Die Zukunft der Kirche ist weiblich. Zur Ambivalenz der Feminisierung von Gesellschaft, Kirche und Theologie

Die Zukunft der Kirche ist weiblich. Zur Ambivalenz der Feminisierung von Gesellschaft, Kirche und Theologie

Organisatoren
Michael Haspel, Evangelische Akademie Thüringen, Friedrich Schiller-Universität Jena; Rajah Scheepers, Universitärer Schwerpunkt Religion, Universität Erfurt; Carola Ritter, Evangelische Frauen in Mitteldeutschland
Ort
Neudietendorf
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.02.2011 - 25.02.2011
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Von
Ulrike Wagner-Rau, Fachgebiet Praktische Theologie, Fachbereich Ev. Theologie, Philipps-Universität Marburg

Mit Margot Käßmann stand zum ersten Mal eine Frau an der Spitze der Evangelischen Kirche in Deutschland. Das Kirchenparlament, die Synode, wird von Katrin Göring-Eckardt geleitet, und auch das größte kirchliche Ereignis dieses Jahres, der Deutsche Evangelische Kirchentag in Dresden, wird von einer Frau organisiert: der Generalsekretärin Ellen Ueberschär. Diese drei Führungsfrauen mögen paradigmatisch für eine Veränderung stehen, die sich in Kirche und Gesellschaft vollzieht – manche nennen es „Feminisierung“, andere sehen hier eher eine „Normalisierung“ von einer von Männern geleiteten und repräsentierten Institution zu einer Kirche, in der beide Geschlechter auf allen Ebenen paritätisch vertreten sind. Im 19. und 20. Jahrhundert vollzogen die großen Religionsgemeinschaften in Deutschland epochale Prozesse der Selbstmodernisierung, die auf vielfältige Weise mit der sogenannten Feminisierung der Religionen verbunden waren. Der Zugewinn an (Berufs-) Möglichkeiten für Frauen ließ traditionelle religiöse Frauenberufe, die sich zum Teil im 19. Jahrhundert etabliert hatten, zunehmend unattraktiv erscheinen und führte in einer bis dahin nicht da gewesenen Weise zu einer verstärkten Übernahme von traditionell von Männern ausgeübten Berufen und Berufsfeldern. Zu fragen ist: Wie steht diese Entwicklung im Verhältnis zu allgemeinen gesellschaftlichen Prozessen? Welche Konsequenzen hat sie für die Wissenschaft, die Kirche und die Gesellschaft insgesamt?

62 Frauen und 9 Männer, unter ihnen 17 Referentinnen und Referenten, trafen sich vom 24. zum 25. Februar 2011 im ausgebuchten Zinzendorfhaus Neudietendorf, um die Zukunft der Kirche in gendertheoretischer Perspektive zu diskutieren. Nicht selten wird behauptet, dass das Thema der Chancengerechtigkeit zwischen den Geschlechtern heute nicht mehr interessiere, weil es weitgehend gelöst sei. Die große Resonanz auf das Thema der Tagung zeigt die Fragwürdigkeit dieses Befundes. Nicht erst die provozierenden Äußerungen Friedrich Wilhelm Grafs im Deutschlandfunk zur drohenden Übernahme des Pfarramtes durch eine Überzahl von angeblich schlecht qualifizierten Frauen vom Typ „Mutti“ haben die Diskussion in den letzten Jahren wieder belebt.

Zur Tagung eingeladen hatten der Direktor der Evangelischen Akademie Michael Haspel, Rajah Scheepers, Kirchenhistorikerin am Schwerpunkt Religion der Universität Erfurt, und die Leitende Pfarrerin der Evangelischen Frauen in Mitteldeutschland Carola Ritter. Die Teilnehmenden kamen aus ganz Deutschland: von Universitäten, aus den Frauenwerken, aus Gleichstellungsreferaten, aus der Bildungsarbeit der Kirchen, aus Kirchengemeinden – eine engagierte und diskussionsfreudige Runde.

