Jewish and Non-Jewish Spaces in the Urban Context

Jewish and Non-Jewish Spaces in the Urban Context

Organisatoren
Institut für Europäische Ethnologie, Humboldt-Universität zu Berlin; Organisatoren: Alina Gromova, Felix Heinert, Sebastian Voigt
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.11.2012 - 06.11.2012
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Von
Mareike Albers, Berlin

Welche Rolle spielt Raum in der Erforschung jüdischer Erfahrung? Welche Schnittstellen und Grenzen ergeben sich, wenn sich Akteure gleichzeitig in mehreren, jüdischen und nicht-jüdischen Räumen bewegen? Wie wirkt sich der urbane Kontext auf die Verräumlichung von Identifizierungen aus? – Ausgehend von der Überlegung, dass jüdische Räume immer erst in Beziehung zu nicht-jüdischen Raumkonstruktionen entstehen, setzte sich die Konferenz „Jewish and Non-Jewish Spaces in the Urban Context“ in sechs Panels mit diesen Fragen auseinander.

So wie die Fremdwahrnehmungen in die Eigenbilder mit einfließen, indem sie kreativ verarbeitet und neuinterpretiert werden, so werden auch jüdische Räume von nicht- oder sogar von anti-jüdischen Raumkonstruktionen mitgeprägt. Besonders in einer urbanen Umgebung, in der viele soziale, kulturelle, religiöse und ethnische Akteure und Gruppen aufeinandertreffen, wird „Jüdischsein“ sowohl durch Kontakt mit als auch durch Abgrenzung zu den anderen Gruppen ausgehandelt. Dass verschiedene Akteure und Gruppen dicht auf einem relativ begrenzten und zugleich symbolisch entgrenzten Gebiet zusammenleben, und dass es ihnen dadurch möglich wird, mehrere Identifizierungen gleichzeitig anzunehmen, lässt sich als Kennzeichen von Urbanität feststellen.

Diese Überlegungen der InitiatorInnen der Konferenz griff WOLFGANG KASCHUBA (Berlin) in seiner Begrüßungsrede auf. Er thematisierte außerdem die „doppelte Ethnographie“ einer Stadt, in der dem Blick auf gegenwärtige Entwicklungen eine ebenso große Bedeutung zukommt wie ihren historischen Räumen.

Der Vortrag von MAŁGORZATA HANZL (Lodz) analysierte die räumlichen Eigenschaften des ehemaligen „jüdischen Viertels“ der Stadt Lodz. Anhand von Fotografien des Viertels aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, auf denen die Straßen, Gebäude und Bewohner zu sehen waren, machte die Referentin auf die Merkmale aufmerksam, die das Viertel als spezifisch jüdisch auswiesen und sellte die These auf, dass die kulturellen Faktoren maßgeblich für die städtische Struktur sind. Bestimmte Charakteristika können ein jüdisches Viertel ausmachen, das sich dadurch von anderen Bezirken einer Stadt unterscheidet, die wiederum von ihren Einwohnern in anderer Weise spezifisch geprägt werden.

CARMI NEIGER (DeKalb, Illinois) näherte sich dem Thema „Jüdische Viertel“ als Geograph und untersuchte in einer Studie den räumlichen Umfang jüdischer Viertel in Cincinnati im Zeitraum 1950 bis 2000. Initiiert wurden seine Untersuchungen durch die fehlende Erforschung des Einflusses jüdischer Einwohner auf geografische Veränderungen in einer Stadt. Wie lassen sich Viertel aber als „jüdisch“ definieren? Da offiziell erhobene Daten dies nicht leisten könnten, müsse man sich die Frage stellen, ob es möglich sei, Grenzen jüdischer Viertel ohne diese Daten zu bestimmen. Bei der Feststellung, in welchen Vierteln einer Stadt Juden leben, in welche Bezirke sie ziehen, so Neiger, könnten verschiedene Indikatoren wie zum Beispiel eindeutig jüdische Nachnamen, Synagogen, jüdische Institutionen und Geschäfte helfen. Wende man dieses System an, schloss er, seien jüdische Viertel auszumachen. Beobachten ließe sich, dass die Konzentration jüdischer Bewohner einer Stadt in bestimmten Bezirken im Laufe der Jahre immer weiter abnehme.

