Normalität und Medizin. Normen, Normalität und Devianz in der Sozialgeschichte der Medizin

Normalität und Medizin. Normen, Normalität und Devianz in der Sozialgeschichte der Medizin

Organisatoren
Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung
Ort
Stuttgart
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.04.2014 - 11.04.2014
Url der Konferenzwebsite
Von
Ylva Söderfeldt, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Uniklinik der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen

Das diesjährige Stuttgarter Fortbildungsseminar widmete sich dem höchstaktuellen Themenkomplex Normalität und Abweichung. Bereits im Call for Papers hatten die Veranstalter einen breiten Fragenkatalog zur Bedeutung von Normen in der Sozialgeschichte der Medizin ausgebreitet, unter anderem zu den Techniken der Normalitätsproduktion im institutionellen und privaten Bereich, zu Normalität bzw. Abweichung in der Identitätsstiftung und Selbstbeschreibung von Individuen und Gruppen sowie zur Normierung medizinischer Praktiken.

Diese Themen wurden auf dem interdisziplinären Seminar in 14 Vorträgen aufgegriffen. Die Mehrheit der Teilnehmer waren Historiker, aber auch Medizinhistoriker und Literaturwissenschaftler waren vertreten. Periodisch lag der Schwerpunkt, was sich sicherlich auch aus der Wahl des Themas ergab, auf dem „langen“ 19. Jahrhundert, reichte aber in die frühen Neuzeit zurück bzw. bis in die Zeitgeschichte hinein.

In der ersten Sektion wurden „Praktiken der Normalitätsgenerierung“ anhand von drei Fallbeispielen beleuchtet; diese handelten jeweils von Auseinandersetzungen zwischen Medizin, Staat und Individuen. Gezeigt wurde, wie medizinisch definierte Normvorstellungen auf der Graswurzelebene eingefordert und durchgesetzt wurden. MALTE THIESSEN (Oldenburg) wies in seinem Beitrag nach, wie durch Impfkampagnen die Immunität zur Norm erhoben wurde und nicht-konformes Verhalten (Unterlassung der Impfung) mit negativen Eigenschaften bzw. ‚gesellschaftsschädlichem’ Verhalten verbunden wurde. Die Vorträge von ANNE GÜNTHER (Aachen) und MARIE SCHENK (Hamburg) nahmen jeweils eine Art Symbiose zwischen Medizin und Betroffenen bzw. deren Angehörigen in den Blick. Günther wies auf die Allianz zwischen Ärzten, Eltern und Medien in der öffentlichen Darstellung von „Contergan-Kindern“ hin und machte deutlich, wie alle Beteiligten unisono die Normalität der Betroffenen betonten. Eltern von Kindern, die als geistig oder körperlich behindert bzw. entwicklungsverzögert angesehen wurden, spielten auch bei Schenk die Hauptrolle, da sie die Praktiken der humangenetischen Beratung der 1970er- und 1980er-Jahre am Beispiel einer Hamburger Beratungsstelle analysierte. Hier akzeptierten die Eltern eine Diagnose über ihre Kinder als „nicht-normal“, da dies unter anderem eine Entlastung von der elterlichen Schuld, in der Erziehung versagt zu haben, darstellte.

In der zweiten Sektion wurde in den Vorträgen die Herstellung von Normalität im institutionellen Kontext analysiert und dabei besonderes Gewicht auf den Umgang mit Abweichung in Anstalten gelegt. AMÉLIE RICHEUX (Bochum) demonstrierte anhand von den im 19. Jahrhundert in Frankreich populären kriminologischen Falldarstellungen, den causes célèbres, wie unerklärliche Taten durch die Pathologisierung der TäterInnen für die Öffentlichkeit plausibilisiert wurden. SASKIA GEHRMANN und DAJANA NAPIRALLA (beide Halle) stellten in einem gemeinsamen Vortrag zwei „totale Institutionen“ (Goffman) des 18. und 19. Jahrhunderts vor. Im Mittelpunkt stand die Frage, wie sowohl unter einem eher religiösen als auch einem eher psychiatrisch geprägten Menschenbild Krankheit als ganzheitlich verstanden wurde sowie körperliche und seelische Abweichungen miteinander verbunden waren. ANNE GNAUSCH (Berlin) wies in ihrem Vortrag auf die Folgen der Psychiatrisierung des Suizids um 1900 hin und ging auf die großen Herausforderungen, die suizidale Patientinnen in der Psychiatrie darstellten, ein. Auch CHRISTOPH SCHWAMM (Stuttgart) widmete sich in seinem Vortrag der Bedeutung von Normen innerhalb der stationären Psychiatrie. Die männlichen Patienten, so Schwamm, sahen sich in einer konfliktreichen Situation, da die Männlichkeitsnormen dem Verhalten als „guter Patient“ wiedersprachen und ihnen im institutionellen Setting männlichkeitsstiftende Verhaltensweisen untersagt wurden.

