M. Z. Galindo: Intellektuelle und Demokratisierungsprozesse in Mexiko

Cover
Titel
Der Preis der Macht. Intellektuelle und Demokratisierungsprozesse in Mexiko 1968-2000


Autor(en)
Zapata Galindo, Martha
Reihe
Fragmentierte Moderne in Lateinamerika 2
Anzahl Seiten
339 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Stefania Maffeis, Berlin

Ob die Intellektuellen jene ‚paradoxen Wesen’ (Bourdieu) sind, die auf Grund einer spezifischen, in ihrem besonderen kulturellen Feld akkumulierten Autorität im politischen Geschehen einwirken können, wird am Beispiel der mexikanischen Gesellschaft von Martha Zapata Galindo analytisch und empirisch sorgfältig nachgeprüft. In dieser Studie entwickelt sie die Frage nach der Beziehung zwischen kulturellen Positionen und politischen Positionierungen in Mexiko.

Die Genese und Entwicklung des intellektuellen Feldes Mexikos wird in drei historischen Phasen dargestellt. In einer ersten nachrevolutionären Phase von 1930 bis 1970 erlebt das wissenschaftliche bzw. kulturelle Feld eine spontane Expansionsphase und wird hauptsächlich durch politische feldexterne Interventionen reguliert. Von 1970 bis 1989 werden als Folge der 1968er Bewegung autonome Handlungsräume und neue Bildungsinstitutionen geschaffen, die jedoch als Resultat einer politischen Kooptations- und Kontrollstrategie über die kulturellen ProduzentInnen gedeutet werden können. In der letzten Phase von 1989 bis 2000, von der Regierung Salinas über den Aufstand der indigenen Bevölkerung in Chiapas bis hin zum Machtverlust der Partido Revolicionario Institucional (PRI) 2000, stellt sich die Frage nach der Beziehung zwischen der Autonomisierung des intellektuellen Feldes und dem gesellschaftspolitischen Demokratisierungsprozess.

Das Buch ist in drei Teile strukturiert. Nach einer ersten historischen Einführung in die Geschichte Mexikos rekonstruiert der erste Teil die Institutionalisierung und Professionalisierung der Human- und Sozialwissenschaften in Mexiko. Teil II beschreibt die symbolischen Kämpfe der Intellektuellen in Bezug auf die Studentenbewegung von 1968. Insbesondere wird die Bedeutung dieses politischen Ereignisses für die Autonomisierung des kulturellen Feldes untersucht. Im dritten Teil werden die politischen Interventionen der Intellektuellen in den 1980er und 1990er Jahren, ihre Beziehung zur
politischen Arena und zur zapatistischen Bewegung rekonstruiert.

Das empirische Material der Studie besteht nicht nur aus den politischen Interventionen der Intellektuellen, sondern vor allem aus einer Datenbank, die die Verfasserin mit Angaben über Biographien und Schriften von 500 Intellektuellen erstellt hat und die im Anhang erläutert wird.

Theoretisch und methodologisch stützt sich die Untersuchung auf das Feldkonzept des französischen Soziologen Pierre Bourdieus und auf den diskursanalytischen Ansatz Michel Foucaults. Die Diskursanalyse wird als Ergänzung des handlungstheoretischen Ansatzes Bourdieus verwendet und ermöglicht es, die diskursive Praxis der Intellektuellen systematisch zu analysieren. Dank des Konstrukts des Feldes gelingt es der Verfasserin, die Beziehung zwischen Intellektuellen und der politischen Macht in ihrer Komplexität zugänglich zu machen. Das intellektuelle Feld wird als Zusammenhang objektiver, gegenüberstehender Positionen rekonstruiert, die von den verschiedenen sozialen AkteurInnen oder Gruppierungen besetzt werden. Die Positionen im Feld resultieren aus der bestimmten quantitativen Akkumulation verschiedener, nicht nur ökonomischer Kapital-Sorten. Soziales und politisches Kapital wird das Verfügen über gesellschaftliche Relationen und politische Vernetzungen genannt. Das kulturelle Kapital bezeichnet den Besitz von Wissenskompetenzen, die sich anhand von z.B. Bildungstiteln messen lassen. Das symbolische Kapital verweist auf die Macht der Benennung und Festlegung von Klassifikations- und Wahrnehmungsschemata über die soziale Welt. Nicht nur die Positionen der AkteurInnen im Feld, sondern auch die relativen Positionen zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Feldern werden anhand der hierarchischen Verteilung der verschiedenen Kapitalsorten bestimmt. Das intellektuelle Feld wird als Subfeld des politischen betrachtet, so dass die Positionen der Intellektuellen im kulturellen und ihre Positionierungen im politischen Geschehen in homologe Relation gestellt werden.

