Bewegte Quellen

Organisatoren
Historisches Seminar, Universität Zürich
Ort
Zürich
Land
Switzerland
Vom - Bis
25.04.2012 -
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Von
Dominik Schnetzer, Zürich

Zwanzig Jahre ist es nun her, seit W. J. Thomas Mitchell auf den „pictorial turn“ aufmerksam gemacht hat.1 Zwei Jahre später folgte bekanntermassen Gottfried Boehms „iconic turn“,2 der eine Schriftenflut zu Theorie und Methodik des Bildes in den verschiedenen Disziplinen auslöste. Auch in der Geschichtswissenschaft rückte das Bild in den Fokus, exemplarisch sei hier nur auf Gerhard Pauls „Visual History“ (2006) verwiesen.3

Zwanzig Jahre Wende zum Bild ist eine lange Zeit. Umso erstaunlicher also, dass trotz aller programmatischen Schriften und Veranstaltungen das Bild in Monographien noch wenig Niederschlag gefunden hat. So sind größere Publikationsprojekte, die dem Bild als Quelle einen zentralen und autonomen Stellenwert einräumen nach wie vor spärlich gesät. Dem Ikonischen einen emanzipierten Platz zu geben, heißt eben nicht, Bilder deskriptiv zu behandeln oder illustrativ zu verwenden, sondern diese systematisch einer Analyse zu unterziehen und ihnen damit im Quellenkorpus gebührende Autonomie einzuräumen. Es ist immer noch viel zu tun gegen den visuellen Analphabetismus in der Historikerzunft, wie ihn Peter Burke 2001 diagnostizierte.4

Begrüssenswert sind aus diesem Grund Initiativen wie jene des Historischen Seminars der Universität Zürich, das dieses Jahr mit „Filmspur“ eine Plattform für die historisch-kritische Analyse von audiovisuellem Quellenmaterial lanciert.5 Die an der Universität Zürich durchgeführte Tagung „Workshop: Bewegte Quellen“ kann als Auftakt zu diesem Projekt verstanden werden. Die Plattform soll Hochschulen, Archive und Forschende vernetzen sowie Informationen und Hinweise für den Umgang mit audiovisuellem Gut bereitstellen. Ein wichtiges Desiderat stellte SILVIA BERGER (Zürich) heraus, sie betonte in ihren Begrüßungsworten, wie disparat die Beschaffungssituation für audiovisuelle Quellen in der Schweiz nach wie vor sei.

Daran knüpfte ROLAND COSANDEY (Lausanne) in seiner Keynote über die Rezeption von „Nuit et Brouillard“ (Alain Resnais, F 1955) an. Eine wissenschaftlich sattelfeste Filmografie des schweizerischen Schaffens gebe es bis heute nicht – Hervé Dumonts lückenhafte „Histoire du cinéma suisse“ (1987) bleibe oft als einzige Alternative.6 Bei einem im europäischen Kontext so bedeutenden und verbreiteten Werk wie „Nuit et Brouillard“, ein eigentlicher „Kunstfilm“, wie Cosandey betonte, stellten sich jedoch ganz andere Fragen als jene nach der Beschaffung: Wo wurde der 32-minütige Streifen überall gezeigt? Und wenn er gezeigt wurde, in welcher Fassung? Wie haben die Zeitgenossen/innen darauf reagiert?

Es ist klar, dass solches Suchen nach der Distributions- und Rezeptionsgeschichte unweigerlich eine Ausweitung des Quellenkorpus nach sich zieht. Kinoprogramme, Filmlisten, Inserate und Artikel aus Zeitungen und Zeitschriften sind zu nennen, notabene allesamt über die Schweizer Kantone und ihre Archive verzettelt.

