Sozialgeschichte der Medizin: Bilanz und Perspektiven

Sozialgeschichte der Medizin: Bilanz und Perspektiven

Organisatoren
Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Stuttgart
Ort
Stuttgart
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.09.2014 - 20.09.2014
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Von
Pierre Pfütsch, Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung

Anlässlich des 60. Geburtstages von Robert Jütte fand vom 19.09.2014 bis 20.09.2014 in den Räumen der Robert Bosch Stiftung die vom Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung organisierte Tagung „Sozialgeschichte der Medizin: Bilanz und Perspektiven“ statt.

Nach der Eröffnung der Tagung durch MARTIN DINGES (Stuttgart), der in seinen einführenden Worten insbesondere Jüttes Fähigkeit hervorhob, Geschichtswissenschaft nicht nur für den Elfenbeinturm zu praktizieren, sprach HAROLD COOK (Providence) zunächst über generelle Aspekte der Sozialgeschichte der Medizin, wie beispielsweise die Betrachtung der intersektionalen Kategorien class, race und gender in der Medizingeschichte. Davon ausgehend forderte Cook, bei der historischen Betrachtung der scientific revolution nicht nur die Bedeutung einzelner Philosophen zu untersuchen, sondern auch gezielt auf die Auswirkungen auf die Bevölkerung zu achten. Durch eine andere Betrachtungsweise könnten sich demnach auch vermeintlich feststehende Ergebnisse ändern.

Anlässlich der 200 Jahr-Feier der medizinischen Fakultät der Universität Oslo erinnerte ØIVIND LARSEN (Oslo) an deren Gründungsgeschichte und zeigte dabei auch allgemeine Entwicklungen der Medizin auf. Da zum Beispiel die strikte Trennung vom akademisch gelehrten Ärztestand und den handwerklich ausgebildeten Chirurgen Anfang/Mitte des 19. Jahrhunderts als veraltet erschien, wurde in Adaption der Vorbilder aus Wien und Kopenhagen in Oslo erstmalig die Chirurgenausbildung in die medizinische Fakultät einer Universität integriert. Larsen skizzierte die Geschichte der medizinischen Fakultät der Universität Oslo, die durch den Ab-, Um- und Ausbau von Fächern auch die Entwicklung der Medizin in Norwegen widerspiegele.

Auch der Schwerpunkt des Beitrages von CHRISTINA VANJA (Kassel) lag im 19. Jahrhundert. Vanja konnte durch die Analyse unter anderem von Broschüren, Zeitschriften und Postkarten zeigen, welchen hohen Stellenwert Sport in Heilanstalten um 1900 besaß. So stand Sport in seinen vielfältigen Ausprägungen vom Spazieren über das Turnen bis hin zum Kegeln fast immer auf dem Tagesprogramm. Das Sportangebot der Heilanstalten richtete sich nach dem Gusto der allgemeinen Bevölkerung und so ging man auch schnell dazu über, neue Sportarten wie Tennis, Golf oder auch Krocket in den Anstaltsalltag zu integrieren. Zudem zeigte Vanja die Bedeutung der Kategorien Geschlecht und Stand bei der Analyse des Sportverhaltens auf und eröffnete so den Blick auf Perspektiven für eine Sozialgeschichte des Sports in Heilanstalten.

CLAUDIA STEIN (Warwick) setzte sich in ihrem Beitrag dezidiert mit dem Gesundheitsplakat als mögliche Quelle für die Sozialgeschichte der Medizin auseinander und plädierte trotz des schwierigen Zugangs zu dieser Quellenart für eine stärkere Auseinandersetzung mit ihr. Sie schlug vor, anhand von Skandalen, die bestimmte Plakate auslösten, ethisch-moralische Vorstellungen einer Gesellschaft zu analysieren. Durch das Verbot eines 1901 in München angeschlagenen Plakats eines chemischen Labors mit Werbung für dessen Dienstleistungen konnte Stein zeigen, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Deutschen Reich starke kapitalismuskritische Tendenzen in der Bevölkerung vorherrschten.

Ähnlich wie Stein verwies auch WOLFGANG U. ECKART (Heidelberg) auf eine neue Quellengattung, die es lohne, aus medizingeschichtlicher Perspektive näher zu untersuchen. Eckart betonte, dass der deutsche Märchenschatz bis jetzt vor allem aus einer psychoanalytischen Perspektive analysiert worden sei, dies aber wohl in vielen Fällen zu kurz greife. Anhand von Beispielen für unerfüllten Kinderwunsch, „Kleinwüchsigkeit“ und „Siebenmonatskindern“ in den Grimmschen Märchen zeigte Eckart, welch vielfältige Anknüpfungspunkte es für die Medizingeschichte gibt.

