M. Hurd (Hrsg.): Borderland Identities

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Titel
Borderland Identities. Territory and Belonging in North, Central and East Europe


Herausgeber
Hurd, Madeleine
Reihe
Baltic and East European Studies 8
Erschienen
Anzahl Seiten
507 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Steffi Franke, Universität Leipzig, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO)

Die internationale Grenzforschung ist gleichermaßen durch einen hohen Grad an Spezialisierung einerseits und Vernetzung und Interdisziplinarität andererseits gekennzeichnet. Einzelne Grenzregionen genießen dabei besondere wissenschaftliche und öffentliche Aufmerksamkeit: Dazu zählen unbestritten die neuen und alten Grenzen jenseits des ehemaligen Eisernen Vorhangs, die Binnengrenzen der Europäischen Union, insbesondere zwischen Deutschland und seinen Nachbarstaaten sowie außerhalb Europas die U.S.-mexikanische Grenze und die Grenzen im Nahen Osten, vor allem Israels zu seinen Nachbarstaaten. Für diese Fälle sind eine Reihe von Studien entstanden, die sich jeweils aus sozialwissenschaftlicher, geographischer, historischer oder anthropologischer Perspektive ihrem Untersuchungsgegenstand nähern.1 Ein vergleichbares Interesse an Grenzregionen in Lateinamerika, Asien und Afrika wächst erst allmählich, gleichwohl dazu auch bereits eine Reihe ausgezeichneter Arbeiten vorliegen.2

Den Schwerpunkt des vorliegenden Bandes bildet die Frage nach der Herstellung von Identität(en) in Grenzregionen, den „borderlands“, vor allem im Spannungsfeld von Nationalisierungsprozessen im Osten, Norden und der Mitte Europas. Die „Grenzländer“ werden hier bestimmt als „sites where political, cultural, and social identities converge, coexist, and sometimes conflict“ (S. 13). Der Band widmet sich „expressions of territorial belonging at different levels and times, contexts and medias“ (S. 15) und verfolgte das Ziel, zu einem differenzierten Verständnis der Etablierung und Erfahrung nationaler und „borderland identities“ beizutragen (ebd.).

Grenzregionen waren von den Homogenisierungsbestrebungen der erstarkenden Nationalstaaten im 19. Jahrhundert in besonderem Maße betroffen. In ihnen konnten sich dabei jedoch auch subversive Potentiale entfalten, die diesen Prozessen gegenläufig waren. In anderen Fällen wurde wiederum vor allem aus den Grenzregionen heraus die Nationalisierung durch Ab- und Ausgrenzung mit Nachdruck vorangetrieben. Es besteht also eine gewisse Schwierigkeit, die Geschichte von Grenzregionen innerhalb bisher dominanter nationalstaatlicher – oder neuerer – supranationaler Container zu erzählen, lassen sich dort doch vielfach andere Rhythmen und Mechanismen beobachten. Denn einerseits fordern Grenzregionen nationale Narrative wiederholt heraus (S. 23), andererseits macht es sich die populäre „rhetoric of Euroregion“ (S. 22) zu einfach, wenn sie grenzüberschreitende Kooperation zum Allheilmittel regionalpolitischer Probleme und Grenzregionen zur Avantgarde transnationaler Vernetzung (v)erklärt. Diesen Zwiespalt können die Studien des Bandes verdeutlichen.

Die versammelten Beiträge fächern ein großes historisches und geographisches Themenspektrum auf, das von frühneuzeitlichen Prozessen bis zur Problematik der Euroregionen heute und von der deutsch-polnischen bis zur finnisch-russischen und russisch-ukrainischen Grenze reicht. Einen gewissen zeitlichen Schwerpunkt markieren sozialwissenschaftliche Studien zu aktuellen Fragen und historische Untersuchungen zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das Tertium Comparationis dieser Analysen, die Frage nach der Herstellung von Identität in Grenzregionen, wird in fünf Schwerpunkten organisiert, die die Teilkapitel bilden: Geschichte und Raum, Sprache, Religion, institutionelle und wirtschaftliche Strukturen sowie Medien. Dabei werden eine Reihe weiterer Themenfelder einbezogen wie das Funktionieren wirtschaftlicher Netzwerke, Mechanismen der Herstellung von Zugehörigkeit über Mobilitätskontrolle und Staatszugehörigkeit und Strategien von Nationalisierung und Regionalisierung. Innerhalb dieser Abschnitte des Bandes sind jeweils unterschiedliche zeitliche und geographische Fallstudien zusammengefasst, sodass beispielsweise die Ostukraine in verschiedenen Teilkapiteln mehrfach behandelt wird, ebenso die deutsch-dänische Grenzregion, die Grenzregionen zwischen Russland und Skandinavien und deutsch-polnische Konfliktlagen. Damit entstehen im Leseeindruck mitunter große zeitliche und geographische Sprünge, zumal die Einleitung nur begrenzt Zusammenhänge herstellen kann, sodass eine auswählende Lektüre ratsam erscheint.

