Sozialfürsorge und Gesundheit in Ost- und Südosteuropa im langen 20. Jahrhundert

Sozialfürsorge und Gesundheit in Ost- und Südosteuropa im langen 20. Jahrhundert

Organisatoren
DFG Netzwerk „Sozialfürsorge und Gesundheit in Ost- und Südosteuropa im langen 20. Jahrhundert“
Ort
Regensburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
07.11.2013 - 09.11.2013
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Von
Maren Röger, Deutsches Historisches Institut Warschau

Seit Mitte 2012 besteht das DFG-geförderte Netzwerk „Sozialfürsorge und Gesundheit in Ost- und Südosteuropa im langen 20. Jahrhundert“. Ins Leben gerufen von Friederike Kind-Kovács, Heike Karge (beide Regensburg) und Sara Bernasconi (Zürich) versammelt das Netzwerk insgesamt 15 DoktorandInnen und Post-Docs. Die kultur- und sozialhistorische Geschichte von Sozialfürsorge und Gesundheit ist für den ost- und südosteuropäischen Raum – im Gegensatz zu entsprechenden Forschungen zu Westeuropa – noch weitgehend unbearbeitet. Wer galt und gilt in den ost- und südosteuropäischen Gesellschaften als krank, als deviant, als fürsorgebedürftig oder als Rentenneurotiker? Unterscheiden sich in ost- und südosteuropäischen Gesellschaften die Entwicklungspfade, auf denen moderne Konzepte und Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit, von Armut und Fürsorge gründen, von denen west- und mitteleuropäischer Gesellschaften? Mit diesen Fragen befassen sich die am Netzwerk beteiligten ForscherInnen. Das Treffen in Regensburg, das vom 07.-09. November 2013 stattfand, war bereits das dritte. Standen auf den vorangegangen Workshops Fragen der Modernität und Modernisierung in Hinblick auf Südost- und Osteuropa im Mittelpunkt, wobei das Rückständigkeitstheorem hinsichtlich der Region hinterfragt wurde, fokussierten sich nun die Beiträge auf Akteure, staatlicher und nicht-staatlicher Natur, sowie Fragen der Devianz, der In- und Exklusion.

Der Workshop eröffnete mit einer Keynote von NANCY M. WINGFIELD (DeKalb) unter dem Titel „Battling the ‚Venereal Peril’ in Habsburg Central Europe during the Great War and After“. In ihrem Vortrag behandelte sie zum einen die Prostitutionspolitik der k.u.k.-Armee, die darauf abzielte das Problem der Geschlechtskrankheiten durch scharfe Kontrollen der sich prostituierenden Frauen in den Griff zu bekommen. In der k.u.k.-Armee war das Infektionsniveau zur Jahrhundertwende und im Ersten Weltkrieg hoch, höher etwa als in der deutschen und französischen Armee. Doch eine homogene Prostitutionspolitik in allen Gebieten der Monarchie war nicht durchzusetzen. Während sich die Armee auf das Problem der Geschlechtskrankheiten kaprizierte, spielten die Infektionen in der öffentlichen Debatte kaum eine Rolle. Diskussionen über Prostitution waren in dieser Arena stets Diskussionen über den sittlichen Zustand der Gesellschaft. Bereits nach Wingfields Vortrag begann eine lebhafte Diskussion, die in den nächsten zwei Tagen des Workshops auf hohem fachlichem Niveau fortgeführt wurde.

Nach einer Einführung von ESTHER WAHLEN (Florenz) und FANNY LE BONHOMME (Rennes / Berlin / Potsdam) widmeten sich die beiden ersten Panels des Workshops den Wohlfahrts- und Fürsorgesystemen in Ost- und Südosteuropa aus einer Top-Down-Perspektive. Welche Akteure der Gesundheits- und Sozialsysteme Normen festlegten, und welche gesellschaftlichen Projekte mit diesen (biopolitischen) Werten verknüpft waren, waren dabei verbindende Fragen.