In ihrer Eröffnung griff RAJAH SCHEEPERS den Begriff der „Feminisierung“ dezidiert positiv auf. Sie zitierte den Journalisten Franz Alt, der vor 25 Jahren geschrieben hat: „Die Zukunft und wahrscheinlich auch die Rettung der Kirche liegt in ihrer Feminisierung. Mehr Weiblichkeit in der Kirche würde mehr Menschlichkeit bedeuten.“ Aber kann man diese Äußerung so stehen lassen? Ihre theoretischen Voraussetzungen jedenfalls müssen diskutiert werden. Das wurde im Verlauf der Tagung sehr deutlich. Der schillernde Begriff der Feminisierung wird je nach Kontext sehr unterschiedlich benutzt: als – für das 19. Jahrhundert in der Geschichtswissenschaft oft gebrauchter – Begriff zur Beschreibung des zunehmenden Einflusses von Frauen in Gesellschaft und Kirche einerseits, als positiv oder negativ konnotierte Bewertung dieses Prozesses andererseits.

Den Auftakt in der Reihe der Vorträge setzte die Soziologin SYLKA SCHOLZ (Dresden). Kritisch reflektierend folgte sie in ihren fundierten Ausführungen der Situation von Frauen in Politik, Ökonomie und Familie. Die Gesamtsituation sei nicht eindeutig: Fortschritte in der Chancengerechtigkeit stehen neben Rückschritten. Von einem klaren Machtzuwachs der Frauen könne man aufs Ganze gesehen nicht sprechen, obwohl die Bundeskanzlerin und andere mächtige Frauen durchaus neue Leitbilder für Frauen abgäben. Feminisierung, so die These zu Beginn, zeige sich gegenwärtig gesellschaftlich oft als Prekarisierung beider Geschlechter: Beschäftigungsverhältnisse würden kurzfristig und seien immer schlechter abgesichert – für Frauen wie Männer. Nach wie vor aber überwiege der Anteil der Frauen in Teilzeittätigkeiten und im Niedriglohnsektor deutlich. Auch dort, wo Frauen mehr als 60% des Familieneinkommens erarbeiten – das sei mittlerweile fast in jedem fünften Haushalt der Fall – verdienten sie oft sehr wenig. Und nach wie vor sei der Binnenraum der Familien weiblich dominiert.

Der Pädagoge UWE SIELERT (Kiel) referierte über den Prozess der Verunsicherung und Veränderung des männlichen Habitus in den letzten Jahrzehnten. Auch er deutete die Situation als ambivalent: Einerseits würden die Frauen zu wesentlichen Trägerinnen wichtiger gesellschaftlicher und ökonomischer „Wellen“ und die Geschlechterrollen entgrenzten sich. Andererseits aber dominierten Männer nach wie vor den Bereich globaler Wirtschaft und Politik, während der Einfluss der Frauen wesentlich auf den nationalen und lokalen Bereich beschränkt bleibe.

Wirkt die Religion sich in den Modernisierungsprozessen förderlich oder hinderlich für die Geschlechtergerechtigkeit aus? In historischer Perspektive stellte die katholische Theologin REGINA HEYDER (Bonn) die „fromme Verspätung“ im Versuch der katholischen Frauen dar, in ihrer Kirche Einfluss zu gewinnen. Das II. Vaticanum habe Aufbrüche in dieser Hinsicht gebracht. In vielen Bereichen habe es ein hoffnungsvolles „erstes Mal“ für Frauen gegeben. Aber in der Gegenwart sehe die Situation wieder düster aus: Auch die katholische Presse schweige die Frage nach dem Priesteramt für Frauen tot. Für den deutschen Katholizismus des 20. Jahrhunderts sei die These einer „Feminisierung der Religion“ auf den Prüfstand zu stellen: Anders als in der protestantischen und altkatholischen Kirche gäbe es im Katholizismus keine Entwicklung, die schließlich zur vollen Teilhabe von Frauen am kirchlichen Amt geführt hätte. Andererseits seien im 20. Jahrhundert mit den Seelsorgehelferinnen/Gemeindereferentinnen und Pastoralreferentinnen neue kirchliche Berufe für Frauen geschaffen worden, deren Veränderung in Profil und Lebensform durchaus als Emanzipationsgeschichte gelesen werden könnten (Seelsorgehelferinnen etwa mussten bis zum Ende der 1960er-Jahre zölibatär leben). Die zunehmende Partizipation von Katholikinnen, die von der kirchlichen Hierarchie ebenso gefördert wie von den Frauen selbst gefordert worden sei, habe sich dabei in kleineren Schritten als jene der männlichen Laien vollzogen. Als mögliche Indikatoren einer „Feminisierung“ seien schließlich Diskurse über eine geschlechtsspezifische Spiritualität oder die Teilhabe von Frauen am kirchlichen Amt auszuwerten, die – wie angedeutet – in der katholischen Kirche keineswegs linear verliefen.

