Sozialistische Moderne oder kommunistischer "Ökozid"? Umweltkatastrophen und lokale Identitäten im östlichen Europa. 3. Belarus-Workshop

Sozialistische Moderne oder kommunistischer "Ökozid"? Umweltkatastrophen und lokale Identitäten im östlichen Europa. 3. Belarus-Workshop

Organisatoren
Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität Gießen; Gießener Zentrum Östliches Europa; Herder-Institut Marburg; Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde e.V.; Deutscher Akademischer Austauschdienst; Hochschulgesellschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen
Ort
Gießen
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.12.2013 - 06.12.2013
Url der Konferenzwebsite
Von
Artem Kouida, Trier

Belarus – ein weißer Fleck in Europa? Dies scheint er nicht mehr zu sein. Auf ein reges Interesse stieß der am 5. und 6. Dezember 2013 an der Justus-Liebig-Universität bereits zum dritten Mal veranstaltete Belarus-Workshop. Finanziell unterstützt durch den DAAD, das Gießener Zentrum östliches Europa (GiZo), die Gießener Hochschulgesellschaft (GHG), die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO) und das Herder-Institut Marburg konnten zahlreiche internationale Forscher wie David Marples (Edmonton), Kuzma Kozak (Minsk), Henadz Sahanovich (Vilnius / Minsk) und Pavel Tereshkovich (Vilnius / Minsk) begrüßt werden. Dabei prägte das Leitthema „Sozialistische Moderne oder kommunistischer ‚Ökozid‘? Umweltkatastrophen und lokale Identitäten im östlichen Europa“ die Inhalte und neue Forschungsansätze der Belarus-Tagung.

Das unbekannte Land im Zentrum Europas – Weißrussland – wird im Mai 2014 im Mittelpunkt der internationalen Berichterstattung stehen. Denn hier wird die Eishockey-Weltmeisterschaft ausgetragen. Die „letzte Diktatur Europas“, wie die Republik Belarus in der Europäischen Union bezeichnet wird, ist für Viele immer noch ein weißer Fleck auf der europäischen Landkarte.1 Fatalerweise wird die westliche Berichterstattung von der Politik bestimmt. Andere Bereiche wie Kultur und Geschichte kommen dagegen zu kurz. Denn Belarus weist eine wechselvolle und geschichtsträchtige Vergangenheit im europäischen Kontext auf, obwohl das Land selbst seine Souveränität in den heutigen Grenzen erst im Laufe des 20. Jahrhunderts erlangte. Der Schwerpunkt der Belarus-Forschung an der Justus-Liebig-Universität liegt mit drei abgeschlossenen Promotionsprojekten auf der Geschichte der Belorussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR).2 Die regelmäßig stattfindenden Workshops vereinen internationale Wissenschaftler aus Deutschland, Weißrussland, Litauen und anderen Ländern, bieten eine Plattform für den gegenseitigen Meinungsaustausch und geben Impulse für neue Forschungsschwerpunkte.

Die erste Sektion der 3. Belarus-Tagung wurde von THOMAS BOHN (Gießen) mit einem Impulsreferat zur Frage der belarussischen Identität und zum Problem der Konzeptualisierung weißrussischer Geschichte eröffnet. Anknüpfend an einen Roman Iwan Meleschs (1921–1976), der 1962 unter dem Titel „Menschen im Sumpf“ erschien, rückte er das Verhältnis von Mensch und Natur in die Perspektive und plädierte für eine Summe von Lokalgeschichten. Bohn verwies darauf, dass die Charakterisierung der „Belarus‘“ (mit Weichheitszeichen und femininer Bedeutung) als Land des polnischen Landadels, der russischen Beamten, der jüdischen Händler und der weißrussischen Bauern in Jakub Kolas’ (1882–1956) Erzählung „Der Schalmeibläser“ 1906 einen symbolträchtigen Ausdruck gefunden habe. Das Phänomen der „Hiesigen“, einer von traditionellen Werten und pränationalen Vorstellungen geprägten Bevölkerungsgruppe im Grenzgebiet von Polen-Litauen und Weißrussland sei nicht nur durch die gleichnamige Komödie von Janka Kupala (1882–1942) 1922 auf die Tagesordnung gesetzt, sondern 1965 in dem Roman „The Painted Bird“ von Jerzy Kosiński (1933–1991) noch einmal neu beleuchtet worden. Die Hinterwäldler in den Ostgebieten der Zweiten Polnischen Republik werden in dieser Interpretation auf dem Schlachtfeld der Diktatoren Hitler und Stalin nämlich zu Prototypen des Homo sovieticus geformt. Unter dieser Prämisse vertrat Bohn die These, dass das Rätsel zur Entzifferung der belarussischen Geschichte in der Zwischenkriegszeit zu suchen sei.