Es ist ein großes Verdienst der Verfasserin, die von Bourdieu auf französische Verhältnisse hin entwickelten Begriffe in die mexikanische Realität übersetzt zu haben. Im kulturellen Feld Mexikos herrscht das politische und nicht das kulturelle Kapital, so dass die Positionierungen im kulturellen Feld über den Besitz an politischen Ressourcen und Zugehörigkeiten bestimmt werden. Die Frage des Autonomiegrads des kulturellen, bzw. akademischen Feldes gegenüber dem Politischen wird somit zur zentralen Fragestellung der Untersuchung.

Das intellektuelle Feld Mexikos und seine ambivalente Beziehung zur politischen Macht werden im ersten Teil strukturell rekonstruiert. Die Verfasserin geht hier von einer „hybriden Formation“ (S. 58 f.) des intellektuellen Feldes aus, das zwischen wissenschaftlichen und politischen Instanzen, zwischen intellektuellem Prestige einerseits und Macht über wissenschaftliche Produktions- sowie Reproduktionsmittel andererseits charakterisiert ist.

In der ersten Expansionsphase des intellektuellen Feldes (1930-1970) werden neue Fakultäten und Spezialisierungen gebildet, die vom Staat direkt reguliert werden. Der Studentenbewegung von 1968 und ihrer militärischen Niederschlagung folgt ein politischer Aktivismus im Bildungsbereich. In der zweiten historischen Phase (1970-1989) monopolisieren die Universität UNAM und das Colegio de Méxiko (COLMEX) das akademische Feld weiter, es werden jedoch neue Bildungseinrichtungen gegründet, die Studiengänge erweitert, mehr Lehrkräfte angestellt und neue post-graduierte Programme eingeführt. Trotz Professionalisierung der Wissenschaft bleiben die Inhalte vom politischen Nationalprojekt stark beeinflusst. Am Beispiel des Faches Geschichte wird verdeutlicht, inwiefern die Forschungsprogramme von außerwissenschaftlichen Faktoren abhängen. Das Thema der mexikanischen Revolution etabliert sich als dominantes Thema der Geschichtswissenschaften, deren Funktion sich auf die Vermittlung des staatlichen Projektes einer Inszenierung und Konstruktion der Nation beschränkt. Die dritte Entwicklungsphase des Feldes (1989-2000) charakterisierte sich durch die Modernisierung der Erziehung, die Gründung des Koordinierungsinstituts Consejo National para la Cultura y el Arte (CONACULTA). Durch neoliberale Umstrukturierung zog sich der Staat aus der Bildungspolitik zurück, behielt jedoch die politische Kontrolle über ihre Rahmenbedingungen (S. 86 ff.).

In diesen institutionellen Kontext werden die symbolischen und politisch-sozialen Ressourcen sowie die geschlechtsspezifischen Positionen der sozialen AkteurInnen gestellt und analysiert. Daraus resultiert, dass das politische Kapital eine wesentliche Funktion für die Akkumulation symbolischen Kapitals besaß. Die Relevanz des politischen Kapitals variiert jedoch je nach Autonomiegrad des intellektuellen Feldes, so dass ab Ende der 1980er Jahre das symbolische Prestige an Bedeutung gewann.

Die symbolischen Kämpfe der Intellektuellen, insbesondere ihre Interventionen zur Studentenbewegung von 1968 bilden das Untersuchungsobjekt des zweiten Teils. Die Verfasserin betrachtet die verschiedenen intellektuellen Gruppen, die in den 1960er Jahren in Zusammenhang mit Zeitschriften und universitären Einrichtungen entstanden, wie z.B. Hiperion, Nexos und La cultura en Mexiko. Ihre zentrale These ist, dass die Intellektuellen sich in Folge der Repression der Studentenbewegung von dem nationalistischen Projekt des Staates distanzierten und neue politische sowie diskursive Strategien entwickelten, um eine relative Autonomie des intellektuellen Feldes zu erreichen.

