Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Auschwitz auf der Bühne

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Inge Marszolek, Institut für Kulturwissenschaft, Universität Bremen

Am 19. Oktober 1965 – die Urteile im Auschwitz-Prozess waren am 19. August gesprochen worden – wurde in 15 Spielstätten in der Bundesrepublik und der DDR sowie in beiden Teilen Berlins das Theaterstück „Die Ermittlung“ von Peter Weiss uraufgeführt. Bereits im Vorfeld wurde über das Theaterstück selbst, aber auch über die Person des Autors in der Öffentlichkeit erregt diskutiert. Die Lesung in der Volkskammer der DDR und deren Ausstrahlung im DDR-Fernsehen sorgten für eine Eskalation; die „Ermittlung“ wurde zu einem „Medienevent“ des Kalten Krieges.

Heute, 20 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges und mehr als 40 Jahre nach dem Auschwitz-Prozess, scheint das Stück von den Theaterbühnen verschwunden zu sein. Die NS-Vergangenheit und der Holocaust wiederum sind in deutschen Film- und Fernseh- wie Hollywood-Produktionen nahezu ubiquitär, wovon auch die Oscar-Verleihung an Kate Winslett für ihre Rolle im „Vorleser“ zeugt. Daher ist es sehr verdienstvoll, dass die Bundeszentrale für politische Bildung „Die Ermittlung“ nun auf DVD dokumentiert hat – umso mehr, als diese multimediale Produktion mit einer bestechenden Sorgfalt erarbeitet wurde.

Peter Weiss’ „Oratorium in 11 Gesängen“ – Weiss hatte Dantes „Göttliche Komödie“ als Vorlage benutzt – verweigert sich jeder emotionalisierenden, aber auch jeder pädagogisierenden Inszenierung. Weiss hatte selbst mehrere Male als Zuhörer am Prozess teilgenommen und im Dezember 1964 Auschwitz besucht. Erarbeitet hatte er sein Stück vor allem anhand eigener Aufzeichnungen sowie der Artikel bzw. des Buches von Bernd Naumann, des Berichterstatters für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. Vor allem sind es die Aussagen der Täter wie der Zeugen, die Ausführungen der Verteidigung wie der Anklage, die er auf die Bühne bringt. Erwin Piscator betonte, dass Weiss weder eine Rekonstruktion des Gerichtes in Frankfurt noch etwa die Darstellung des Lagers auf der Bühne beabsichtigt, sondern die Form des Oratoriums als Möglichkeit gewählt habe, sich dem „Unfassbaren“, dem Judenmord zu nähern (DVD-ROM, Kap. 4, Quelle 67).

War bereits der Auschwitz-Prozess selbst auch Schaubühne des Kalten Krieges, so stand „Die Ermittlung“ im Zentrum der ideologischen Auseinandersetzungen. In der Bundesrepublik vermengte sich hierbei der ästhetische Diskurs, ob und inwieweit diese Art Theater noch Kunst sei bzw. ob das Grauen der Lager mit künstlerischen Mitteln überhaupt darstellbar sei, mit eindeutig politisch-ideologischen Urteilen. Letztere machten sich auch an der Person Peter Weiss fest, der sich selber als humanistischer Sozialist verstand und den Dialog mit den Künstlern der DDR suchte. In der DDR war die Debatte einheitlicher: Hier nutzte man die Gelegenheit, durch die Aufführung der „Ermittlung“ die These der engen Verbindung von Großkapital und Faschismus weiterzuverfolgen, wie sie unter anderem durch den Nebenkläger im Auschwitz-Prozess Friedrich Karl Kaul und die von ihm benannten Zeugen immer wieder betont worden war. Diese Verkopplung war auch eine der Grundlinien, die Weiss in seinem Stück zog. Zugleich bot insbesondere die Lesung in der Volkskammer einmal mehr die willkommene Gelegenheit für die politischen und kulturellen Eliten, sich in die Tradition des Antifaschismus zu stellen und die DDR insgesamt als antifaschistisch zu inszenieren.