Im Anschluss an dieses Panel wurde diskutiert, ob eine Definition eines städtischen Raumes als „jüdisch“ überhaupt noch zeitgemäß und notwendig sei.

Das zweite Panel eröffnete JOACHIM SCHLÖR (Southampton). In seinem Vortrag ging er der Frage nach, welche Rolle Religion in großen Städten in der Moderne spielt und diskutierte Beispiele von modernen Formen urbaner religiöser Praxen. Sein Blick auf die räumlichen Konstruktionen christlicher, jüdischer und muslimischer Gemeinden in europäischen Großstädten im 19. und 20. Jahrhundert führte zu einer Betrachtung der Eruv als sichtbares Signal religiöser Abgrenzung und der Schwierigkeiten einer solchen Abgrenzung in einem Raum, in dem verschiedene Religionen neben- und miteinander leben.

Der Vortrag von FRANK GOLCZEWSKI (Hamburg) befasste sich mit unterschiedlichen Formen der Ghettoisierung in Osteuropa während des Zweiten Weltkrieges. Der Referent betrachtet das Ghetto als „Jewish Space in an Extreme Context “ - einem jüdischen Raum, der nicht von Juden gewählt und geschaffen ist und sich auf den ersten Blick durch die sichtbare Abgrenzung von den Nichtjuden als „Raum“ darstellt. Deutlicher als durch diese räumliche Abgrenzung wird das Ghetto durch die Regeln und Restriktionen, die das Leben der Ghettobewohner erheblich einschränken, definiert. Somit ist das Ghetto ein Raum, der nicht unbedingt sichtbarer Grenzen, territorialer Zusprüche bedarf, um als solcher wahrgenommen zu werden, sondern der auch ohne Grenzen als „Ideenkonstrukt“ funktionieren könne.

Im Anschluss an die beiden Vorträge werden die unterschiedlichen, positiven und negativen Bedeutungen von Grenzen diskutiert. Stets stellt sich die Frage: Ist der „jüdische Raum“ von Juden oder von „anderen“ geschaffen – und was kann das jeweils bedeuten?

DIANA POPESCU (Southampton) eröffnete Panel 3 mit einer Betrachtung der Eruv und der Grenze (the wall), die die Westbank in israelisches und palästinensisches Gebiet teilt und ihrer Rezeption in der zeitgenössischen Kunst. Anhand einiger beispielhafter Arbeiten israelischer Künstler zeigte sie die Präsenz dieser „Grenzen“ in der jüdischen Kunst der Gegenwart und diskutierte ihre Symbolhaftigkeit. Sie erörterte, dass die Eruv und the wall für unterschiedliche Auffassungen von Raum und vom „Anderen“ stehen und verband diese Feststellung mit einem Blick auf die „complicated story of the Jewish relationship with space“.

Die Darstellung jüdischer Räume in der zeitgenössischen englischsprachigen Literatur – mit diesem Thema setzte sich MARTIN KINDERMANN (Hamburg) auseinander. Am Beispiel des 2006 erschienenen Romans Disobedience von Naomi Alderman untersuchte er die sprachlichen Darstellungen urbanen Raumes im Zusammenhang mit jüdischen Identitätskonstruktionen.

SASKIA COENEN SNYDER (Columbia, South Carolina) eröffnete Panel 4 und erörterte in ihrem Vortrag die Bedeutung und Symbolhaftigkeit von Synagogen in der Stadtlandschaft im Europa des 19. Jahrhunderts. Am Beispiel der Neuen Synagoge in der Oranienstraße in Berlin-Mitte als prachtvollem Bau und deutlich sichtbarem jüdischen Raum in einem nichtjüdisch geprägten städtischen Umfeld, könne man ablesen, so die Referentin, wie sich deutsche Juden im 19. Jahrhundert sahen, wie sie sich darstellten und wie sie gesehen werden wollten. Waren Synagogen in Deutschland lange Zeit bescheidene, unauffällige Gebäude, die in Nebenstraßen oder Hinterhöfen zu finden waren, läutete der Bau großer und prächtiger Synagogen an zentralen Plätzen ab den 1850er-Jahren eine neue Ära jüdischen Lebens in Deutschland ein.