HENADZ SAHANOVICH (Vilnius / Gießen) wies aus frühneuzeitlicher Perspektive auf die Komplexität der Geschichte Weißrusslands unter dem Gesichtspunkt der Transkulturalität der Region hin, wobei nationale Kategorien als problematisch angesehen wurden. Der These von den „Menschen im Sumpf“ stellte er die Behauptung von der Existenz einer vom Adel geprägten weißrussischen Hochkultur in der Frühen Neuzeit gegenüber. Der Frage nach der Definition „der Belarus‘“ oder des „Belarussen“ aus zeitgeschichtlicher Sicht ging MARKUS KRZOSKA (Berlin / Gießen) nach. Intellektuelle Diskurse über die nationale Identität trügen dazu bei, Menschen zu Belarussen zu „erwecken“. Diesbezüglich sei positiv wie negativ auch auf die Stilisierung der Belarussen zu Tschernobyl-Opfern hinzuweisen.

Im Mittelpunkt der zweiten Sektion stand der Vortrag von DAVID MARPLES (Edmonton), der dem Problem der demographischen Katastrophen und des sozialen Wandels in Weißrussland nachging, wobei auf Faktoren wie die Industrialisierung, den Zweiten Weltkrieg, die Urbanisierung und die atomare Verseuchung eingegangen wurde. Die kurze Demokratisierungsphase, die 1991 begann, habe die Nationsbildung kurzzeitig vorangetrieben. Mit Lukaschenkos Wahl zum ersten Präsidenten Weißrusslands 1994 sei diesem Projekt aber ein schnelles Ende bereitet worden. Zusammenfassend könnten die Rückkehr zur Sowjetsymbolik und ihren politischen Instrumenten, aber auch die starke Abhängigkeit von Russland die Souveränität der Republik Belarus gefährden, was zu einer sozialen Eruption nach Lukaschenko führen könnte. KONRAD HIERASIMOWICZ (Gießen) führte mit seinem Kommentar aus umweltsoziologischer Perspektive das Thema weiter aus und fokussierte dabei auf den Bau des ersten weißrussischen Atomkraftwerks in Ostrowez. Er stellte die Frage nach ausbleibenden Protesten seitens der breiten Bevölkerungsmasse und zog als Erklärung den Faktor Angst heran. Die Auseinandersetzung mit der neuen weißrussischen Nationalidee, zu deren Prestigeobjekten der Atomkraftwerk-Bau gehöre, liefere eine paradoxe Mischung von Ausradierung alles Weißrussischem einerseits und der Betonung der Existenz eines eigenen weißrussischen Weges andererseits. Im Laufe der nachfolgenden Diskussion wurde die Passivität der Menschen unter anderem auf das Fehlen von Nichtregierungsorganisationen zurückgeführt, die noch Anfang der 1990er-Jahre existiert haben. Einerseits artikuliere sich durch die Entwicklung einer Untergrundkultur ein stiller Protest. Andererseits sei die Relevanz Tschernobyls hinter das Alkoholproblem zurückgetreten, insbesondere nach der Wiederaufnahme der Billigwein-Produktion.

Eine Weiterführung des Themas um die Atomkraftwerke von Tschernobyl und Ostrowez erfolgte durch ASTRID SAHM (Berlin). Sie stellte die Positionen Russlands, Litauens und Weißrusslands dar und untersuchte die Reaktionen auf Atomkraftwerke nach Fukushima im gesamteuropäischen Kontext. Dabei erörterte sie die Frage der energiepolitischen Spaltung zwischen West- und Osteuropa und wies eine Renaissance der Atomenergie in vielen Ländern nach. In ihrem Kommentar ging ANNA VERONIKA WENDLAND (Marburg) noch weiter. Sie stellte fest, dass es weder in Russland, noch in den Nachbarstaaten Weißrussland und Ukraine freie Debatten oder Diskussionen über Atomkraftwerke gibt. Allerdings sei optimistisch davon auszugehen, dass im Zeitalter des raschen technischen Fortschritts Atomdiskurse nicht ausbleiben und sich schnell den Umständen anpassen werden. Eine andere Perspektive bot der Kommentar von ALIAKSANDR DALHOUSKI (Minsk), der eine kurze Retrospektive auf die Versuche mit Atomenergie auf dem Territorium Weißrusslands bot. Nicht das Strahlungsrisiko, sondern der Geldmangel und die Unsicherheit der belarussischen Machthaber hätten Ende der 1980er-Jahre Bauprojekte gestoppt. Heute stehe die belarussische Gesellschaft fast einheitlich, einschließlich der Opposition und der bei den Räumungsarbeiten in Tschernobyl eingesetzten Liquidatoren (von denen heutzutage der Zerfall der Sowjetunion als das größte Übel angesehen wird) hinter dem Bau-Vorhaben in Ostrowez. Für die Lukaschenko-Regierung handele es sich um ein Prestigeprojekt, das als Teil einer Modernisierungs-Propaganda promotet werde.