Zuerst stellte INDIRA DURAKOVIC (Graz) einen Aspekt aus ihrem abgeschlossenen Dissertationsprojekt vor, das sich dem serbischen Gesundheitssystem bis zum Ersten Weltkrieg widmet. Sie fokussierte die Rolle der Frauen bei der Gesundheitserziehung um 1900. Staatliche Aufklärungskampagnen adressierten die Mütter, die in der häuslichen Sphäre neue Erkenntnisse der Hygiene umsetzen sollten. Kirche und Schule waren Vermittler der Politik, deren Durchsetzung vor allem in ländlichen Gebieten nicht immer einfach war. In die Nachkriegszeit führte dann der Vortrag von KATHARINA KREUDER-SONNEN (Gießen), die über das „Staatliche Institut für Hygiene“ in Polen berichtete. Das in Warschau angesiedelte Institut sowie das Gesundheitsministerium versuchten einen Zugriff über das ganze Staatsterritorium zu bekommen, indem Amtsärzte zu monatlichen Berichten über Infektionskrankheiten verpflichtet wurden. Immer wieder äußerten die Warschauer ihre Unzufriedenheit über die Ausstattung in den Provinzen und dem daraus resultierenden nicht-ausreichenden bakteriologischen Zugriff auf das Land. Vor allen in den östlichen Teilen des Landes verhinderte die Infrastruktur die Umsetzung gesundheitspolitischer Ideen, wie die Ärzte beklagten. MARIA ZARIFI (Patras) bot eine longue-durée-Perspektive auf die Entwicklung des griechischen Gesundheitssystems von 1834-1923. Sie legte einen Schwerpunkt auf die Professionalisierung der Ärzteschaft. 1834 wurde das „Medizinische Komitee“ gegründet, das in der Folge für Standardisierungsprozesse zuständig war, indem es unter anderen zentrale Prüfungen für Ärzte und Hebammen implementierte.

Das zweite Panel des Tages eröffnete HEIKE KARGE (Regensburg) mit der Frage, ob die Phase zwischen 1900 und 1930 als „sozialpolitische Sattelzeit im jugoslawischen Raum“ zu bezeichnen ist. Der jugoslawische Staat verstand sich als moderner Staat, der für alle Bürger die gleichen Rechte in der Sozialfürsorge anbot. In den zuständigen Ministerien bestand der Anspruch, dass der Bevölkerung flächendeckende Versorgung angeboten werden soll. In den unterschiedlichen Landesteilen klafften die Politiken auseinander, wobei der Erste Weltkrieg eine egalisierende Tendenz gehabt habe. Weiter bestehende Divergenzen führten zu Frustrationen zwischen Akteuren in den nordwestlichen und südöstlichen Landesteilen. KATRIN STEFFEN (Lüneburg) sprach über die Gesellschaft zum Gesundheitsschutz für die jüdische Bevölkerung (TOZ) in der Zweiten Polnischen Republik. Sie betrieb Aufklärungskampagnen im Bereich der Hygiene, aber auch eigene Krankenhäuser und konnte Erfolge beispielsweise hinsichtlich der Senkung der Kindersterblichkeit erzielen. Im Laufe der 1930er-Jahre wurde das sie umgebende gesellschaftliche Klima teilweise offen antisemitisch: Steffen konstatierte einen biopolitisch motivierten Judenhass. FRIEDERIKE KIND-KOVÁCS (Regensburg) richtete den Blick auf die ungarische Zwischenkriegszeit. Dabei diskutierte sie einen bedeutenden internationalen Akteur, das „Amerikanische Rote Kreuz“, und den transnationalen humanitären Diskussionszusammenhang. Fotografien von abgemagerten und körperlich versehrten Kindern gehörten zur (wissenschaftlichen) Dokumentation der Arbeit sowie stellten bedeutende Argumente im öffentlichen Kampf um Finanzierung dar. Dabei stellte sie die interessante These in den Raum, ob hier der osteuropäische Raum die Möglichkeit zum Testen von im Westen entwickelten wissenschaftlichen Erkenntnissen hinsichtlich der perfekten Ernährung bot.

