H. Ujvári: Dekadenzkritik aus der "Provinzstadt"

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Titel
Dekadenzkritik aus der "Provinzstadt". Max Nordaus Pester Publizistik


Autor(en)
Hedwig, Ujvári
Erschienen
Budapest 2007: Argumentum Kiadó
Anzahl Seiten
291 S.
Preis
€ 16,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Stachel, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien

Der 1849 in Pest (heute zu Budapest gehörig) geborene Max Nordau, mit bürgerlichem Namen eigentlich Simon Maximilian Südfeld, war um 1900 ein in der europäischen Öffentlichkeit stark wahrgenommener Intellektueller und ein internationaler Bestseller-Autor. Einige seiner Bücher wie "Die conventionellen Lügen der Kulturmenschheit" (1883) und "Entartung" (2 Bde., 1892/93), scharf und polemisch formulierte Auseinandersetzungen mit Gesellschaft und Kultur der Moderne und den von ihm größtenteils als degeneriert beurteilten Phänomenen der technischen Modernisierung, der Urbanisierung und der modernen Kunst und Literatur, fanden unter seinen Zeitgenossen enorme Verbreitung. "Die conventionellen Lügen der Kulturmenschheit" beispielsweise erschien in rund 70 Auflagen und wurde in zumindest 15 Sprachen übersetzt – in mehreren Ländern war es zeitweise verboten, auch der Vatikan setzte es auf den Index der verbotenen Bücher. Aus heutiger Sicht enthalten Nordaus Arbeiten neben teilweise zutreffenden Detailbeobachtungen einen eher wirr anmutenden, teilweise in sich selbst widersprüchlichen Mix von moralisierender Kritik, biologistischen Argumentationsfiguren und massenpsychologischen Verallgemeinerungen. Als ausgebildeter Mediziner übertrug Nordau biologische und medizinische, insbesondere psychiatrische Konzepte seiner Zeit auf Kultur und Gesellschaft, wobei sein Anspruch jener einer rationalen, nämlich strikt „materialistischen“, sozialdarwinistischen und – in seinem Verständnis – „wissenschaftlichen“ Kritik war. Nicht nur der Umstand, dass er sich dabei oftmals auf mittlerweile als pseudowissenschaftlich angesehenen Theorien wie die „Kriminalanthropologie“ des italienischen Psychiaters Cesare Lombroso (1836-1909) oder die „Phrenologie“, die Lehre vom angeblichen Zusammenhang zwischen Schädelform und Charakter bzw. Begabung, bezog, lässt diesen Anspruch aus heutiger Sicht fragwürdig erscheinen. Diese fragwürdigen Elemente seines Weltbildes, sein für heutige Ohren schwer erträglicher, teils pathetischer teils aggressiver Sprachduktus, vor allem aber die fatale Karriere des aus der Biologie in die Sphäre der Gesellschafts- und Kulturkritik überführten Begriffs „Entartung“ unter den Nationalsozialisten haben dazu geführt, dass der einstmals viel gelesene und hoch geschätzte Autor mehr und mehr in Vergessenheit geriet und allenfalls gerade eben noch als angeblicher Schöpfer des „Entartungs“-Begriffs zweifelhafte Prominenz beanspruchen konnte.

So wenig Nordau heutzutage für ein Verständnis aktueller kultureller und gesellschaftlicher Prozesse mit Gewinn zu lesen wäre, so sehr ist er andererseits – schon aufgrund der extrem hohen Auflagen, die seine Bücher einst errichten – als Quelle für verbreitete, heute eher fremdartig anmutende geistige Strömungen seiner Zeit wieder zu entdecken. Wesentliche Beiträge zu dieser Wiederentdeckung haben ein 1996 in Frankreich erschienener mehrsprachiger Sammelband1 und die 1997 von Christoph Schulte in deutscher Sprache vorgelegte erste wissenschaftliche Biographie Nordaus2 geleistet. Gemeinsam ist der bislang erschienen Sekundärliteratur, dass sie das Hauptaugenmerk primär auf die Jahre nach 1876 legt, als Nordau sich als Korrespondent für mehrere deutschsprachige Zeitungen – darunter die Wiener „Neue Freie Presse“ und die „Vossische Zeitung“ – in Paris niedergelassen hatte, wo er seine einflussreichen Bücher verfasste und sich – tief beeindruckt durch die Dreyfus-Affäre – vom fast vollständig „Assimilierten“ zum entschiedenen Verfechter des Zionismus wandelte.

Die ersten 27 Lebensjahre Nordaus, die er in Pest, beziehungsweise zwischen 1873 und 1875 hauptsächlich auf Reisen durch weite Teile Europas verbrachte, haben demgegenüber geringere Aufmerksamkeit gefunden und seine quantitativ umfangreichen (insgesamt rund 300 Texte) journalistische Arbeiten für zwei der großen deutschsprachigen Tageszeitungen Ungarns, den "Pester Lloyd" und das "Neue Pester Journal", wurden meist nur am Rande wahrgenommen. Gerade dieser Pester Publizistik Nordaus ist ein im Jahr 2007 erschienener Band gewidmet, der von der an der katholischen Peter-Pazmany-Universität in Piliscsaba bei Budapest tätigen ungarischen Germanistin Hedvig Ujvári verfasst wurde. Ujvári konzentriert sich in ihrer Forschungstätigkeit auf die Geschichte des einstmals überaus bedeutenden deutschsprachigen Pressewesens in Ungarn und die Studie über Nordau ist ein erstes größeres Produkt dieser Forschungsaktivitäten. Dieses weiter gespannte Forschungsinteresse kommt dem vorliegenden Band sehr zu Gute: So liefert die Autorin in konzentrierter Form wesentliche Informationen zur Geschichte des deutschsprachigen Pressewesens Ungarns, insbesondere jener der beiden erwähnten Tageszeitungen, die bislang in ungarischer Sprache nur sehr unvollständig, in deutscher Sprache überhaupt nicht verfügbar waren. So entsteht ein einprägsames Bild jenes politischen und journalistischen Milieus, in dem Nordau in dem Jahrzehnt vor seiner Übersiedlung nach Paris tätig war.