Doch nun zur Produktion der Bundeszentrale, die zwei DVDs sowie eine kleine Broschüre mit Benutzerhinweisen und einer kurzen inhaltlichen Beschreibung enthält. Auf dem DVD-Video ist die Fernsehfassung der Lesung in der Volkskammer zu sehen. Neben den elf „Gesängen“ des Oratoriums, insgesamt 138 Minuten lang, können biografische Angaben zu den 41 Bühnenakteuren abgerufen werden – und zwar sowohl als Einblendung wie auch im gesonderten Menü, wo sich zudem 24 Biografien der Angeklagten und Fotografien der Proben befinden. Die Liste der 41 Bühnenakteure liest sich als „Who is Who“ der damaligen DDR-Theaterszene. Marcel Atze, der für die Konzeption der gesamten DVD-Produktion verantwortlich war, beschreibt in seinem Artikel (enthalten im Ordner „Zusatzmaterial“) die komplexen Planungen der Lesung. Konrad Wolf, der Initiator des Projektes, hatte offenbar mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen. Die angefragten westdeutschen Künstler sagten letztendlich alle ab – kurioserweise stand auch Wolfgang Neuss auf dieser Liste –, aber ostdeutsche ehemalige Widerstandskämpfer und Überlebende waren ebenfalls zögerlich oder verweigerten sich. Alexander Abusch, stellvertretender Vorsitzender des Ministerrats und Schriftsteller, machte ein Dilemma geltend, wenn er sagte, es sei nicht möglich, dass bekannte Personen – und hier waren diejenigen aus der Politik gemeint – den Part der Mörder übernahmen. Atze zeigt auch, dass Weiss, der gegenüber Wolf die Idee zunächst begrüßt hatte, zuletzt Bedenken bekam, unter anderem wohl aufgrund von Interventionen seines Verlegers Siegfried Unseld.

Die DVD-ROM versammelt in sieben Kapiteln unterschiedliche Quellen zur Entstehung des Stücks, zum Hintergrund, zu den Debatten vor und nach der Aufführung sowie zu Peter Weiss. Beeindruckend ist die Multimedialität der Quellen. Es handelt sich um Texte (handschriftliche und gedruckte), Tondokumente, TV-Material und Fotos. Jedes Kapitel wird aufgemacht mit einer kurzen Zusammenfassung, einem Foto und einer Liste der Quellen. Kleine Icons zeigen, um welche Art Quellen es sich handelt. Mit einem Klick öffnet sich die jeweils ausgewählte Quelle; am rechten Rand ist die Herkunft gezeigt. Handschriftliche Quellen und Faksimiles werden im Original dokumentiert, ein Klick führt zur Transkription, alle Quellen werden schriftlich zusammengefasst. Das ist insbesondere für die Tondokumente praktisch. Sämtliche Textquellen können gespeichert und ausgedruckt werden. Biografien zu Namen lassen sich per Mausklick abrufen. Der Ordner „Zusatzmaterial“ enthält neben einer umfassenden Auswahlbibliografie, wiederum thematisch gegliedert, den bereits erwähnten Beitrag von Marcel Atze sowie einen weiteren von Werner Renz zum Auschwitz-Prozess. Didaktische Empfehlungen zu möglichen Verwendungen im Schulunterricht sind in der Unterzeile zu erreichen.