In ihren Kommentaren betonten SARA BERNASCONI und ANGELIKA STROBEL (beide Zürich) das besondere Verhältnis von Ärzten und Staat in den angesprochenen Regionen in Bezug auf die Ausgestaltung einer Sozialpolitik und in diesem Zusammenhang die Bedeutung des Ersten Weltkrieges, der eine Katalysatorfunktion für die Entwicklung des Gesundheitssystems in Ost- und Ostmitteleuropa hatte. Das Verhältnis von Gesundheit und Krankheit geriet in dieser Periode in Unordnung, und zudem waren gesundheitspolitische Fragen für die daran anschließenden nation-building-Prozesse von besonderer Relevanz. In diesem Prozess gab es immer wieder Freiräume, die dann unter anderem internationale und ethnische Organisationen füllen konnten.

Die zweite Tageshälfte eröffnete TAMARA SCHEER (Wien) mit einem Vortrag über Militärärzte in der k.u.k.-Armee. Einleitend betonte sie, dass insgesamt wenige Berufsärzte darunter waren. Nicht alle beherrschten die Regimentssprache, wie es eigentlich vorgeschrieben war. Bei den Ärzten wurde die Sprachnorm offenbar nicht so konsequent angewendet wie bei den Offizieren. Scheer problematisierte, dass das Militär Akten aus der Friedenszeit nicht für interessant genug erachtete, um sie aufzubewahren. MAREN RÖGER (Warschau) stellte einen Aspekt aus ihrem Forschungsprojekt zu zivilen und militärischen Prostitutionspolitiken in Europa von 1870-1945 vor, und zwar die Akteure der Prostitutionspolitik und –fürsorge in der polnischen Zwischenkriegszeit. Dabei diskutierte sie die Rolle von westlichen Vorbildern, und die Eingliederung der polnischen Aktivisten und Politiker in einen internationalen politischen Zusammenhang über den Völkerbund. Ebenfalls den polnischen Gebieten widmete sich JUSTYNA TURKOWSKA (Marburg / Mainz). Ihr Untersuchungsfeld waren die Hebammen im preußischen Teilungsgebiet Polens, deren Berufsgruppe Ende des 19. Jahrhunderts eine Selbstprofessionalisierung vollzog. 1909 erließ das Kaiserreich eine zentrale Hebammenpolitik. In dem bereits zuvor, 1885, gegründeten deutschen Hebammenverein waren in der Provinz Posen polnische Frauen zuerst ausgeschlossen. Doch nach und nach kam es zu einer Öffnung, und die polnischen Hebammen beriefen sich auf Erfahrungswerte anderer polnischer Berufsausübender, um sich unter deutscher Herrschaft zu behaupten.

SARA BERNASCONI (Zürich) bemerkte in ihrem Kommentar, dass die Patientenperspektiven über die Quellen schwer zu rekonstruieren sind. Viel versprechender sei es, die Agency der jeweiligen Akteure über die Konflikte im Spannungsfeld zwischen „Staat“ und „Bevölkerung“ zu rekonstruieren. Dabei werde mitunter eine Nähe zwischen der Figur der „Hebamme“ und jener der „Prostituierten“ erkennbar. Sichtbar wurde, dass wir es um 1900 nicht nur mit verstärkten Staatsbildungsprozessen zu tun haben, sondern auch mit der Errichtung eines kapitalistischen Systems.

Im abschließenden Panel, das sich Gesundheitspolitiken im (Spät-)Sozialismus zuwendete, berichtete zuerst ESTHER WAHLEN (Florenz) aus ihrem Dissertationsprojekt zur Drogenpolitik in den sozialistischen Staaten. Sie fokussierte in ihrem Beitrag die tschechoslowakische Politik gegenüber alkoholkranken Frauen sowie ko-abhängigen Frauen. Verstärkt seit den 1960er-Jahren wurden Ehefrauen in Behandlungsprogramme einbezogen. Erst ab den 1970er-Jahren adressierten die Programme selbst abhängige Frauen als Reaktion auf gestiegene Alkoholmissbrauchszahlen und die verstärkte öffentliche Präsenz trinkender Frauen – die tschechoslowakische Politik lag damit in einem globalen Trend. FANNY LE BONHOMME (Rennes / Berlin / Potsdam) widmete sich in ihrem Dissertationsprojekt der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité in Ost-Berlin in den 1960er-Jahren, und schreibt durch dieses Prisma eine Gesellschaftsgeschichte der DDR. In ihrem Vortrag präsentierte sie die besondere Patientengruppe der SED-Parteimitglieder, deren Psychiatrieaufenthalt teilweise durch Parteiausschlüsse oder Rügen hervorgerufen wurden. Le Bonhomme konnte das Erkenntnispotential von mikrohistorischen Zugängen eindrücklich demonstrieren, und betonte den Quellenwert von Psychiatrieakten, um Zugang zu marginalisierten Gruppen zu bekommen. Die letzte Vortragende war ESZTER VARSA (REGENSBURG). Ihr Beitrag behandelte die (Re-)Präsentation von Roma in medizinischen Zeitschriften in Ungarn im Spätsozialismus. In der zeitgenössischen Sprache wurden die Roma nicht als ethnische Gruppe definiert, sondern als „backward social class“, so etwa in einer Parteiresolution von 1961. Erst in den 1980er-Jahren wurden sie dann von politischer Seite als ethnische Gruppe definiert. Varsa machte in den Zeitschriften einen „orientalizing racist discourse“ aus.