Die vierte Sektion war transnationalen Umweltschutzbemühungen im 20. Jahrhundert gewidmet. Als Beispiel stellte JULIAN MÜHLBAUER (Gießen) den Nationalpark von Białowieża bzw. die Beloweschskaja Puschtscha an der polnisch-weißrussischen Grenze vor. Eine bewegte Vorgeschichte von mehr als 500 Jahren liegt dem 1932 gegründeten Nationalpark zugrunde. Dem Umstand verdankend, dass viele Machthaber leidenschaftliche Jäger gewesen waren und ein einzigartiges Jagdrevier erhalten wissen wollten, habe trotz einer partiellen ökonomischen Ausbeutung eine gezielte Zerstörung der Naturlandschaft nicht einmal unter der Okkupation in den beiden Weltkriegen stattgefunden. In der Zwischenkriegszeit habe die nicht immer konfliktfreie Kooperation zwischen deutschen und polnischen Zoologen die Wiederaufzucht des nahezu ausgerotteten Wisents ermöglicht, in der Nachkriegszeit die von Rivalitäten belastete Zusammenarbeit zwischen polnischen und sowjetischen Forstleuten die erfolgreiche Auswilderung dieser Spezies betrieben. In der anschließenden, durch einen Kommentar von Eunice Blavascunas (München) angeregten Diskussion, wurde auf den Widerspruch zwischen Fakten und Fiktionen hingewiesen. Ernst zu nehmen wäre dabei insbesondere der Mythos des Urwalds. Interessant sei zu beobachten, wie dieser Mythos von unterschiedlichen Interessengruppen instrumentalisiert worden ist. Dementsprechend seien nicht nur Nationalparkkonzepte, sondern auch Problemlagen der lokalen Bevölkerung von Forschungsrelevanz. In der Abschlussdiskussion stellte STEFAN ROHDEWALD (Gießen) die Verbindung von Technik und Natur als Teil der sowjetischen Propaganda in den Raum. Dabei sei es nicht nur um die ökonomische Nutzung, sondern auch um die Behauptung eines Herrschaftsanspruchs gegangen. Doch wo sollen die weiteren Forschungsschwerpunkte liegen? Soll sich der Fokus auf die Umgestaltung von Naturlandschaften und die nostalgische Verklärung der Ursprünge der Modernisierung richten oder stellten – wie Frank Wolff (Osnabrück) anmerkte – Migrationsregime im Rahmen imperialer Herrschaftsverbände, die im Wechselspiel unter den Handelnden für Mobilität sorgten, nicht einen viel wichtigeren Faktor dar? Sind die Katastrophen des 20. Jahrhunderts als ausschlaggebender Faktor für die Historisierung der Belarus‘ zu erachten oder soll nicht eher die Übergangszone zwischen Mittel- und Osteuropa seit der Frühen Neuzeit in transnationaler Perspektive eine stärkere Beleuchtung erfahren? Dies wird die nächste Konferenz zeigen, die für 2015 in Minsk geplant ist.