In den letzten beiden Abschnitten des Bandes stehen dann weniger geographisch konkrete „borderlands“ im Mittelpunkt als vielmehr darüber hinausgehende Abgrenzungsprozesse, also die Herstellung nationaler Identität und die Integration gegenläufiger Narrative in ein nationales Narrativ und somit die Herstellung und Durchdringung von Grenzen in einem weiter gefassten Sinne.

Es sind vor allem Umbruchsituationen, anhand derer sich die Untersuchung von Grenzregionen als besonders fruchtbar erweist: Das Ende des ersten wie des zweiten Weltkriegs und die Ereignisse nach 1989/91 sind für vorliegenden Studien besonders virulent. Der Band bietet für eine Reihe von Grenzkonstellationen erhellende Fallstudien, von denen hier nur eine Auswahl vorgestellt werden kann.

So schildert Pekka Hakkamies in seiner Untersuchung über die Inbesitznahme des ehemaligen finnischen Karelien durch sowjetische Siedler nach 1944 einen extremen Fall der erinnerungs- und identitätspolitischen Neuerfindung und Besiedlung eines gesäuberten Grenzlandes. Diese Situation stellt damit gleichsam ein „laborator[y] for the study of the creation of new culture based on old traditions and the study of how people adapt to a new environment“ dar (S. 34). Zu dieser Neuschöpfung gehörte auch die Benennung von Orten und die Neukartierung der kulturellen Landschaft. Die Grundlage dieser Anstrengung war aufgrund der vollständigen Abwesenheit der ehemaligen finnischen Bewohner die Erfahrungen von Ankunft und Alltag der sowjetischen Siedler, die mit Vorstellungen einer vermuteten finnischen Vergangenheit amalgamierten. Dabei erwiesen sich die auf alltäglicher Praxis gründenden Neubenennungen teilweise als nachhaltiger im Vergleich zu administrativen Ordnungsversuchen. Zugleich verschränkte sich die Angst vor einer unerwarteten Rückkehr der Finnen mit der Vorstellung ihrer technologischen und wirtschaftlichen Überlegenheit, auf die aus Sicht der Bewohner der schrittweise Verfall unter sowjetischer Besiedlung folgte. Aufschlussreich sind Hakkamies abschließende Vergleiche zur deutsch-polnischen Grenzregion nach 1945, die sich vom vorliegenden Fall vor allem dadurch unterscheide, dass die neuen polnischen Bewohner sich geweigert hätten, ihre neue Heimat zu akzeptieren (S. 54). Zu dieser Ablehnung – so hätte hinzugefügt werden können – trug allerdings nicht unwesentlich der aus polnischer Sicht nicht abschließend geklärte Status der deutsch-polnischen Grenze sowie die Tatsache bei, dass es sich bei den Neusiedlern nicht nur um Polen, sondern auch um umgesiedelte Ukrainer handelte, deren Situation bei weitem prekärer war als die der neuen sowjetischen Bewohner Kareliens.

Die ukrainisch-russische Grenze, die mit den drei Einzelstudien von Tatiana Zhurzhenko, Peter W. Rodgers und Margarethe B. Søvik vertreten ist, kann für die jüngste Zeit als ein Studienobjekt gelten für die Reaktivierung von Grenzen und für den Versuch, vormals hochgradig durchlässige Grenzgebiete wieder nationalstaatlich einzuhegen. Insbesondere die Untersuchung von Tatiana Zhurzhenko zu drei grenznahen Dörfern im Oblast Kharkhiv kann dabei verdeutlichen, dass „local residents challenge and change its regime and symbolic meaning“ (S. 58). Nach der ukrainischen Unabhängigkeit sehen sich die Bewohner dieses Grenzlandes vor zwei parallelen Herausforderungen gestellt: „’becoming a borderland’“ und „’becoming Ukrainians’“ (S. 58). Die Ergebnisse Zhurzhenkos können dabei zu einem differenzierten Verständnis intraregionaler Unterschiede in der Ukraine beitragen. Die ukrainisch-russische Grenze wird von ihren Bewohnern in doppeltem Sinn interpretiert: nicht nur als Grenze zwischen zwei Staaten sondern auch als Grenze zwischen sowjetischer, sozialistischer Vergangenheit und ukrainischer, kapitalistischer Gegenwart. Ihre Analyse, die unter anderem informelle und illegale Anpassungsstrategien an ein neues Grenzregime herausarbeiten kann, betont dabei die Bedeutung sozialer und wirtschaftlicher Faktoren, die in den Abgrenzungsstrategien stärker wirksam werden als die Wahrnehmung ethnischer Kategorien.

