P. Low: Interstate Relations in Classical Greece

Cover
Titel
Interstate Relations in Classical Greece. Morality and Power


Autor(en)
Low, Polly
Erschienen
Cambridge u.a. 2007: Cambridge University Press
Anzahl Seiten
313 S.
Preis
£ 50,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ernst Baltrusch, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Polly Low bietet mit dem vorliegenden Buch, das aus einer von Paul Cartledge betreuten Cambridger PhD Thesis hervorgegangen ist, eine originelle Neubetrachtung der zwischenstaatlichen Beziehungen in der Epoche des Klassischen Griechenlands im 5. und 4. Jahrhundert v.Chr. Angeregt von den Disziplinen der Alten Geschichte und der Internationalen Beziehungen sollen mit neuen Fragen die Diskussionen zur Außenpolitik der Poleis belebt werden. Diese sieht Low von zwei Verdikten überwuchert: Das erste Verdikt betrifft den Charakter der zwischenstaatlichen Beziehungen; sie seien unterentwickelt, ungeregelt, von Gewalt geprägt. Das zweite Verdikt folgt daraus: Es habe nämlich keine Theorie, kein Durchdenken der „internationalen Beziehungen“ gegeben. Thukydides trägt zumal in seiner politologischen Ausdeutung dafür die Verantwortung, denn Texte wie der Melier-Dialog und andere bilden die zwischenstaatlichen Beziehungen als reines Spiel um die Macht ab. Die sechs Kapitel des Buches arbeiten an einer Revision dieses Bildes, mit dem Ergebnis, dass die „interpolitische“ (zwischenstaatliche) Politik zahlreichen Regeln und expliziten und von allen geteilten Vorstellungen unterworfen war. Dem wird man sofort zustimmen, doch der Wert des Buches liegt vor allem in seiner ganzen Anlage, der Diskussion der Fragen, der Argumentation; nur selten in der wissenschaftlichen Literatur findet man, dass ein umfassendes Thema auch durch eine bewusste und klare Fokussierung der Kapitel auf die Kernbegriffe vollständig erarbeitet werden kann; der Leser muss nicht immer durch Materialfülle erschlagen werden.

Die sechs Kapitel bauen aufeinander auf und entwickeln gleichsam Stück für Stück griechische Strukturen in der Außenpolitik. Low fängt bei den Grundlagen an – den Kerndisziplinen des Buches, nämlich den Internationalen Beziehungen und der Alten Geschichte, entwickelt mit Begriffen wie Reziprozität die Strukturmerkmale der zwischenstaatlichen Politik und wendet sich auch den Formalia zu, um die Verbindung zwischen Recht und griechischer Gesellschaft herauszuarbeiten. Das Verfahren erweist sich für die Ordnung der zwischenstaatlichen Politik als hilfreich, denn so können hier Überschneidungen des inneren und äußeren Bereiches der Polis-Politik freigelegt werden. Ob Verträge, Eide, militärische und finanzielle Sanktionen oder die Religion – die griechische Welt lebte nicht in einer rechtlosen Gesellschaft, sondern orientierte sich an Normen, die übrigens für die gesamte „internationale“ Welt, also auch den Umgang mit den Barbaren galten. Aber diese Normen sind nicht spezifisch „international“, vielmehr zeigen epigraphische und literarische Texte zur Genüge, dass es im Bereich der „morals“ keine Unterschiede zwischen Innen und Außen gab – und damit erkläre sich fast wie von selbst, dass die Griechen keine explizite Theorie der internationalen Beziehungen ausbilden mussten; es habe dafür keine Notwendigkeit bestanden. Dieses Ergebnis ist bestechend, und doch bleibt ein Zweifel: Diejenigen, die diese Theorie hätten ausbilden können, die Philosophen, bedachten das Außen mit dem Bannstrahl des Störenfrieds; Platon wollte bekanntlich nur ein absolut unerlässliches Mindestmaß an Außenbeziehungen überhaupt zulassen, Aristoteles ordnete diese ganz dem Innenbereich unter. Entwickelte man bewusst keine Theorie des Äußeren? Die Diskussion bleibt spannend.