In den Vorträgen sowie den Diskussionen zeigte sich, dass die neueste Geschichte Weißrusslands sehr kontrovers diskutiert wird. Dabei ist insbesondere der Leitbegriff der „nationalen Identität“ als Schlüssel für das Verständnis von der Vergangenheit einer ziemlich jungen europäischen Nation heftig umstritten. Ein gründliches wissenschaftliches Befassen mit dem Themenkomplex steht dagegen noch aus. Die Verwobenheit zwischen politischen Machtansprüchen und Umweltpolitik einerseits und der Reaktion der Gesellschaft darauf andererseits, erwähnt sei in diesem Zusammenhang nochmals der Atomkraftwerk-Bau in Ostrowez, stellen den zweiten Themenkomplex in den Vordergrund, der bisher zu wenig Beachtung erfuhr. Somit mag es durchaus überraschen, dass die Umweltpolitik der Regierung nicht auf die Ablehnung der Bevölkerungsmehrheit trifft, sobald es um die eigene Unabhängigkeit und Nationalstolz geht. Eine dritte Ebene stellt die Interaktion zwischen dem Naturreservat einerseits und der in seiner Umgebung siedelnden Bevölkerung andererseits dar. Insofern ließen die Vorträge einige Fragen unbeantwortet, gaben jedoch einige wichtige Impulse zu weiteren Forschungsschwerpunkten, die in der Zukunft näher betrachtet und somit das historische Bild Weißrusslands bereichern werden.

Konferenzübersicht:

Begrüßung: Rayk Einax (Gießen) / Anna Veronika Wendland (Marburg)

Sektion A: Naturschutz, Umweltbewusstsein und (prä-)nationale Bewegungen in Ostmittel- und Osteuropa: Historische Verortung und aktuelle Forschungsansätze
Moderation: Alexander Friedman (Saarbrücken)

Impulsreferat: Thomas Bohn (Gießen), Schalmeibläser und bunte Vögel. Eine Geschichte von Menschen im Sumpf

Henadz Sahanovich (Vilnius / Gießen), Kommentar aus frühneuzeitlicher Perspektive

Pavel Tereshkovich (Vilnius), Kommentar aus neuzeitlicher Perspektive

Markus Krzoska (Berlin / Gießen), Kommentar aus zeitgeschichtlicher Perspektive

Sektion B: Urbanisierung und Industrialisierung als ökologische Altlasten des Staatssozialismus
Moderation: Frank Wolff (Osnabrück)

David Marples (Edmonton, CAN), Industrialization, Nuclear Power, and the Loss of the Village: Demographic Crisis in the Republic of Belarus

Konrad Hierasimowicz (Gießen), Kommentar aus umweltsoziologischer Perspektive

Sektion C: Tschernobyl und Fukushima im Bewusstsein von Transformationsgesellschaften: Hoffnungen und Ängste
Moderation: Kuzma Kozak (Minsk)

Impulsreferat: Astrid Sahm (Berlin), Die atompolitische Debatte in Belarus und Litauen im Kontext von Tschernobyl und Fukushima

Anna Veronika Wendland (Marburg), Kommentar 1

Aliaksandr Dalhouski (Minsk / Gießen), Kommentar 2

Sektion D: Der Belawescha-Nationalpark als Beispiel transnationaler Umweltschutzbemühungen im 20. Jahrhundert
Moderation: Dmitri Romanovskij (Vitebsk / Bonn)

Impulsreferat: Julian Mühlbauer (Gießen), Zwischen Ressource und Reservat. Der Bialovieża-Nationalpark als Beispiel transnationaler Umweltschutzbestrebungen

Abschlussdiskussion
Moderation: Natallia Krauchanka (Oldenburg)

Zusammenfassung / Impulse: Stefan Rohdewald (Gießen)

Kommentar: Stefan Jarolimek (Leipzig)

Anmerkungen:
1 Vgl. Thomas M. Bohn / Victor Shadursky (Hrsg.), Ein weißer Fleck in Europa … Die Imagination der Belarus als Kontaktzone zwischen Ost und West (= Histoire 29), Bielefeld 2011; Thomas M. Bohn / Rayk Einax u.a. (Hrsg.), Bunte Flecken in Weißrussland. Erinnerungsorte zwischen polnisch-litauischer Union und russisch-sowjetischem Imperium (= Historische Belarus-Studien 1). Wiesbaden 2013.
2 Vgl. Rayk Einax, Die Entstalinisierung in Weißrussland. Stabilisierung, sozioökonomischer Wandel und öffentliche Mobilisierung in der Belorussischen Sowjetrepublik 1953–1965, 2011; Aliaksandr Dalhouski, Die Sowjetrepublik Weißrussland nach Tschernobyl: Ökologischer Protest oder materieller Kompromiss, 2012; Julian Mühlbauer, Petitionen und Beschwerden im ‚Entwickelten Sozialismus‘. Das sowjetische Eingabewesen in Weißrussland zwischen Anspruch und Wirklichkeit, 2013.


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