An der entgegengesetzten Ausgangssituation, dem Versuch, Grenzen im Kontext der EU-Regionalpolitik durchlässiger zu machen und Grenzregionen als zusammenhängende Räume wiedererstehen zu lassen, setzen die Studien von Martin Klatt, Wolfgang Aschauer und Alexandra Schwell an. Sie können für jeweils unterschiedliche Fälle die Schwierigkeiten eines solchen Unterfangens und die begrenzte Wirksamkeit des verbreiteten Glaubens an die Auflösung von Grenzen durch Kooperation demonstrieren. Martin Klatt untersucht die Konflikte um die deutsch-dänische grenzüberschreitende regionale Kooperation und verdeutlicht, dass die viel beschworene gemeinsame Vergangenheit von Grenzregionen nicht zwangsläufig zu einer einfachen Reaktivierung des grenzüberschreitenden Handlungsraumes führt. Vielmehr kann er zeigen, dass Geschichte strategisch im Rahmen regionalpolitischer Vorhaben entsprechend der jeweiligen Interessen der Akteure mobilisiert wird und für den deutsch-dänischen Fall der nationale Rahmen die historischen Narrative der Region dominiert. Die von deutscher Seite praktizierte Beschwörung einer gemeinsamen regionalen historischen Vergangenheit als Motor für eine zukünftige Zusammenarbeit stieß auf der dänischen Seite auf massiven Widerstand. Dort wurde die Geschichte der Region vor dem Hintergrund wiederholter deutscher Expansionsbestrebungen und Vereinnahmungsversuche erzählt, vor deren Hintergrund man auch die neuesten Bemühungen um eine Euroregion deutete. Insofern haben sich die Nationalisierungsbemühungen von dänischer und deutscher Seite nach dem Plebiszit 1920, die Marten Andersen an anderer Stelle im Band anhand nationaler Wirtschafts- und Regionalpolitik untersucht, als erfolgreich erwiesen.

Eine weitere Konstellation – die Erzeugung neuer Abgrenzungen im Kontext von sich wandelnden territorialen Zugehörigkeiten und mentalen Raumordnungen – wird in der Studie von Madeleine Hurd über die medialen Reaktionen auf den neuen territorialen Status Danzigs im Ergebnis des ersten Weltkrieges vorgestellt. Danzig wurde erst nach 1918 zu einem „borderland“, eine auf politischer Ebene veranlasste Grenzverschiebung, auf die die Gemeinschaft neue Antworten finden musste. Hurd kann die wachsende Rolle der Medien veranschaulichen, diese „helped formulate, distill, narrate, reinforced and publicise the self-defence of Danzig’s Germans“ (S. 415). Sie trugen damit zur Territorialisierung ethnischer Differenzen bei und konnten dabei auf älteren Traditionen der Repräsentation ethnischer Unterschiede aufbauen. Gerade auch die konservative Presse profilierte sich als Vermittler zwischen politischen Akteuren auf nationaler bzw. regionaler Ebene und der internationalen Öffentlichkeit. Diese Entwicklung kann als Paradebeispiel für Prozesse der Transnationalisierung gelten, also für Strategien von Akteuren, ihre nationale Position durch den Zugriff auf internationale bzw. globale Ressourcen zu stärken: „[I]ronically, Danzig’s right-wing nationalists turned to international world opinion; particularist and racist groups appealed to international principles of justice. [...] The state was gone, but a new authority was found: international public opinion and the cosmopolitan Peace Congress“ (S. 417) .

Den Beiträgen des Bandes gemeinsam ist ihre Auseinandersetzung mit Nationalisierungsprozessen und ihren Folgen für Grenzregionen, wobei dies sozusagen sowohl von deren Ursprüngen im 19. und frühen 20. Jahrhundert als auch von deren Krise im Zuge der gegenwärtigen Regionalisierung und Globalisierung betrachtet wird. Das Antriebsmoment hinter diesen Untersuchungen ist also die Suche nach alternativen territorialen Ordnungsformen jenseits nationaler räumlicher und gesellschaftlicher Rahmen. Konsequent wird dabei die Bedeutung der lokalen „agency“ thematisiert, die Nationalisierung und Territorialisierung zu konflikthaften Aushandlungsprozessen werden lassen. Ebenso wenig verspricht die aktuelle – nicht notwendigerweise als gegenläufig zu deutende – Bewegung der grenzüberschreitenden Regionalisierung und die Suche nach neuen Handlungs- und Identitätsräumen jenseits des Nationalstaates unter dem Banner der Europäisierung die komplikationslose Heilung der Wunden der Vergangenheit.

Anmerkungen:
1 Vgl. u.a. Peter Haslinger (Hrsg.), Grenze im Kopf. Beiträge zur Geschichte der Grenze in Ostmitteleuropa, Frankfurt am Main 1999; Hans Lemberg (Hrsg.), Grenzen in Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Aktuelle Forschungsprobleme, Marburg 2000; Oscar Martinez, US-Mexico Borderlands, Wilmington, Del. 1996; Gerald Blake / Richard Schofield (Hrsg.), Boundaries and state territory in the Middle East and North Africa, Wisbech 1987; David Newman, Population, stettlement and conflict. Israel and the West Bank, Cambridge 1991.
2 Dazu zählen unter anderem Anthony Asiwaju, Boundaries and African Intergration, Lagos 2003; Joachim Becker / Andrea Komlosy (Hrsg.), Grenzen weltweit. Zonen, Linien, Mauern im historischen Vergleich, Wien 2004; Marianne Braig u.a. (Hrsg.), Grenzen der Macht - Macht der Grenzen. Lateinamerika im globalen Kontext, Frankfurt am Main 2005.

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