1968 waren die Intellektuellen nicht die direkten Protagonisten der Bewegung, jedoch unterstützten oder kritisierten sie in verschiedenen Manifesten die StudentInnen. Ihre politischen Positionierungen hingen sehr stark von ihren Positionen im intellektuellen und politischen Feld ab. Es wurden Interventionen aus der Perspektive der Herrschenden geschrieben, wie z.B. von Gonzales Casanova oder Victor Flores Olea. Andere Intellektuelle sprachen aus der heterodoxen Position der Stundentenbewegung heraus, wie u.a. Juan García Ponce, Rosario Castellano, Carlos Monsiváis. Die brutale Niederschlagung der Studentenbewegung auf dem Platz der drei Kulturen am 2. Oktober 1968 markierte einen Wendepunkt im kulturellen Leben Mexikos. Die Mehrheit der prominenten Intellektuellen, wie Octavio Paz und Carlos Fuentes, solidarisierten sich mit der Bewegung und distanzierten sich von der Regierung. Einige von ihnen wurden verhaftet, eingeschüchtert oder öffentlich angegriffen. „Die bis dahin dominierende symbiotische Beziehung zwischen den Intellektuellen und dem Staat begann zu bröckeln“ (S. 143). Einige Intellektuelle schlossen sich dem Guerrillakampf in Oaxaca, Chiapas und Guerrero an, andere unterstützten die sozialen Bewegungen, andere wiederum wandten sich der angeblich ‚demokratischen Öffnung’ von Präsident Encheverría zu. Die von ihm eingeleitete Umstrukturierung des intellektuellen Feldes etablierte eine Scheinautonomie der kulturellen Institutionen gegenüber dem Politischen durch gleichzeitige Entfaltung neuer Kontrollmechanismen über die kulturelle Produktion. Die Intellektuellen blieben inhaltlich an das nationale Projekt einer nationalen Kultur gebunden. Sie positionierten sich innerhalb dieses legitimen Diskurses einer Kulturnation und nutzten ihn für verschiedene Zwecke. So konnten einige Intellektuelle innerhalb der legitimen Diskursgrenze unabhängige und alternative Positionen entwickeln, während andere den herrschenden Diskurs reproduzierten. „Solange das System undemokratisch und autoritär blieb“, so die These von Galindo Zapata, „konnte die materielle und politische Abhängigkeit vom Staat nicht überwunden werden, die dazu führte, dass die Intellektuellen zu Staatsangestellten wurden, denen subalterne Tätigkeiten der kulturellen Hegemoniebildung und der politischen Regierung anvertraut und die keine organische Bindung an das Volk herstellen konnten“ (S. 146).

Die Phase von 1989 bis 2000 wird im dritten Teil der Arbeit betrachtet. Es werden die politischen Interventionen der Intellektuellen während des Wahlkampfes Salinas und nach seiner unter Betrugsverdacht stehenden Wahl berücksichtigt. Dabei unterstreicht die Verfasserin die legitimatorische Funktion der Intellektuellen im Salinismus. Dieser könne „mit einem riesigen Gebäude verglichen werden, an dem alle politischen, ökonomischen und sozialen Gruppen und AkteurInnen mitbauen dürften. Die Intellektuellen waren dabei für die Fassadengestaltung - in unterschiedlichen Farben – zuständig. Mal wurde die Fassade von den linken Intellektuellen rot bemalt, und dann bemühten sich die konservativen Kräfte, ein schöneres Ergebnis in Blau zu erzielen. [...] Aber wie die anderen Säulen des Salinismus – das nationale und internationale Kapital, die Kirche, die Militärs und die Staatspartei – erfüllten auch die Intellektuellen im salinistischen Bauprojekt ihre spezifische Funktion und trugen somit dazu bei, diesem Gebäude ein solides Fundament zu geben“ (S. 203). Weiter rekonstruiert die Verfasserin die verschiedenen Positionen zur Demokratisierung und Modernisierung des Landes in den 1990er Jahren. Schließlich wird das ambivalente Verhältnis der Intellektuellen zur zapatistischen Bewegung ab Mitte der 1990er Jahre dargestellt. Zunächst werden die intellektuellen Merkmalen des zapatistischen Diskurses analysiert: die Subjektpositionen, die unterschiedlichen AdressatInnen, die stilistischen Strategien zur Erreichung eines pluralen und transnationalen Publikums, die Verwendung von polysemischen Begriffen, die Nutzung heterogener Konzepte, Metaphern und Symbole, die Wiederaneignung des Bildes der Tradition und des Nationalen. Dann geht die Verfasserin auf die Positionierungen der Intellektuellen in Bezug zum indigenen Aufstand ein, die auf eine Spaltung im kulturellen Feld hinweisen. Einige Intellektuelle, z.B. Octavio Paz, übten diffamatorische und pro-salinistische Angriffe, andere solidarisierten sich mit der Bewegung und vermittelten deren Diskurse auf transnationaler Ebene. Die neuen sozialen Bewegungen wirkten insgesamt positiv auf das intellektuelle Feld, insofern sein Autonomisierungsprozess verstärkt und der Raum der Zivilgesellschaft erweitert wurde.

Der Preis der Macht ist nicht nur eine analytisch sehr präzise Betrachtung der kulturellen und politischen Zeitgeschichte Mexikos. Es liefert auch wichtige methodische sowie theoretische Instrumente, um die Beziehung zwischen Politik, Ideologie und Kultur in ihrer Komplexität und mehrdimensionalen Form zu entfalten.

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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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