KLAUS BERGDOLT (Köln) zeichnete anhand von Bildern, Bauwerken und anderen Kunstgegenständen die Entwicklung der Pest in Europa nach und zeigte damit die Auswirkungen eines medizinischen Phänomens auf die Entwicklung der Kunst. Wie zuvor schon Stein und Eckart machte auch er damit deutlich, welch vielfältige Quellen der Medizingeschichte zur Verfügung stehen. Bergdolt zufolge lasse sich an der Darstellung vor allem junger Menschen als Pestopfer die als besonders grausam wahrgenommene Plötzlichkeit der Pest zeigen, da sie nicht nur die Alten und Schwachen, sondern auch die Jungen und Gesunden einer Gesellschaft befiel.

Die Sektion zur Pflegeschichte wurde durch ANJA FABER (Heidelberg) eröffnet, die anhand von Beschwerden, Personalakten, Briefen, Verträgen und Tagebüchern den Pflegealltag des Personals in Krankenhäusern zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschrieb. Insbesondere durch Analyse der Beschwerdeschreiben konnte Faber verdeutlichen, dass in konfessionellen und in nicht konfessionellen Einrichtungen ähnliche Spannungsverhältnisse herrschten.

Bevor ASTRID STÖLZLE (Worms) über die hohe Bedeutung des Kriegstagebuchs Rosa Bendits referierte, welches das bislang einzig erhaltene Tagebuch einer jüdischen Krankenschwester im Ersten Weltkrieg ist, sprach NICOLE SCHWEIG (Hamburg) über die Organisation der Pflege in den ehemaligen deutschen Kolonien Afrikas. Anhand des Beispiels der deutschen Krankenschwester Margarete Heldt konnte Schweig die oftmals schwierigen Beziehungen zwischen Schwestern und Ärzten, zwischen Schwestern und der europäischen Bevölkerung, aber auch unter den Krankenschwestern selbst belegen. Stölzle, die sich in ihrem Vortrag auf den konfessionellen Hintergrund Rosa Bendits konzentrierte, stellte die These auf, dass das jüdische Zusammengehörigkeitsgefühl für Bendit einen höheren Stellenwert hatte als regionale und nationale Prägungen.

Auch im Beitrag von NINA GRABE (Göttingen) stand der Zusammenhang zwischen Pflege und Judentum im Zentrum des Interesses. Grabe zeichnete die Entwicklung des jüdischen Altersheims Hannover in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik nach. Das Haus wurde 1953 gegründet und vor allem von liberalen Juden bewohnt. Das führte dazu, dass keine koschere Kost angeboten wurde und sogar eine christliche Schwester im Heim arbeitete, weil sich keine Jüdin fand. Durch den vermehrten Zuzug streng gläubiger, orthodoxer Juden aus Osteuropa in den 1960er-Jahren entwickelte sich das Altersheim zu einem Ort, an dem die jüdische Religion nach strengen Regeln praktiziert wurde.

ULRIKE GAIDA (Berlin) stellte zum Abschluss der Sektion ein Oral-History-Projekt zur Krankenpflege in der DDR vor, welches auf 43 leitfragengestützten Interviews basiert. Im Laufe ihres Beitrags verwies Gaida auf ein schriftliches Ego-Dokument einer Krankenpflegerin aus dem Ersten Weltkrieg, auf welches sie bei Recherchen stieß. Indem Gaida bei der Interpretation dieser Quelle auf das angespannte Verhältnis zwischen Ärzten und Pflegerinnen einging, schloss sie thematisch an die Ausführungen von Faber, Schweig und auch Stölzle an.

MARION BASCHIN (Stuttgart) eröffnete mit ihrem Vortrag zur Behandlung von Zahnschmerzen aus homöopathiegeschichtlicher Perspektive die Sektion zur Homöopathie und den alternativen Heilweisen. Anhand von über 14.000 Krankenjournalen des Homöopathen Clemens Maria Franz von Bönninghausen (1785–1864), die in standardisierter Form vorliegen, konnte Baschin die Patientenstruktur detailliert aufzeigen. Während im Gesamtsample vorwiegend Frauen, Personen zwischen 21 und 30 Jahren und vermehrt Personen aus der Unterschicht zu den Patienten der Praxis zählten, stammten die Patienten, die sich speziell an den Zähnen behandeln ließen vorwiegend aus der Oberschicht. Ausgehend von diesem Analyseergebnis wurde in der Diskussion gemutmaßt, dass sich dieses Ergebnis wohl vor allem darauf zurückführen lasse, dass sich in Fragen der Zahngesundheit im 19. Jahrhundert allgemein fast nur Personen aus der Oberschicht behandeln ließen.