Höchst selektiv und subjektiv möchte ich auf einige Eindrücke und Fundstücke hinweisen. Die Sprödigkeit und Sperrigkeit des Stücks wird durch die TV-Fassung zweifellos noch erhöht. Im Wesentlichen ist es immer das gleiche Bild: Schwarzgekleidete Männer, unter ihnen einige wenige Frauen, sitzen auf einer Bühne, hinter ihnen drei eher handgemalt wirkende Schilder: Angeklagte, Gericht, Zeugen. Immer wieder stehen ein oder zwei von ihnen auf, treten nach vorn und lesen Texte. Lässt man sich ein, so kontrastiert dies in nahezu unerhörter Weise mit dem Inhalt der Texte – seien es die Aussagen der Angeklagten, die leugnen oder auf den Zwang hinweisen, oder die Schilderungen der Zeugen, die von ihrem Leiden berichten. Es dürfte spannend sein, einmal auszuprobieren, wie diese Form der Darstellung auf heutige Studierende wirkt, deren Bilder im Kopf über den Judenmord und das „Dritte Reich“ aus den oben erwähnten populären Filmen stammen.

Die DVD-ROM enthält Material zu den unterschiedlichen Aspekten: zur Kulturpolitik der DDR, zum unterschiedlichen Umgang mit der NS-Vergangenheit in beiden deutschen Staaten, zu den Debatten über die Rolle und Aufgaben der Künstler, zum Kalten Krieg etc. Über den Kontext eines kontrovers diskutierten Theaterstücks hinaus bietet die Produktion auch Anhaltspunkte für die Frage, wie ein Medienevent erzeugt wird. Besonders hervorheben möchte ich aber ein lange unpubliziertes Gedicht von Wolf Biermann, der zu den geladenen Gästen in der Volkskammer zählte, obgleich er in der DDR damals bereits verfolgt wurde und seine Texte und Lieder nicht an die Öffentlichkeit bringen konnte. Biermann beschreibt die Ambivalenzen, die diese Aufführung in ihm hervorrief – zum einen die Erinnerung an seinen von den Nazis ermordeten kommunistischen Vater, zum anderen ein für ihn höchst prekäres Problem (DVD-ROM, Kap. 5, Quelle 86):

„Ich klage also meinen Bruder an, den Dichter
Peter Weiss. Er hat gemacht, daß ich gemeinsam
Weinte mit denen
Die mich lebendig begraben haben in der Zelle
Chausseestraße 131, weil meine Worte
Nicht schmecken, wie meine Tränen: salzig
Er! hat gemacht, daß ich flennte mit meinen Peinigern
Er zeigte mir den Abschaum, um dessentwillen ich
Burgfrieden schließen muß mit dem Schaum
Aus Stalins Mund. Ich
Klage also ihn an, der aufriss die alten Wunden.“

Dieses Dilemma charakterisiert viele Briefe und Texte von Peter Weiss, die vor allem im letzten Kapitel der DVD enthalten sind – etwa Briefe an seinen Verleger Siegfried Unseld über die Notwendigkeit, sich politisch zu äußern, und die Unsicherheit über die Art und Weise der Äußerung; oder aber eine Rede auf der Tagung der Gruppe 47 in Princeton im Jahr 1966, wo Günter Grass ihn nicht zuletzt wegen seiner Bereitwilligkeit, auch mit der DDR-Regierung zu kooperieren, als Hofnarren derselben bezeichnete. Letztlich ging es auf dieser Tagung generell um ein gewandeltes Selbstverständnis von Schriftstellern, die das Verhältnis von Kunst und Politik thematisierten und zugleich über die ästhetischen Formen nachdachten. Peter Weiss ist hier in einem Atemzug mit Martin Walser, Hans Magnus Enzensberger und anderen zu nennen. Leider fehlt auf der DVD ein Kapitel, das diesen Wandel in der Bundesrepublik Mitte der 1960er-Jahre im Kontext der sich abzeichnenden Rebellion der Studenten in den USA und in Westeuropa thematisieren würde.

Dieser Einwand schmälert den Wert der DVD aber in keiner Weise: Die Produktion der Bundeszentrale entspricht nach meinem Eindruck höchsten wissenschaftlichen Standards, ist ausgesprochen benutzerfreundlich und besticht durch Präzision und Vielfalt der Angebote.