FELIX HEINERTs (Köln) Vortrag führte ins Riga des frühen 20. Jahrhunderts – er befasste sich mit der jüdischen Gemeinde dort zu dieser Zeit und ging der Frage nach, wie und warum bestimmte gesellschaftliche Ereignisse zum Teil des kollektiven Gedächtnisses und allgemeinen Erinnerns wurden, während anderen Ereignissen keine Bedeutung zukommt – und was das über die Stadt Riga und die Juden dort um 1900 sagt.

FRANCOIS GUESNET (London) richtet seinen Blick zum Abschluss des Panels auf das jüdische Warschau im 19. Jahrhundert. Zu dieser Zeit, zwischen 1850 und 1880, wuchs die jüdische Gemeinde Warschaus rasant von knapp 40.000 auf über 120.000 Mitglieder an, was zur Folge hatte, dass man nicht mehr von der jüdischen Gemeinde Warschaus sprechen konnte, sondern eher von Warschau als einer „Jüdischen Metropole“. Guesnet stellte dar, wie die Warschauer Juden zu dieser Zeit ihre nichtjüdische Umgebung wahrnahmen und sich gegen diese verteidigten und wie öffentliche Räume zu „jüdischen“ Räumen wurden.

Panel 5 begann mit einem Vortrag von ALEXANDRA TYROLF (Berlin) über deutschsprachige jüdische Emigrant/innen an der amerikanischen Westküste in den 1930er- und 1940er-Jahren. Los Angeles war in dieser Zeit zum Zentrum für jüdische Flüchtlinge aus Europa geworden, was anhand autobiographischer Werke, Interviews und Auszügen aus der zweiwöchentlich im „Aufbau“ erscheinenden Beilage „Die Westküste“ anschaulich belegt werden kann. In „Open Houses“ und Salons etablierten sich Orte, an denen Flüchtlinge und Amerikaner miteinander in Kontakt kommen konnten, soziale Räume, auf die die Gäste angewiesen waren und an denen sich Verbindungen und Netzwerke bildeten. Auf diese Weise wurden aus den Flüchtlingen Emigranten, die sich darauf einrichteten, in den USA zu bleiben.

Der Beitrag von ANNE-CHRISTIN SAß (Berlin) befasste sich mit der Bedeutung des Berliner „Scheunenviertels“ für die Berliner Juden aus Osteuropa in den Jahren 1900 bis 1933. Am Beispiel dieses geografisch definierten Raumes stellte sie dar, dass öffentliche städtische Räume wie Straßen, Cafes, Restaurants, Läden, Gewerkschaftszentralen und Wohnstätten zu wichtigen Kontaktzonen, „kommunikativen Räumen“ für die Migranten wurden, an denen sie sowohl auf osteuropäische Migranten, aber auch auf Migranten aus anderen Ländern, deutsche Juden und deutsche Nichtjuden trafen und Kontakte knüpften.

Das letzte Panel der Konferenz leitete DANIEL MONTERESCU (Budapest) mit einem Vortrag ein, in dem er zwei Fälle ethno-religiöser Minderheiten – Palästinensische Einwohner der Stadt Jaffa in Israel und Juden in Budapest – unter dem Aspekt untersuchte, wie es gelingen kann, städtischen Raum für sich zu beanspruchen oder sich „zurück zu erobern“. Er konnte unterschiedliche Strategien beobachten, mit denen die untersuchten Gruppen der Konfrontation mit städtischem Wandel, Gentrifizierung und steigenden Mieten begegnen.

MARIA CIESLA (Jerusalem) befasste sich mit der Entwicklung jüdischen Lebensraums im polnisch-litauischen Commonwealth des 17. und 18. Jahrhunderts, in dem Juden 80 Prozent der städtischen Bevölkerung ausmachten. Maria Cieslas untersuchte am Beispiel der Städte Słuck, Nieśwież und Biała - kleine Städte mit bedeutenden jüdischen Gemeinden -, wie Juden ihren Lebensraum und den Alltag mit ihren christlichen Mitbürgern gestalteten und wie sich „jüdischer Raum“ zu dieser Zeit definieren lässt.