PHILIPP EISELE (Stuttgart) setzte sich in seinem Vortrag näher mit der Rolle homöopathischer Ärzte im Ersten Weltkrieg auseinander. Eisele, dessen Analyse sich vorrangig auf die Auswertung von Selbstzeugnissen von kriegsteilnehmenden Homöopathen stützte, verdeutlichte insbesondere das Spannungsfeld zwischen Schulmedizin und Homöopathie an der Front. Die Homöopathen wünschten sich zwar eine Integration ihrer Heilweise in die Kriegsmedizin, doch der Großteil der Homöopathen an der Front sah anhand der riesigen Zahl an Kriegsverwundeten die Lage pragmatisch und handelte auch nach den Methoden der Schulmedizin.

Zeitlich an Eisele anknüpfend referierte MELANIE RUFF (Wien) in der Sektion Patientengeschichte über Gesichtsverletzungen im Ersten Weltkrieg. Ruff legte dar, dass sich im zeitgenössischen Diskurs zum Thema Gesichtsverletzungen zwei Narrative herausgebildet hatten: Im medizinischen Fachdiskurs versinnbildlichten die rekonstruierten Gesichtsverletzungen eine Art Erfolgsgeschichte der kosmetischen Chirurgie, im gesellschaftlichen Diskurs galten die gesichtsverletzten Männer hingegen als allgegenwärtige Beispiele für die Schrecken des Krieges.

Ausgehend von der Feststellung über die besondere Bedeutung von Wahrnehmungsorganen für jemanden, dessen Sinne eingeschränkt sind, sprach YLVA SÖDERFELDT (Aachen) im Anschluss über die Frage, wer unglücklicher sei, der Blinde oder der Taubstumme? Auf der Basis von Quellen zum Thema Glück/Unglück von Taubstummen und Blinden aus dem 19. Jahrhundert skizzierte Söderfeldt einen Wandel des Glückbegriffes und ging der Frage nach, welche Fähigkeiten für die Glückseligkeit entscheidend seien.

KARIN STUKENBROCK (Halle) berichtete in der Sektion zur Körper- und Bildungsgeschichte über die Ausstellung „Der Medizinball. Grenzgänger zwischen Sport, Medizin und Politik“, die als Gemeinschaftsprojekt der Zweigbibliotheken Medizin der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt und dem Deutschen Medizinhistorischen Museum Ingolstadt konzipiert wurde. Stukenbrock zufolge hatte der Medizinball seine Hochzeit in Deutschland in den 1920er- und 1930er-Jahren. Mit dem Verweis auf geschlechterspezifische Trainingsziele – Männer sollten Kraft aufbauen und die Ausdauer trainieren, Frauen hingegen ihre Attraktivität steigern – zeigte Stukenbrock auch erste Perspektiven zur Untersuchung des Gegenstandes aus einer sozialgeschichtlichen Perspektive auf.

ANJA WALLER (Stuttgart) ging in ihrem Beitrag näher auf die Geschichte des jüdischen Lehrhauses in Stuttgart ein, welches 1926 nach Vorbild des berühmten Frankfurter Lehrhauses gegründet wurde. In der ersten Phase von 1926 bis 1933 lagen die Hauptaktivitäten in der Durchführung von Hebräisch-Kursen, Kursen zu Religion und Kultur und Vorträgen von prominenten Vertretern des zeitgenössischen Judentums. In der zweiten Phase von 1933 bis 1938 änderte sich nach Waller die Ausrichtung des Lehrhauses aufgrund der nationalsozialistischen Gefahren radikal. Insbesondere die Durchführung von Kursen zum geistigen Widerstand zeige, dass es jedoch innerhalb der Einrichtung keinen Rückzug ins Private gegeben habe, sondern vielmehr eine aktive Auseinandersetzung mit den neuen Rahmenbedingungen.

In der Sektion zur Zeitgeschichte sprach zunächst THOMAS GERST (Köln) über den deutschen Ärztegerichtshof und dessen Rolle als Berufungsinstanz zwischen 1939 und 1944. Anhand der Auswertung der Gerichtsurteile des Ärztegerichtshofes stellte Gerst die These auf, dass die Berufungsinstanz gegenüber der regionalen Gerichtsbarkeit viele Vergehen als minderschwer bewertete und daher geordneter und weniger willkürlich handelte. Zur Überprüfung dieser These müssen aber nach Gerst dringend auch die Bezirksgerichtsurteile analysiert werden, denn es erscheint sehr unwahrscheinlich, dass sich regimekritische Ärzte nach einer Verurteilung noch an ein Berufungsgericht gewandt haben.