Cosandeys Ausführungen entpuppten sich als Werkstattbericht, der bestens zum Tagungstitel passte: Die detektivische Fahndung nach der Filmspur, die im Westen und Osten anders verlaufen sei. So hätten etwa die Westschweizer eine zensurierte Fassung von Resnais’ Film gesehen, in dem ein abgelichteter französischer Gendarme mit einem Klebstreifen überdeckt, bzw. zensuriert worden war. Cosandey geht davon aus, dass „Nuit et Brouillard“ in den Jahren um 1960 wohl einer der präsentesten Filme in den Köpfen der Schweizer/innen gewesen sei, auch wenn die Spur manchmal nur in der chiffrierten Abwesenheit des Bildes greifbar werde. In einer Anzeige aus dem Jahr des Eichmann-Prozesses 1961 heißt es verheissungsvoll: „Dieses Photo können wir Ihnen des heiklen Themas wegen hier nicht zeigen. Sie sehen alles im Film, Bilder die Sie nie vergessen werden!“

Im ersten Panel kamen zwei Autoren des Sammelbands „Schaufenster Schweiz“ über die dokumentarischen „Gebrauchsfilme“ 1896–1964 zu Wort.7 PIERRE-EMMANUEL JACQUES (Lausanne) stellte mit „L’Année de Vigneronne“ (1940) ein Fallbeispiel aus dem Tourismusfilm vor, in dem traditionalistische Komponenten des Alpenlandes künstlerisch anspruchsvoll ins Bild gesetzt sind. Jacques verortete diese filmischen Artefakte in einem Dispositiv aus Bundesinstitutionen wie etwa der Bahn, Post oder der Verkehrszentrale, die sich im Sinne einer „Bricolage“ am nationalen Selbstbild beteiligt und den Film gleichzeitig als PR-Vehikel genutzt hätten.

Die Filmwissenschafterin ANITA GERTISER (Zürich) bot ebenfalls Einblick in ihre Forschungswerkstatt und plauderte aus dem Nähkästchen, wie sie selbst sagte, in dem sie mit „Contre l’abus du schnaps“ (1929/30) ein auffälliges Stück Lehrfilm thematisierte. Geprägt durch Stilelemente der Russischen Schule und der Deutschen Sachlichkeit will der Streifen nicht so recht in die gängige Vorstellung des didaktischen Films passen. Den Entstehungskontext sowie die Überlieferungs- und Verbreitungsgeschichte zu klären gleiche der Arbeit an einem Puzzle, meinte Gertiser. Gerade der Stummfilm könne schließlich in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen weiterverwendet werden und die Bilder entfalteten so ihre Wirkung auch außerhalb des originären Konstrukts. Aus dem vermeintlichen Erfolg dieser Filmbilder aber gleich einen Kausalzusammenhang zur gewonnen Abstimmung über das neue Alkoholgesetz (1932) abzuleiten, scheint dann doch ein bisschen gewagt.

So aufschlußreich solche Werkstattberichte sind, es war auffällig, dass sich die Quellenkritik der Referierenden vorwiegend auf Materialität und Gebrauchsformen beschränkte. Formale Analysen zu Motiven, Figuren und Objekten oder zu gestalterischen Elementen wie Perspektive, Licht oder Einstellungen blieben unterbehandelt, genauso wie Fragen nach Intertextualität, Serialität oder Diskursivität der Filmbilder. Ausnahmen boten das Referat von Lukas Zürcher und die zweite Keynote von Mariann Sträuli.

Der Historiker LUKAS ZÜRCHER (Zürich) führte eine Quelle aus seiner Dissertation vor, den ersten Beitrag zu Ruanda des Schweizer Staatsfernsehens, der 1964 im Sendeformat „Die Antenne“ ausgestrahlt wurde. Die schweizerische Entwicklungszusammenarbeit war in Ruanda mit der Genossenschaft „Travail, Fidélité, Progrès“ (Trafipro) aktiv, dessen operative Führung 1963 vom Dienst für technische Zusammenarbeit (DftZ) des Bundes übernommen worden war. Der Fernsehbericht konzentrierte sich auf die Persönlichkeit des damaligen Verantwortlichen Rudolf Villiger mit der Frage: Kann ein Einzelner in Ruanda in so kurzer Zeit helfen? Zürcher legte in seiner Analyse dar, dass es sich bei diesem Darstellungsmodus um einen damals verbreiteten Porträtismus handle und dass der Beitrag in einer Serie von Bildern über Ruanda zu betrachten sei, welche die Schweiz der Nachkriegszeit in Analogie zum eigenen Land generiert habe. In dieses Schema passt auch die im Filmbeitrag vorgenommene Beschreibung des damaligen ruandischen Präsidenten Grégoire Kayibanda, der mit Trafipro eng verbunden war. Im Film wurden dem zur Ethnie der Hutu gehörenden Kayibanda wahrhaft schweizerische Charaktereigenschaften zugesprochen. Analytisch interessant sei, dass die Schweiz-Ruanda-Analogie ganz ohne materielle bewegte Bilder auskomme, sondern sich hauptsächlich von den „Bildern im Kopf“ nähre, betonte Zürcher. Für das Tagungspublikum war darüber hinaus aufschlussreich, dass Zürcher auch die für Bild-Diskurse wichtige Grenze des Zeigbaren thematisierte. Im Falle von Ruanda wären das die ethnischen Säuberungen im Süden des Landes im Jahr 1963, die für den Fernsehbeitrag geflissentlich ausgeblendet wurden. In einer Bildanalyse ist das Nichtgezeigte je nach Fragestellung für die Kontextualisierung manchmal aussagekräftiger als das Gezeigte.