Die evangelischen Kirchen, so RAJAH SCHEEPERS (Erfurt), seien gleichfalls alles andere als Vorreiterinnen der Frauenemanzipation gewesen. Vielmehr sei es ein langer Kampf und nicht zuletzt eine Folge des Pfarrermangels gewesen, dass sich der Weg in die Frauenordination öffnete. Auch heute sei nach wie vor der Anteil der Frauen an Führungspositionen so schmal wie die Basis der Ehrenamtlichen und geringfügig Beschäftigten breit sei. Zunehmend sei in der evangelischen Kirche von einer schleichenden „Feminisierung“ die Rede – meist verbunden mit einer negativen Konnotation. Scheepers umriss diesen Prozess historisch-kritisch, und zwar mit einem Fokus auf die Wendephase, nämlich die Gleichstellung der Frauen im Amt und deren unmittelbare Vorgeschichte, den Diskurs um die sogenannte Zölibatsregel. Die zunehmend in den Blick der Forschung geratende Wendezeit der ‚langen 70er-Jahre’ habe wesentlich auch die Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Bundesrepublik Deutschland betroffen. Der Vortrag setzte mit der Pastorinnenverordnung von 1962 ein, erstreckte sich über das Gesetz, das die Gleichstellung im Amt 1974 festschrieb, und endete mit dem Jahr 1984, als die ersten gleichgestellten Pastorinnen auf ein Jahrzehnt im vollen Amt zurückblicken konnten. Scheepers stützte sich hierbei auf Archivmaterialien und Interviews mit den ersten gleichgestellten Pfarrerinnen im Amt, ihren aufgrund von Heirat ausgeschiedenen Kolleginnen und damaligen Entscheidungsträgern.

Mehrere Workshops zur Personalentwicklung, zu Ansätzen einer genderbewussten Pastoraltheologie, zur Spiritualität und anderen Themen, in denen junge Wissenschaftlerinnen ihre Projekte vorstellten, ergänzten die Vorträge.

Abgeschlossen wurden die Diskussionen durch ein Podium, bei dem die ökumenische Situation als weitere wichtige Perspektive für die Situation benannt wurde: Unter den evangelischen Kirchen weltweit sind Frauenordination und liberale Haltungen in Fragen homosexueller Lebensformen alles andere als unumstritten.

Ein Höhepunkt der Tagung war der abendliche Auftritt der Clownin GISELA MATTHIAE (Gelnhausen), die als Adele Seibold im lila Kostümchen viele Themen und Probleme ebenso klug wie witzig auf den Punkt brachte. Für sie ist klar: „Ohne ons Frauen hätt man den Lade scho längscht dicht gmacht!“ Aber wer oder was ist eigentlich eine Frau? Gar nicht einfach zu beantworten in Zeiten, in denen Gender als ein wesentlich kulturelles Konstrukt angesehen wird.