Zum Abschluss der Tagung sprach THOMAS FALTIN (Stuttgart) über die Einrichtung einer Gedenkstätte in der ehemaligen Gestapo-Zentrale von Württemberg und Hohenzollern im Hotel Silber in Stuttgart. Mit seinem Vortrag über die Einrichtung einer Gedenkstätte und die Möglichkeiten der Vermittlung von Geschichte an ein breites Publikum spannte Faltin einen Bogen zum Beginn der Tagung und zeigte an einem praktischen Beispiel die große Relevanz von Robert Jüttes Forderung, Geschichte nicht nur als Gegenstand der Geschichtswissenschaft zu betrachten.

Die Tagung zeigte nicht nur, welche wichtige Forschungsarbeiten in den letzten Jahren zur Sozialgeschichte der Medizin geleistet wurden, sondern auch, welche Möglichkeiten für eine Weiterentwicklung der Teildisziplin noch offenstehen und wurde damit ihrem Anspruch voll gerecht. Insbesondere die Verweise auf die vielfältigen Quellenbestände lassen auf eine stetige Weiterentwicklung der Sozialgeschichte der Medizin in kommender Zeit hoffen.

Konferenzübersicht:

Harold Cook (Providence), The Implications of the Social History of Medicine for Understanding the Scientific Revolution

Øivind Larsen (Oslo), Zwischen Akademie und Ärzteberuf: Die Errichtung einer medizinischen Fakultät in Norwegen im 19. Jahrhundert

Christina Vanja (Kassel), Sport in Heilanstalten um 1900

Claudia Stein (Warwick), Jenseits der „Körpergeschichte“: Das Schauspiel der Hygiene

Wolfgang U. Eckart (Heidelberg), Siebene auf einen Streich, Zaubertrank und alter Käse – Krankheit, Gesundheit und Magie im deutschen Märchenschatz

Festvortrag
Klaus Bergdolt (Köln), Die Pest in Europa

Sektion 1: Pflegegeschichte
Moderation: Sylvelyn Hähner-Rombach (Stuttgart)

Anja Faber (Heidelberg), Pflegealltag im Krankenhaus Anfang des 20. Jahrhunderts

Nicole Schweig (Hamburg), Pflege in den ehemaligen deutschen Kolonien Afrikas

Astrid Stölzle (Worms), Die jüdische Kriegskrankenschwester Rosa Bendit im Ersten Weltkrieg

Nina Grabe (Göttingen), Das jüdische Altersheim Hannover nach 1945

Ulrike Gaida (Berlin), Krankenpflege in der DDR. Vorstellung eines Oral-History-Projektes

Sektion 2: Homöopathie und alternative Heilweisen
Moderation: Martin Dinges (Stuttgart)

Marion Baschin (Stuttgart), „Da mir Zahnschmerz unausstehlich ist“. Ein homöopathiegeschichtlicher Beitrag zur Patientengeschichte der Zahnmedizin

Philipp Eisele (Stuttgart), Die Homöopathie im Ersten Weltkrieg. Homöopathische Ärzte und Laien an der Front und in der Heimat

Sektion 3: Patientengeschichte
Moderation: Ole Fischer

Melanie Ruff (Wien), Gesichtsverletzungen im Ersten Weltkrieg

Ylva Söderfeldt (Aachen), Der Sinn des Glücks oder: Wer ist unglücklicher, der Bline oder der Taubstumme?

Sektion 4: Körper- und Bildungsgeschichte
Moderation: Jens Gründler

Karin Stukenbrock (Halle), Der Medizinball. Grenzgänger zwischen Sport, Medizin und Politik. Bericht über ein Ausstellungsprojekt

Anja Waller (Stuttgart), Zwischen Rückbesinnung, Dialog und Widerstand – Das Jüdische Lehrhaus in Stuttgart

Sektion 5: Zeitgeschichte
Moderation: Jens Gründler

Thomas Gerst (Köln), Der deutsche Ärztegerichtshof und seine Urteile in den Jahren 1939-1944

Thomas Faltin (Stuttgart), Die Gedenkstätte im Hotel Silber – Zankapfel zwischen Politik und Bürgertum


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