S. Brüne u.a. (Hrsg.): Auf dem Weg zum modernen Äthiopien

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Titel
Auf dem Weg zum modernen Äthiopien. Festschrift für Bairu Tafla


Herausgeber
Brüne, Stefan; Scholler, Heinrich
Erschienen
Münster 2005: LIT Verlag
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ralf Kellermann, Stuttgart Email:

Im Dezember 2003 verabschiedete sich der große Hamburger Äthiopist Bairu Tafla in den Ruhestand. Die zu diesem Anlass herausgegebene Festschrift versammelt 14 Beiträge zu einem Überblick über den Weg Äthiopiens und Eritreas in die Moderne. Dem breiten Forschungsinteresse Bairu Taflas entspricht die Bandbreite der Themen und Blickrichtungen. Neben Ausblicken auf Politik und Kirchengeschichte in Äthiopien steht ein Aufsatz über die erste Eisenbahn in der Region; neben einem Überblick über die äthiopische Forschung zur mündlich tradierten Dichtung findet sich die kommentierte Erstedition eines diplomatischen Briefwechsels und inmitten der Untersuchungen zur Kultur- und Sozialgeschichte Äthiopiens finden sich auch einige lesenswerte Aufsätze über Geschichte und gegenwärtige Probleme Eritreas, der Heimat Taflas. In historischer Hinsicht reicht das Spektrum von der Jesuitenmission in der frühen Neuzeit über die Sklavenjagden um die Jahrhundertwende 1900 bis zur Diskussion der Implikationen der modernen Informationstechnologie für die Förderung sehbehinderter Äthiopier zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Je sechs der Beiträge sind auf Deutsch und Englisch verfasst und je einer auf Französisch und auf Italienisch.

Sehr lesenswert ist gleich zu Beginn des Buches der Aufsatz von Hermann Amborn über „Polykephale Gesellschaften Südwest-Äthiopiens zu Zeiten der Sklavenjagden“. Amborn zeichnet ein sehr differenziertes Bild der bis ins 20. Jahrhundert hineinreichenden Sklavenjagden im Südwesten Äthiopiens. Auf der Grundlage von Feldforschungen und Interviews mit Zeitzeugen (wobei sich Amborn auch auf Material von H. Straube aus den 1950er-Jahren stützt), vertritt der Autor die These, dass „die Sklaverei in polykephalen Gesellschaften keinen Platz hat“ (S. 26). Erst die hierarchische Struktur der expandierenden äthiopischen Gesellschaft lässt in den traditionellen tribalen Gesellschaften die Idee und Praxis der Sklaverei entstehen. Dort wo sich die Zentralmacht zurückzieht, verschwindet die Sklavenjagd auch wieder und die mit der Zentralmacht kooperierenden Sklavenhändler werden sozial geächtet. Aufschlussreich und überzeugend ist in diesem Beitrag die Differenziertheit und Vorsicht bei der Begriffswahl. Aus europäischer Perspektive ist hier insofern Vorsicht geboten, als sehr unterschiedliche tradierte Abhängigkeitsverhältnisse in den Kulturen Nord-Ost-Afrikas nicht pauschal als Sklaverei bezeichnet werden können (S. 13f.).

Das Verhältnis der Äthiopier zur politischen Führung und zum politischen System wird im Band von zwei Autoren unterschiedlich eingeschätzt. In seinem Aufsatz über „Wachs und Gold. Äthiopiens erprobte Kultur des Versteckens“ deutet Brüne den Hang der Äthiopier zu doppeldeutiger Kommunikation als Zeichen einer eher unterentwickelten demokratischen Kultur. Von Seiten der politischen Führung aus gesehen – Brüne zitiert eine Anekdote aus der Regierungspraxis Haile Selassies – erscheint das Spiel mit sprachlichen Doppeldeutigkeiten als Herrschaftsinstrument, das die politische Führung vor direkter Kritik bewahrt. Man sei eben nur falsch verstanden worden. Aus Sicht der gewöhnlichen Leute bietet die unter dem Namen „Wachs und Gold“ auch schulisch gepflegte Tradition der doppelbödigen Botschaften die Möglichkeit zu einer vorsichtigen Infragestellung politischer Strukturen und Maßnahmen – eine Art „Sklavensprache“ im Sinne Ernst Blochs. Unterm Strich beurteilt Brüne diese Tendenz zwar als kulturelle Errungenschaft, aus politischer Sicht jedoch als problematischen Hang zur Intransparenz, als Anreiz zu Verschwörungstheorien und als Symptom für fehlende politische Verantwortung. Ein wesentlich positiveres Bild von der politischen Mündigkeit der Äthiopier dagegen zeichnet René Lefort in seiner auf Französisch vorgelegten Feldstudie über das Politikverständnis der bäuerlichen Gesellschaft in Wäyr Amba, Nord Shoa. Lefort zeigt sehr anschaulich, dass das politische Bewusstsein der von ihm Befragten durchaus sehr differenziert und klar erscheint. Vor allem die einfacheren Leute wissen demnach sehr gut, was sie davon zu halten haben, wenn sie in einer Art Double-Bind von der politischen Führung autoritär zur Selbstverantwortung aufgefordert werden, während ihnen gleichzeitig durch Abgaben und politische Vorgaben die Möglichkeiten zur eigenverantwortlichen Regelung ihrer Angelegenheiten vorenthalten werden.