ANGELIKA STROBEL (Zürich) betonte in ihrem Kommentar, dass Fragen von Marginalisierungen und Exklusionsprozessen immer auch Fragen des (Nicht-) Sicht- und Sagbaren berühren. So wird Alkoholkrankheit von Frauen erst dann sichtbar, als der Staat sich dem privaten Raum zuwendet, die Patienten aus der SED können erst durch die politische Exklusion und soziale Segregation in der Klinik wieder über Politisches sprechen und das sozialistische Ungarn nur über den Umweg der Gesundheitspolitik Roma als politisches Problem verhandeln.

Der Workshop zeichnete sich insgesamt aus durch intensive Diskussionen, die den engen thematischen Zusammenhang der Forschungsprojekte verdeutlichten. Das nächste Treffen des Netzwerkes fokussiert das Thema ‚Krieg und Krise’, während das Abschlusstreffen 2015 eine Synthese anstrebt, die in mehrere Publikationen münden soll.

Konferenzübersicht:

Vortrag
Nancy M. Wingfield (DeKalb): Battling the 'Venereal Peril' in Habsburg Central Europe during the Great War and After

Panel I: Top-Down-Perspektiven: Staatliche und private Sozialstrukturen: Wohlfahrts- und Fürsorgesysteme
Moderation und Kommentar: Sara Bernasconi (Zürich)

Indira Durakovic (Graz): Frauen und Gesundheitserziehung in Serbien um 1900

Katharina Kreuder-Sonnen (Gießen): The State Institute of Hygiene and Bacteriological State Building in the Second Polish Republic

Maria Zarifi (Patras): The role of the “Medical Committee” (Ιατροσυνέδριον) in controlling, professionalizing and standardizing the medical profession in Greece, 1834-1923

Moderation und Kommentar: Angelika Strobel (Zürich)

Heike Karge (Regensburg): 1900-1930: Eine sozialpolitische Sattelzeit im jugoslawischen Raum?

Friederike Kind-Kovács (Regensburg): The ‘American Red Cross’ and the Distant Suffering of Hungarian Children after WWI

Katrin Steffen (Lüneburg): The Society for the Health Protection of the Jewish People in Poland (TOZ) and its Congress of Doctors in 1928

Panel II: Bottom-Up-Perspektiven: Fürsorgende und ÄrztInnen
Kommentar und Moderation: Sara Bernasconi (Zürich)

Tamara Scheer (Wien): Österreich-Ungarns Militärärzte

Maren Röger (Warschau): Prostituierte zwischen Fürsorge und Kontrolle: Politiken und Institutionen in der polnischen Zwischenkriegszeit

Justyna Turkowska (Marburg / Mainz): Midwives: between professional subordination and empowerment

Kommentar und Moderation: Angelika Strobel (Zürich)

Esther Wahlen (Florenz): Women into alcoholics: women and alcohol treatment during late socialism

Fanny Le Bonhomme (Rennes / Berlin / Potsdam): Enter into the GDR-society through its margins: The ‘patients comrades’ of the psychiatric services of the Charité hospital (1960-1968)

Eszter Varsa (Regensburg): Perspectives on Roma in medical journals in Hungary (1960s-1980s)