Nordaus journalistische Anfänge sind wenig spektakulär – bunt gemischt finden sich da Theater- und Literaturkritiken, Lokalnachrichten, politische Kommentare und Nachrichten aus dem Abgeordnetenhaus. Einen biographischen Wendepunkt stellte das Jahr 1873 dar, als Nordau – mit einem geradezu fürstlichen Honorar versehen – die Stelle des Wien-Korrespondenten des "Pester Lloyd" annimmt, um über die Weltausstellung zu berichten. Die regelmäßig aus Wien geschickten Artikel, insgesamt um die 100 Texte, stellen einen Quellenbestand dar, der bislang noch kaum Berücksichtigung gefunden hat, da sie, im Gegensatz zu einem Teil der späteren Reise-Feuilletons, von Nordau selbst nicht in Buchform veröffentlicht wurden. In Ansätzen finden sich hier, etwa bei der Schilderung des Börsenkraches vom 9. Mai 1873, der durch die mit der Weltausstellung verbundene Spekulationswelle verursacht worden war, bereits jene kulturkritischen Argumentationsmuster, für die der Autor später berühmt werden sollte. Wie Ujvári nachweist, lassen sich einige dieser frühen Feuilletons tatsächlich bereits als erste Schritte in Richtung der "Conventionellen Lügen" und der "Entartung" verstehen.

Während die späteren Arbeiten aber eher weitschweifig und zum Teil pathetisch formuliert sind, dominiert in den journalistischen Texten im Großen und Ganzen ein knapperer und prägnanterer Stil. Nicht selten sind es auf den ersten Blick unscheinbare Details, an die Nordau weiterführende Gedanken knüpft. So etwa, wenn der russische Zar, der aus Anlass der Weltausstellung Wien besuchte, dort eine Offenbach-Operette zu sehen wünscht: „ein Vergnügen, das ihm daheim versagt ist. Die Offenbach’schen Operetten sind in ganz Russland theils verboten, theils dürfen sie nur […] zusammengestrichen, beschnitten und verballhornt aufgeführt werden …“ (S. 95). In ähnlicher Weise werden später, während seines Aufenthaltes in Berlin, angesichts einer Fülle von Kriegsspielzeug auf einem Weihnachtsmarkt, weiterführende Gedanken über die Dominanz des Militärischen in der Gesellschaft des neuen Deutschen Reiches entwickelt (vergleiche S. 132).

Die erheblichen Einkünfte aus seiner Zeit als Wien-Korrespondent des "Pester Lloyd" nutzte Nordau in den folgenden Jahren für Reisen durch ganz Europa, die er jeweils in eigenen Artikelserien dokumentierte, welche ihrerseits wiederum als Grundlage für das von ihm als „Kulturstudien“ definierte zweibändige Werk "Vom Kreml zur Alhambra" (1879) dienten. Neben Deutschland, England, Frankreich, Spanien und Russland besuchte Nordau auch für damalige Verhältnisse exotisch anmutende Länder wie z.B. die Färöer-Inseln und Island. Seine entsprechenden Schilderungen sind freilich nicht frei von dünkelhaftem Überlegenheitsgefühlt, so etwa wenn den Färöern beschieden wird, „ein recht hässlicher Menschenschlag“ zu sein, „was namentlich von ihrem weiblichen Theile gilt“ (S. 153) oder die Isländer als „der geistig und moralisch tiefststehende europäische Volksstamm“ (S. 154) beurteilt werden.

Im November 1875 kehrte Nordau vorläufig nach Budapest zurück, um sein Medizinstudium abzuschließen. Zu dieser Zeit kam es, aufgrund eines Streits um die Höhe seiner Honorare, zum Bruch mit dem "Pester Lloyd" und zum umgehenden Wechsel zum "Neuen Pester Journal". Für dieses arbeitete Nordau jedoch nur bis 1878, wobei bemerkenswerterweise wieder die Berichterstattung über eine Weltausstellung, nämlich jene in Paris 1878, einen Schwerpunkt seiner journalistischen Tätigkeit ausmachte.

Hedvig Ujváris sorgfältig gearbeitetes Buch schließt nicht nur eine Lücke in der biographischen Forschung zu Max Nordau, es bietet darüber hinaus auch tiefe Einblicke in das Pressewesen der Zeit und eine große Zahl an interessanten Beobachtungen des Reiseschriftstellers Nordau. Ergänzt wird der Text durch einen umfangreichen Anhang, in dem sämtliche Feuilletons mit genauer Quellenangabe der Erstpublikation verzeichnet sind, eine tabellarische Erläuterung des Zusammenhanges der Zeitungsfeuilletons mit den verschiedenen Ausgaben von "Vom Kreml zur Alhambra", ein ausführliches Literaturverzeichnis und ein Namensregister. Positiv hervorzuheben ist nicht zuletzt auch der rührige ungarische Kleinverlag "Argumentum", in dessen kleinem aber feinem deutschsprachigem Programm dieser gelungene Band erschienen ist.

Anmerkungen:
1 Bechtel, Delphine; Bourel, Dominique; Le Rider, Jacques (Hrsg.), Max Nordau 1849 à 1923. Critique de la dégénérescence, médiateur franco-allemand, père fondateur du sionisme, Paris 1996.
2 Schulte, Christoph, Psychopathologie des Fin de siècle, Der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau, Frankfurt am Main 1997.

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