Viele Kontextualisierungsbezüge ließ schließlich die Keynote von MARIANN STRÄULI (Zürich/Bologna) zu, die als regelrechtes Bilderfest daherkam, indem die Referentin rund ein Dutzend Filmbeiträge aus der frühen Kinematographie vorführte und gleichzeitig kommentierte. Nicht nur theoretisch war damit zu erfahren, dass die bewegten Bilder aus dem ersten Fünftel des 20. Jahrhunderts immer Teil einer Produktionsserie gewesen seien, welche die Kinobetreiber fertig eingekauft hätten, meistens ohne sie vorher gesehen zu haben. Die Wandlungen dieser Produktionsserien würden Rückschlüsse auf den Publikumsgeschmack sowie auf die brisanten Themen der Zeit ermöglichen, an denen sich die Verleihunternehmen orientiert haben. Sträuli machte bei dem italienischen Streifen „Lea e il gomitolo“ (1913) Interdependenzen zu den explosiven Suffragetten-Protesten aus oder zeigte am Schallplatten-Tonfilm-Beitrag „Schutzmann-Lied“ (1908) mit Verweis auf die Serialität den Humor der wilhelminischen Zeit. Dargelegt wurden mittels intertextuellen sowie intermedialen Analysen auch die Verquickung der verschiedenen Formen und Praxen des massenmedialen Ensembles des frühen 20. Jahrhunderts, in denen sich Bühnenkunst, Kinematografie, Fotografie und Jahrmarktspektakel in einem einzigartig engen Wechselspiel befanden.

Die Inputs von ADRIAN GERBER (Zürich) und MATTHIAS UHLMANN (Zürich) rückten wieder verstärkt den Verwendungskontext ins Licht. Gerber verfolgt in seiner Dissertation das Ziel, politische Auseinandersetzungen im und über Kino anhand einzelner Kommunikationsereignisse zur untersuchen. Dabei gelte es den Begriff der „Kinoöffentlichkeit“ als ein auf das Kino bezogenes Kommunikationssystem zu definieren. Wiederum wurde ein Stummfilmbeispiel vorgeführt, das die Erhängung von 14 libyschen Widerstandskämpfern durch die italienischen Streitkräfte im Jahr 1912 abbildete. Gerber verfolgte nun die Spur dieses (Bild-)Ereignisses unter den Prämissen, dass diese Filme bereits damals international zirkulierten und Krieg ein populäres Thema gewesen sei, nicht nur für Propagandafilme. Implizit wurde eine weitere wichtige Analyseebene angeschnitten: die des Bild-Text-Verhältnisses. Mittels Anführungszeichen („verräterische“ Araber) konnte etwa in Pratexten wie den Bildlegenden sichtbar gemacht werden, dass die italienische Perspektive auf das Ereignis kommunikativ nicht geteilt wurde. Matthias Uhlmann schließlich stützte sich in seinem Fallbeispiel zu der Naturisten-Szene der 1950er-Jahre („So leben Menschen“, CH 1954) vor allem auf Quellen staatlicher Behörden, um der Frage der Zensur nachzugehen.

