte die „Wiedergutmachungspolitik“ Deutschlands gegenüber den tschechoslowakischen Opfern des Nationalsozialismus und stellte auch die Rolle des tschechoslowakischen Staates in diesem Prozess dar. Er schilderte die Problematik sowohl im internationalen Kontext als auch chronologisch und kam dabei zu dem Schluss, dass es hauptsächlich Versäumnisse und ein Handlungsmangel von Seiten des tschechoslowakischen Staates gewesen seien, die die Aussichten der Opfer auf Entschädigung eingeschränkt hätten. Anschließend wurde unter anderem die Rolle der Opferverbände nach 1989 im Entschädigungsdiskurs diskutiert. Es ist allerdings zu bedauern, dass es bei diesem einen Beitrag zu der Zeit nach 1948 geblieben ist und viele weitere interessante Fragen wie zum Beispiel die Auseinandersetzungen um sudetendeutsches Eigentum unbehandelt blieben.

Die Tagung hat über die Präsentation einzelner Fallstudien hinaus wichtige Einsichten erbracht, zum Beispiel über den Wandel des Verständnisses von Eigentum, der sich im 20. Jahrhundert von einer auf individuelle Eigentumsrechte fokussierten Sicht über die nationalpolitische Instrumentalisierung zu einer (Re-)Individualisierung nach 1989 vollzog. Weitere Forschungen würde die Rolle von Parteien und Parteipolitik für den Wandel von Eigentumsverhältnissen verdienen. Positiv aufgenommen wurde in der Diskussion die Anregung, Eigentumskonflikte als eine Art von Erinnerungskonflikten aufzufassen. Aber auch wenn manche Fragen unbeantwortet oder nicht angesprochen blieben, bot die Tagung doch ein breites Spektrum von Perspektiven auf Eigentumskonflikte. Neben stärker faktografischen und deskriptiven Darstellungen boten jedoch andere Referenten ungewöhnliche und inspirierende Ansätze. Als besonders aufschlussreich hat sich die weite Vergleichsperspektive erwiesen, die die Gemeinsamkeiten, Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen vermeintlich rein nationalen Eigentumskonflikten sichtbar gemacht hat.

Konferenzübersicht:

Dieter Gosewinkel (Berlin) / Roman Holec (Bratislava) / Jiří Pešek (Prag): Einführung

Sektion I: Eigentumskonflikte nach 1918, Teil 1: Tschechoslowakei

Antonie Doležalová (Prag): Ownership and Its Changes: Motivations and Possible Consequences

Eduard Kubů (Prag) / Jiří Šouša (Plzeň): Nostrifizierung

Roman Holec (Bratislava): Eigentum und die ungarische Minderheit in der Tschechoslowakei

Jan Kuklík (Prag): Property and Property Conflicts in the 20th Century in Czechoslovak-German Relations: Current Research and Open Questions

Sektion I: Eigentumskonflikte nach 1918, Teil 2: Vergleichende Perspektive: Mittel- und Westeuropa

Dietmar Müller (Leipzig): Eigentum und Bodenrecht im östlichen Europa (1918-1949). Polen, Rumänien und Jugoslawien im Vergleich

Ota Konrád (Prag): Eigentum im Verhältnis zwischen der Tschechoslowakei und Österreich

Christiane Kohser-Spohn (Berlin): Ein westeuropäischer Vergleichsfall: Eigentum und die Vertreibung der Altdeutschen aus dem Elsass 1918-1920

Sektion II: 1938-1945: Umwälzung der Eigentumsverhältnisse, Teil 1

Jaromír Balcar (Bremen / München): Eigentumsordnung und Macht des reichsdeutschen Kapitals im Protektorat – und ihre Grenzen. Der Fall der Prager Eisen-Industrie-Gesellschaft

Jörg Osterloh (Frankfurt am Main): „Arisierung“ und „Germanisierung“ im Sudetenland 1938-1945

Michal Schvarc / Ľudovít Hallon (Bratislava): Expansionsformen des deutschen Kapitals in der Slowakei, 1939-1945

Sektion II: 1938-1945: Umwälzung der Eigentumsverhältnisse, Teil 2: „Arisierung“

Eduard Nižňanský (Bratislava): Arisierung in Mitteleuropa

Benno Nietzel (Bochum): Arisierung und Rückerstattung im Deutschen Reich

Sektion III: 1945-1955, Vertreibung, Eigentumsentzug und Neuverteilung, Teil 1: Vertreibung und Eigentumsentzug in der Tschechoslowakei

Ľudovít Hallon (Bratislava): Eigentum und Nationalisierung. Eigentumsordnung in der Tschechoslowakei nach 1945

Dieter Gosewinkel (Berlin) / Matěj Spurný (Prag): Staatsbürgerschaft und Eigentumsentzug in der Tschechoslowakei nach 1918 und nach 1945

Sektion III: 1945-1955, Vertreibung, Eigentumsentzug und Neuverteilung, Teil 2: Verstaatlichung und Neuverteilung des Eigentums: Vergleichende Aspekte

David Gerlach (Jersey City): Property Confiscation and Industrial Nationalization in Postwar Poland, Czechoslovakia and East Germany

Hildegard Schmoller (Wien): Verstaatlichung in Österreich

Wouter Veraart (Amsterdam): The Assets of the Schichts. The Fate of Enemy Property in Western Europe between 1945 and 1952, with special attention to the Netherlands

Sektion IV: Eigentum und Eigentumsdiplomatie vor und nach 1989

Tomáš Jelínek (Prag): Eigentumsdiplomatie? Entschädigung der tschech(oslowaki)schen Opfer des Nationalsozialismus