Die dritte Sektion unter der Rubrik „Normalität in Selbstproduktionen und -beschreibungen“ begann mit einem Vortrag von EVA SEEMANN (Zürich). Sie präsentierte eine Lesart der Autobiographie des „Hofzwergen“ Joseph Borulawski (1788) vor dem Hintergrund des sozialen und wissenschaftlichen Kontexts Kleinwüchsiger in der frühen Neuzeit. Borulawski, so wurde gezeigt, war einerseits für seinen Lebensunterhalt und gesellschaftlichen Status von der Betonung seiner Andersartigkeit abhängig, unterstrich andererseits aber immer wieder seine Normkonformität in anderen Bereichen die nicht die Körpergröße betrafen, wie z.B. Geschlecht und Stand. TINA WINZEN (Aachen) argumentierte in ihrem Vortrag für die Berücksichtigung biographischer Daten in der Analyse des Werkes Stefan Georges und beleuchtete das Wechselspiel zwischen Mainstream und als abweichend verstandenem, homosexuellem Verhalten. Bei YLVA SÖDERFELDT (Aachen) wurden drei Beispiele von Selbstorganisation als unnormal kategorisierter Menschen (Gehörlosenbewegung, sozialistische Kriegsopferverbände der Weimarer Republik, Patientenvereine) verglichen mit Hinblick auf ihren Umgang mit Normalität. Söderfeldt plädierte in ihrem Vortrag für eine intersektionelle Analyse der Selbstorganisationen, um das Zusammenspiel verschiedener Diskriminierungsformen besser verstehen zu können. DANIEL WALTHER (Stuttgart) zeigte in seinem Vortrag, wie homöopathische Laienvereine gesunde und ungesunde Lebensstile dichotomisierten und präventives, gesundheitsförderndes Verhalten als Norm verstanden.

Die letzte Sektion bot unterschiedliche Perspektiven auf Normalitätsproduktionen in institutionellem Handeln. Dabei ging es um mehr oder weniger staatlich verankerte Programme, die einerseits Norm und Abweichung zu erfassen, andererseits Standards herzustellen versuchten. JÖRN ESCH (Oldenburg) behandelte die (V)Ermessung von Schülern und Rekruten im deutschen Kaiserreich als eine Herstellung von „Wissenswerten“ über den normalen Körper und die unter anderem auch als Teil einer eugenischen Argumentation über die „Entartung“ der Jugend dienten. Im Vortrag von LUKAS LANG (Graz) wurde die Tätigkeit der Medicinalpolicey als überwachende und normproduzierende Instanz anhand von venerischen Krankheiten analysiert, die zur Politisierung von Krankheit und Gesundheit um 1800 beitrug. Der letzte Vortrag von SEBASTIAN WEINERT (Berlin) zeigte wie auf den Gesundheitsausstellungen des frühen 20. Jahrhunderts konkurrierende Vorstellungen über den Körper aufeinandertrafen und dass ihr Ziel, durch Aufklärung disziplinierend zu wirken, angesichts der schwer voraussehbaren Publikumsreaktionen nur bedingt erreicht werden konnte.

Anschließend wurden in einer lebhaften Abschlussdiskussion drei Fragekomplexe diskutiert. Zum ersten wurde nach dem Wechselspiel von Normalität als „what is“ bzw. „what ought to be“ gefragt und überlegt, ob und in welchem Zusammenhang auch von Normalitäten gesprochen werden kann und muss. Es wurde dabei ebenfalls gefragt, wie dehnbar der Begriff der Normalität in der Geschichtswissenschaft sein sollte, das heißt zu welchem Zeitpunkt der Begriff in Geschichte eintrat und ob nicht z. B. in der frühen Neuzeit die Begriffe Norm/Normalität eher Anachronismen darstellen als angemessene Analysekategorien. Zweitens wurde die Frage diskutiert, wie mit dem Unterschied zwischen Be-Schreibung und Zu-Schreibung umgegangen werden soll. Es wurde betont, dass immer gefragt werden muss, wer (das Individuum? Die Gesellschaft? Eine Gruppe?) die Deutungshoheit im spezifischen Kontext hat und wie diese verhandelt wird. So sollte zwischen „ingroup-“ und „outgroup-“ Zuschreibungen getrennt und gerade auch das Spannungsfeld zwischen den beiden zum Forschungsgegenstand gemacht werden. Der dritte Fragenkomplex behandelte die Hierarchisierung des Normalen bzw. Unnormalen. Dabei wurde in Frage gestellt, ob Normalität hierarchisch gedacht werden kann in Form eines Stufen- oder Skalenmodell zwischen unnormal und normal. Stattdessen wurde vorgeschlagen, Normalität als ein Prisma zu denken, in dem ein Individuum bzw. eine Gruppe gleichzeitig normal und abweichend sein kann und je nach Einfallswinkel des Lichts die eine oder andere Seite zum Vorschein kommt.