Die in kulturgeschichtlicher Hinsicht vielleicht interessantesten Beiträge befassen sich mit zwei historischen Schnittstellen zwischen Kirche und Politik. Verena Böll rekonstruiert auf der Grundlage eines Briefwechsels zwischen Äthiopien und Rom die durchaus spannende Geschichte der Jesuitenmission im 17. Jahrhundert. Vor allem ausgehend von einem Kommentar zu einem Brief von Ras Sé’élä Kristos an Papst Paul V. (1605-1621) analisiert Böll differenziert und anschaulich, welche religiösen und machtpolitischen äthiopischen Interessen dazu führten, in Rom um die Entsendung jesuitischer Missionare nachzufragen und aus welchen Motiven und in welcher Form man in Rom auf diese Anfrage reagierte. Ähnlich konzipiert ist auch Haggai Erlichs auf Englisch verfasster Aufsatz über das Verhältnis der ägyptischen Kopten zu Äthiopien am Ende des 19. Jahrhundert. Der Ausgangspunkt für die Rekonstruktion einer halb kirchlichen halb politischen Konstellation ist hier der Vortrag eines ägyptischen Kopten aus dem Jahre 1895, in dem dieser an die traditionell engen Beziehungen zwischen ägyptischen und äthiopischen Christen erinnert und für die Einheit der Völker am Nil plädiert. Auch hier bietet die Interpretation des Vortrages einen fruchtbaren Anlass zur Darstellung einer historischen Konstellation – in diesem Fall der problematischen Lage der ägyptischen Christen zu Ende des 19. Jahrhunderts auf der einen Seite und der davor liegenden Emanzipation der äthiopischen Kirche von der autoritären Bevormundung durch die ägyptische Kopten auf der anderen.

Die Bedeutung des italienischen Kolonialismus für die Entwicklung Äthiopiens und Eritreas wird ebenfalls in zwei sehr unterschiedlichen Beiträgen beleuchtet. Richard Pankhurst untersucht, wie sich das Abessinienbild in einer italienischen faschistischen Zeitschrift bis zum Ende des Krieges veränderte. Leider erfährt man dabei mehr über Außenpolitik des italienischen Faschismus im Allgemeinen als über die Auswirkungen dieser Entwicklung auf das ehemalige Abessinien. Weiterführend ist dagegen die von Irma Taddia auf Italienisch verfasste Studie über autobiografische Zeugnisse von Italienern, die als Kolonisten nach Abessinien gingen. Auch wenn dieser Aufsatz daran krankt, dass er sich allzu ausführlich selbstkritisch mit der begrenzten historiografischen Autorität autobiografischen Zeugnissen beschäftigt, deutet dieser Zugang doch in eine weiterführende Richtung. Jenseits der älteren Ansätze der Oral History des Kolonialismus (im Sinne einer „Geschichte von unten“) geht es Taddia nicht primär um Herrschaftskritik als vielmehr um eine neue Perspektive auf eine Epoche, die auch von der italienischen Historiografie bis heute nur marginal thematisiert wird. Interessant erscheint hier vor allem die These, dass der italienische Kolonialismus eher improvisiert als geplant zu Werke ging, dass er sich eher der Initiative von Einzelnen verdankte als einer konzertierten Aktion des italienischen Staates (S. 234f.). Bemerkenswert ist dieser Beitrag auch darum, weil er sich als einziger im Sammelband explizit auf die neueren theoretischen Entwicklungen der Post-Colonial Studies bezieht.

Insgesamt bietet der Band sowohl einen interessanten Überblick für Laien und bemerkenswerte Diskussionsanregungen für Experten/innen. Zu einzelnen Beiträgen drängen sich allerdings auch kritische Einwände auf. So weist Heinrich Schollers Untersuchung zum Zusammenhang von Gerechtigkeitsvorstellungen im Volksmärchen und der Entwicklung eigener Rechtsvorstellungen in der äthiopischen Rechtsprechung in eine weiterführende Richtung. Sie krankt jedoch an einer allzu leichtfertigen Verabschiedung narratologischer Konzepte (Propp) auf der einen Seite und einer Vernachlässigung der anthropologischen Diskussion über die soziale Konstruktion von Recht und Gerechtigkeit auf der anderen. Die narratologische Analyse von Volksmärchen ist nicht bei Propp stehen geblieben und sicherlich muss man die Positionen von Cathy Caruth oder Mark Osiel über die soziale Konstruktion und Bedeutung von Recht und Gerechtigkeit nicht teilen. Sinnvoll wäre aber, dass man explizit zum laufenden Diskurs Stellung bezieht. Mussie Tesfagiorgis’ Untersuchung über den Zusammenhang zwischen militärischen Konflikten und Umweltproblemen in Eritrea, um ein zweites Beispiel zu nennen, bietet auf der einen Seite eine gründliche Darstellung von Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die dann vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu beobachtenden ökologischen Katastrophen in der Region werden durch Studie über das 19. Jahrhundert, so beeindruckend detailliert diese auch ausfällt, allerdings kaum überzeugend erklärt.

Ein kleiner kritischer Hinweis geht auch an die Adresse der Herausgeber. Einmal hätten sie Beiträge thematisch etwas deutlicher so bündeln können, dass sie leichter als gegensätzliche Stimmen zu einem Thema ins Auge fallen. Dann finden sich insgesamt doch so viele Druckfehler, dass man sich fragt, ob die Texte redaktionell überhaupt noch einmal durchgesehen wurden, drittens sind die Literaturangaben nicht nur uneinheitlich, sondern in mehreren Fällen auch fehlerhaft oder unvollständig (Brüne, S. 78f, und Lefort, S. 116), und letztlich mutet es dann doch eher unfreiwillig komisch an, dass die auf dem Umschlag abgebildete Manuskriptseite auf dem Kopf steht. Dem wissenschaftlichen Wert der Textsammlung insgesamt tun die kritischen Anmerkungen sicherlich kaum Abbruch. Das Buch ist lesenswert und bietet über weite Strecken eine informative und oft auch unterhaltsame Lektüre.

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