Wie scheinbar grenzenlos die Herausforderungen für Forschende mit bewegten Bildern sind, wurde spätestens manifest, als FRANÇOIS VALLOTTON (Lausanne) und MOISÉS PRIETO (Zürich) die Tagung in Richtung Fernsehgeschichte öffneten. Vallotton stellte seine Forschungen zum „Journal de l’Europe“ (1963–1968) vor, ein visionäres Fernsehformat, für welches Fernsehteams aus verschiedenen Ländern über verbindende Themen berichteten – etwa über Familienpolitik, Verkehr oder das Gefängnissystem. Herausfordernd sei hier unter anderem, dass ein in der Regel national ausgerichtetes Medium wie das Fernsehen transnational angelegt gewesen sei und somit unter entsprechendem Blickwinkel betrachtet werden müsse. Dass die Entstehungs-, Überlieferungs- und Distributionsbedingungen beim Fernsehen andere Dimensionen haben als beim Kinofilm wurde auch im Beitrag von Moisés Prieto offenkundig. Prieto untersucht für seine Doktorarbeit das massenmediale Spanienbild während der Endphase des Franco-Regimes 1970–1975 und zeigt als Untersuchungsgegenstand einen Tagesschau-Beitrag mit anonymisierten Widerstandskämpfern. Deutlich wurde, dass für die Erforschung der Distributionsgeschichte gutes Bildquellen-Material oft nicht genügt und erst die Metadaten der Archivierung den Rückschluss zulassen, in welcher Version und Fassung ein verzeichneter Fernsehbeitrag am Ausstrahlungstag übertragen wurde.

Die gut besuchte Tagung darf für sich in Anspruch nehmen, dass sie aufzeigen konnte, wie wichtig die Vernetzung im Bereich der Bildforschung ist. Auf inhaltlicher Ebene sind hier die vernetzten Texte, Bilder und Medien zu nennen, welche Forschende stets im Auge behalten müssen. Im Disziplinären konnte die Tagung daran gemahnen, was Geschichts- und Filmwissenschaften aber auch andere Fachbereiche von einander lernen können und müssen. Und schließlich brachte der Tag Personen aus diesen unterschiedlichen Bereichen zusammen sowie auch Institutionen: Bezeichnenderweise schloß „Filmspur“ nicht mit Referaten aus der Forschung, sondern mit thematischen Appetitmachern aus dem Bereich der archivalischen Erschließung und Erhaltung.8

Konferenzübersicht:

Moderation:

Wolfgang Fuhrmann (Zürich) / Felix Rauh (Luzern) / Thomas Schärer (Basel)

Begrüssung: Silvia Berger (Zürich)

Keynote 1: Roland Cosandey (Lausanne): Nuit et Brouillard (A. Resnais, 1955) en Suisse – histoire d’une diffusion

PANEL I: Gebrauchsfilme

Anita Gertiser (Zürich) / Pierre-Emmanuel Jaques (Lausanne): Für die Bahn und gegen Alkohol: Gebrauchsfilm in der Schweiz

Keynote 2: Mariann Sträuli (Bologna/Zürich): Im Licht der Leinwand besehen. Aufführungspraxis, Produktionsserien und Publikum um 1900–1910

PANEL II: Filme im Konflikt

Adrian Gerber (Zürich) / Matthias Uhlmann (Zürich) / Lukas Zürcher (Zürich): Propaganda, Zensur und Genozid

PANEL III: Politische Fernsehgefässe

François Vallotton (Lausanne) / Moisés Prieto (Zürich): Journal de l’Europe und die Tagesschau

PANEL IV: Archive

Stefan Länzlinger (Zürich) / Laurent Baumann (Bern): Archivzugang

Anmerkungen:
1 W. J. Thomas Mitchell, The Pictorial Turn, in: Artforum 30 (1992), S. 89–94.
2 Gottfried Boehm, Die Wiederkehr der Bilder, in: ders. (Hrsg.), Was ist ein Bild?, München 1994, S. 11–38.
3 Gerhard Paul, Von der Historischen Bildkunde zur Visual History. Eine Einführung, Göttingen 2006.
4 Peter Burke, Augenzeugenschaft. Bilder als historische Quellen, Berlin 2003, S. 10.
5 Plattform Filmspur. Audiovisuelle Quellen in Geschichte und Gesellschaft, <http://filmspur.ch/> (25.04.2012).
6 Hervé Dumont, Geschichte des Schweizer Films. Spielfilme 1896–1965, Lausanne 1987.
7 Yvonne Zimmermann (Hrsg.), Schaufenster Schweiz. Dokumentarische Gebrauchsfilme 1896–1964, Zürich 2011.
8 Die Referate der Tagungs sind dokumentiert und als Videomitschnitte verfügbar unter <http://filmspur.ch/filmspur.ch/start.html> (02.07.2012).


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