Das Seminar zeichnete sich durch eine große Diskussionsbereitschaft in der Gruppe aus. Dazu haben nicht zuletzt die fundierten thematischen Anregungen des Organisationsteams (Jens Gründler, Stefanie Coché, Pierre Pfütsch, Carolin Schmitz) beigetragen. Es hat sich erneut gezeigt, dass das „FoBi-Modell“, also ein ausschließlich und in Eigenregie geführter Nachwuchswissenschaftlerworkshop zu einem klar abgegrenzten Thema einen relevanten, offenen und anspruchsvollen fachlichen Austausch erzeugen kann. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren sich einig, dass die zweitägige Veranstaltung zu vielen neuen Erkenntnissen mit hoher Relevanz für die eigenen Forschungsvorhaben geführt hat.

Konferenzübersicht:

Sektion 1 – Praktiken der Normalitätsgenerierung
Moderation: Pierre Pfütsch (Stuttgart)

Malte Thießen (Oldenburg), Immunität als Instrument der Normierung: Impfungen im Spannungsfeld von Seuchenängsten, Sicherheitsbedürfnissen und Schutzmaßnahmen

Anne Helen Günther (Aachen), „Herr Doktor macht Sie wieder normal!“ Normalitätskonstruktionen im Contergan-Fall

Marie Schenk (Hamburg), Behinderung und Normalität. Eine Spurensuche in der humangenetischen Beratungspraxis der 1970er- und 1980er-Jahre der Bundesrepublik

Sektion 2 – Normalitätsherstellung im Umfeld von Psychiatrie und Anstalt
Moderation Carolin Schmitz

Amélie Richeux (Bochum), Kriminalität und Psychiatrisierung. Die Darstellung der kriminellen Devianz in den causes célèbres im Frankreich des 19. Jahrhunderts

Saskia Gehrmann/Dajana Napiralla (Halle), Verwahrlost und Verwahrt? Praktiken der (medizinischen) Normalitätsherstellung bei sozialen Randgruppen am Beispiel der Franckeschen Stiftungen in Halle und der Irrenanstalt Heidelberg im 18. und 19. Jahrhundert

Anne Gnausch (Berlin), Der Suizid als Grenzfall der sozialen und psychiatrischen Ordnung. Die Behandlung von Suizidenten an der Berliner Charité (ca. 1900-1930)

Christoph Schwamm (Stuttgart), Zur Compliance von männlichen Patienten der psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg im Kontext normativ-männlicher Gesundheitsideale 1953–1993

Sektion 3 – Normalität in Selbstproduktionen und –beschreibungen
Moderation: Jens Gründler (Stuttgart)

Eva Seemann (Zürich), "...un homme que la nature semble n’avoir pas pu achever" (Selbst-)Wahrnehmungen eines Kleinwüchsigen im 18. Jahrhundert

Tina Winzen (Aachen), Homosexualität um 1900. Intellektuelle Strategien des Umgangs mit dem Paragraphen 175 am Beispiel des George-Kreises

Ylva Söderfeldt (Aachen), Das Unnormale organisiert sich: Betroffenenorganisationen im Spannungsfeld zwischen Normalitätsanspruch und Recht auf Anders-Sein

Daniel Walther (Stuttgart), Normal oder anormal? Das Verständnis von Gesundheit und Krankheit in homöopathischen Laienvereinen zwischen 1950 und 2000

Sektion 4 – Vermessungen und Aushandlungen von Normalität im institutionellen Rahmen
Moderation: Stefanie Coché (Köln)

Jörn Esch (Oldenburg), „das ist nicht die richtige Jugend, die bei uns heranwächst“ – Das (Er-)Messen von Normalität und Abweichung

Lukas Lang (Graz), Sanktionierte Krankheit. Medicinalpoliceyliches Ordnungshandeln und sexuelle Devianz in Wien um 1800.

Sebastian Weinert (Berlin), Gesundheitsausstellungen als Orte der Aushandlung von „Normalität“