Die letzten zwei Kapitel fallen etwas in dem ansonsten sehr anregenden Buch ab; auf die kritischen Aspekte gehe ich genauer ein, ohne die positive Einschätzung dadurch schmälern zu wollen. Ein Kapitel handelt von der „Intervention“ und erklärt diese im Gegensatz zum modernen Völkerrecht als positiv konnotiert, nämlich als Hilfe für die Bedrängten. Die Belege dafür sind freilich sehr einseitig, nämlich aus der Sicht der Intervenierenden, und diese interpretieren, wie man aus jüngster Zeit weiß, auch heute nicht anders. Die Autonomie der Polis sei wegen ihrer Spannbreite kein Hinderungsgrund für Intervention gewesen, doch ist das alles andere als einleuchtend; die Autonomie, einer der wichtigsten Begriffe des griechischen Völkerrechts, bedarf auch weiterhin einer Aufhellung, zumal im 4. Jahrhundert v.Chr. Jedenfalls scheint es auf diesem sensiblen Feld des Eingriffes in die Hoheitsrechte autonomer Poleis keine andere „fluidity“ im modernen wie im antiken Völkerrecht zu geben; ich verweise hier als Beispiel nur auf das verwandte, immer vertraglich zu regelnde Durchzugsrecht fremder Truppen. Das letzte Kapitel möchte das eingestandene „historische Defizit“ ausgleichen und über die Faktoren Stabilität und Wandel das diachrone Element stärken. Dies gelingt nicht ganz, weil Low dafür Thukydides und auch das Athenische Reich als einflusslos auf die zwischenstaatlichen Beziehungen marginalisieren muss. Für das moderne Völkerrecht betont Low zu Beginn des Buches die Bedeutung des Ersten Weltkrieges, für die griechische Welt leugnet sie ebenfalls keineswegs die Zäsur des Peloponnesischen Krieges – und doch spielt dieser offenbar keine Rolle für neue Werte in der zwischenstaatlichen Sphäre. Um nur das wichtigste Gegenargument zu nennen: Die Tatsache, dass Eirene und Autonomie zu Kardinalbegriffen der Vertragssprache am Ende des 5. Jahrhunderts bzw. am Anfang des 4. Jahrhunderts v.Chr. werden, ist zu zentral, um sie einfach zu übergehen. Um zu zeigen, dass „the basic shape of interstate relations does stay the same throughout the classical period“ (S. 250), führt sie sprachlich verwandte Formulare von Verträgen und Ehrendekreten aus dem 5. und 4. Jahrhundert v.Chr. an, die meines Erachtens die in sie gesetzte Last nicht zu tragen vermögen. Dass die Vielzahl von Poleis ein relativ starres, von allen dauerhaft akzeptiertes Sprach- und Rechtssystem notwendig machte, ist unbestritten; doch die deutlich erkennbaren Veränderungen (bei den Symmachie-Verträgen, in der Idee der Koine-Eirene und der Autonomie usw.) lassen nicht den Schluss zu, dass nach dem Peloponnesischen Krieg „alles beim alten“ blieb.

Die kritischen Punkte beherrschen vielleicht eine Rezension, aber bestimmt nicht den Eindruck, den dieses Buch hinterlässt. Es geht mit großem Elan und frischem Fragemut an ein schwieriges, zwischen Juristen, Politologen und Althistorikern umstrittenes Feld heran und führt zu einem Ergebnis, hinter das man nicht mehr zurückkann: Es gibt ein griechisches Völkerrecht; die Anarchie, den Realismus, den man zu Unrecht Thukydides unterschob, gab es nicht. Eine klare Scheidung, so ein weiteres gut herausgearbeitetes Ergebnis, zwischen „Außenpolitik“ und „Innenpolitik“ gab es freilich ebenso wenig. Das Buch liefert viele Anregungen dafür, das 4. Jahrhundert v.Chr. auf seine differenzierte Struktur hin zwischen Poliswelt und Großmacht, zwischen Autonomie und Intervention, zwischen Krieg und Frieden in zwischenstaatlicher Hinsicht zu untersuchen.

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