Die TeilnehmerInnen hoben in der Abschlussdiskussion den konstruktiven und interdisziplinären Charakter der Konferenz hervor und brachten den Bedarf nach weiterführender Diskussion zum Ausdruck, der der Aktualität und der Relevanz des Themas geschuldet ist. Es wurde festgehalten, dass die Diskussion über den Raum als eine analytische Kategorie sich nicht ausschließlich allein um den Raum drehen kann und soll, sondern notwendigerweise auch die Kategorie Zeit und zahlreiche andere Aspekte berücksichtigen muss, um besonders produktive, innovative und vielseitige Forschungsfragen und -ergebnisse zu erzielen. Ein Sammelband mit Beiträgen der Konferenzteilnehmer und einiger zusätzlicher Experten ist in Planung.

Konferenzübersicht:

Welcoming speech
Director of the Institute of European Ethnology Wolfgang Kaschuba

1. Panel "Jewish Neighbourhoods"

Małgorzata Hanzl: "The Lodz 'Jewish District' – the Urban Structure as a Repository of Social Content" (Technical University of Lodz)

Carmi Neiger: "Identifying Jewish Neighborhoods Using Ethnically-Identified Spatial Assets in Cincinnati, Ohio, 1940-1990" (Northern Illinois University, DeKalb)

Chair: Alina Gromova (Humboldt University, Berlin)

2. Panel "Jewish and Other Topographies"

Frank Golczewski: "A Jewish Space in an Extreme Context? Forms of Ghettoization in Eastern Europe during World War II" (University of Hamburg)

Anna Lipphardt: "Creating Interspaces. A Comparison between Jewish and Traveler Topographies" (University of Freiburg)

Joachim Schlör: "Beyond the Secularisation Paradigm. On the Construction of Urban Spaces through Religious Practice in 19th and 20th Centuries Europe" (University of Southampton)

Chair: Yvonne Kleinmann (University of Leipzig)

3. Panel "Spaces of Narration and Imagination"

Diana Popescu: "Jewish Spaces Between Visible and Invisible Borders: The 'Eruv' and the 'Wall' in Contemporary Artistic Imagination" (University of Southampton)

Martin Kindermann: "Narrative Spaces and the Location of Identity in Contemporary Anglo-Jewish Writing" (University of Hamburg)

Chair: Mirjam Zadoff (Ludwig-Maximilians-University, Munich)

4. Panel "Becoming Metropolitan, (Re-)Imagining Community"

Saskia Coenen Snyder: "Space for Reflection: Synagogue Building in Nineteenth-Century Urban Landscapes" (University of South Carolina, Columbia)

Felix Heinert: "Imagined Community and Beyond. Riga and its Jews around 1900" (University of Cologne)

François Guesnet: "Marking Spaces in the Emerging Metropolis: The Case of 19th Century Warsaw" (University College London)

Chair: Alexis Hofmeister (University of Basel)

5. Panel "Spaces of Interaction"

Alexandra Tyrolf: "(Re)creating Jewish Spaces – German-Speaking Émigrés in Los Angeles of the 1930s and 1940s" (Humboldt University, Berlin)

Anne-Christin Saß: "Berlin 'W' and Scheunenviertel. The Production of Transnational and Transcultural Spaces in the Diaspora 1900-1933" (Free University, Berlin)

Chair: Gertrud Pickhan (Free University, Berlin)

6. Panel "Jews and Their Neighbours" Daniel Monterescu: "Reclaiming the Ghetto? Collective Mobilization and Urban Fragmentation in Jaffa and Budapest" (Central European University, Budapest)

Maria Cieśla: "Jewish Shtetl or Christian Town? The Development of the Jewish Living Space in Small Towns in Polish - Lithuanian Commonwealth in 17th - 18th Century" (Hebrew University, Jerusalem)

Chair: Ruth Leiserowitz (German Historical Institute Warsaw)

Final discussion
Chair: Sebastian Voigt (University of Leipzig)


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