Die Tagung hatte sich mit ihrer breit angelegten Thematik ein ehrgeiziges Ziel gesetzt. Vieles konnte in der vorhandenen Zeit nur angerissen werden. Manche Fragen und Themen aber, die zukünftig weiter zu diskutieren sind, sind deutlich hervorgetreten: Wer den Begriff der Feminisierung benutzt, muss dazu sagen, was er damit meint. Was sich ändert in der Kirche, wenn Frauen in den leitenden Positionen tätig werden, ist noch nicht ausreichend erforscht. Ebenso ist es eine offene Frage, wie Leitungsämter strukturiert sein müssen, damit sich zukünftig Frauen und Männer für sie entscheiden. Und schließlich: Es geht nicht nur um die Leitungsämter, sondern auch um die vielen prekären Beschäftigungsverhältnisse, in denen die Kirche Frauen schon lange beschäftigt. Dass schließlich eine Feminisierung automatisch mit mehr Menschlichkeit in der Kirche einhergehe, ist jedenfalls noch nicht abzusehen. Vielleicht würde es als Ziel auch reichen, wenn die Existenz von Frauen auf allen Ebenen der kirchlichen Praxis selbstverständlich würde – und die der Männer auch.

Nicht die Zukunft, sondern auch die Gegenwart der Kirche ist in vieler Hinsicht „weiblich“. Daran besteht kein Zweifel. Oder, wie Adele Seibold mit einem Augenzwinkern meint: Ohne die Frauen könnten die Theologischen Fakultäten zukünftig wohl nur für die unsichtbare Kirche ausbilden.

Tagungsübersicht:

Begrüßung und Eröffnung: Michael Haspel
Einführung in das Thema: Rajah Scheepers

Feminisierung der Gesellschaft im 20. Jahrhundert? Die zunehmende Partizipation von Frauen in Politik, Gesellschaft und Familie
Sylka Scholz, TU Dresden

Feminisierung der Gesellschaft im 20. Jahrhundert – Das Verschwinden oder Transformation der Männlichkeit?
Uwe Sielert, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Diskussion: Feminisierung der Gesellschaft – Verschwinden der Männlichkeit?

Religion als Motor oder Hemmschuh einer Feminisierung der Gesellschaft?
Impulsvorträge
Regina Heyder, Universität Bonn
Rajah Scheepers, Universität Erfurt

Religion als Motor oder Hemmschuh einer Feminisierung der Gesellschaft?
Podiums- und Plenardiskussion

Sie, ich bin auch begabt!
Ein clownesk-kabarettistisches Programm von und mit Gisela Matthiae, Gelnhausen

Nach(t)gespräche in den Salons des Zinzendorfhauses

Andacht im Raum der Stille
Pfarrerin Carola Ritter, Evangelische Frauen in Mitteldeutschland

Feminisierung von Theologie und Spiritualität – eine Erfolgsgeschichte?
Renate Jost, Augustana-Hochschule Neuendettelsau

Workshops: Towards a women’s church?

1. Personalentwicklung in der Evangelischen Kirche – welche Rolle spielen Genderfragen?
Hanna Zapp, Organisationsberaterin

2. Spiritualität
Julia Koll, Georg-August-Universität zu Göttingen

3. Was unterscheidet Pfarrerinnen von Pfarrern? Ansätze einer genderbewussten Pastoraltheologie
Simone Mantei, Gutenberg-Universität Mainz

4. Erfurter Forschungsprojekte
Normative Implikation einer Feminisierung von Religion? Überlegungen im Anschluss an Martha C. Nussbaum
Cornelia Mügge, Universität Erfurt
Die Aufhebung der Zölibatsklausel für Theologinnen als Umbruch zu einer „Feminisierung“ der evangelischen Kirche im 20. Jahrhundert
Rajah Scheepers, Universität Erfurt

Podiumsdiskussion: Fortschritt oder Ambivalenz? Zur Bewertung einer Feminisierung von Kirche und Theologie im 20. Jahrhundert
Annegret Böhmer, Evangelische Hochschule Berlin
Ulrike Wagner-Rau, Philipps-Universität Marburg
Superintendentin Martina Berlich, Evangelisch Kirche in Mitteldeutschland, Eisenach
Kristian Fechtner, Gutenberg-Universität Mainz
Andrea Wagner, Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Weimar


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