Chr. Kleßmann: Arbeiter im "Arbeiterstaat" DDR

Cover
Titel
Arbeiter im "Arbeiterstaat" DDR. Deutsche Traditionen, sowjetisches Modell, westdeutsches Magnetfeld (1945-1971)


Autor(en)
Kleßmann, Christoph
Reihe
Geschichte der Arbeiter und der Arbeitsbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts 14
Erschienen
Anzahl Seiten
892 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ralph Jessen, Historisches Seminar der Universität zu Köln

Von Christoph Kleßmann stammt der Vorschlag, die deutsch-deutsche Doppelstaatlichkeit zwischen 1949 und 1990 als „asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte“ zu beschreiben. Nach Lektüre seiner exzellenten Studie über die „Arbeiter im ‚Arbeiterstaat’ DDR“ hat man den Eindruck, dass die Formulierung in abgewandelter Form auch in diesem Falle sticht: Auf gut 890 Seiten entfaltet Kleßmann das Panorama einer höchst asymmetrischen, aber dennoch eng verflochtenen Beziehungsgeschichte zwischen einer im Gehäuse des SED-Regimes „verstaatlichten Arbeiterbewegung“ auf der einen und der ostdeutschen Arbeiterschaft auf der anderen Seite. Kaum ein anderer Aspekt der DDR-Geschichte dürfte so gut geeignet sein, das Verhältnis zwischen diktatorischer Herrschaft und Gesellschaft in der SED-Diktatur zu erschließen, wie dieses Beziehungsdrama.

Die Herrschaftslegitimation der SED war unlösbar mit der Behauptung verbunden, dass die DDR die große historische Alternative zur Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Unterdrückung der kapitalistischen Klassengesellschaft verkörpere. Sie berief sich auf die Traditionen der deutschen Arbeiterbewegung – und was deren kommunistischen Zweig anging, nicht zu Unrecht. Aber trotz des enormen materiellen und symbolischen Aufwands, den der ostdeutsche „Arbeiterstaat“ trieb, um dieser Behauptung das erforderliche Minimum an Überzeugungskraft zu sichern, konnte er bestenfalls auf die „missmutige Loyalität“ seiner Titularklasse zählen. Dies war die fast unvermeidliche Konsequenz der beiden – neben der Arbeiterbewegungstradition – wichtigsten Kraftfelder, die diese Beziehung beeinflussten: Auf der einen Seite das aufgezwungene sowjetische Vorbild, dessen partielle Anpassung an die deutschen Verhältnisse weder seinen harten stalinistischen Kern aufweichte noch seine Popularität in der Arbeiterschaft erhöhte; auf der anderen Seite die für die meisten Arbeiter in der DDR ungleich attraktivere Parallelgeschichte der westdeutschen Nachkriegsmoderne.

Wie dieses Kräftedreieck aus „deutschen Traditionen, sowjetischem Modell und westdeutschem Magnetfeld“ das Verhältnis zwischen Arbeitern und SED-Regime beeinflusste, ohne es zu determinieren, verfolgt Kleßmann in fünf chronologischen Schritten: Von der unmittelbaren Nachkriegszeit über den Aufbau des Sozialismus zwischen 1947 und 1953, den Aufstand vom 17. Juni 1953, gefolgt vom prekären Stabilisierungs- und Mobilisierungskurs unter den Bedingungen der offenen Grenze bis zu Ulbrichts gescheitertem Modernisierungsregime zwischen 1961 und 1971. Eine eingeschobene Fallstudie zur Geschichte von „Stalinstadt“/„Eisenhüttenstadt“ und ein sehr dichtes und äußerst instruktives Abschlusskapitel zum „Arbeiterleben im ‚Arbeiter-und-Bauern-Staat’“ leisten exemplarische bzw. systematische Vertiefung.

Kleßmanns Arbeiterbuch verwertet souverän einen immensen Quellen- und Literaturbestand, ist interpretationsstark und empirisch präzise, arbeitet sich durch die Windungen und Wirrungen zahlloser SED-Kampagnen, ohne den Leser zu ermüden – allein dies ist eine staunenswerte Leistung –, und verschafft immer wieder sehr genaue Einblicke in die Alltagswelt von Arbeitern und wie sie mit den Zumutungen der kommunistischen Gesellschaftsdesigner umgingen. Der Aufbau der SED-Diktatur und der Staatswirtschaft, die diktatorische Durchdringung der ostdeutschen Gesellschaft und die propagandistische Inszenierung „der Arbeiterklasse“, kurz: die politisch definierten Bedingungen der Arbeiterexistenz prägen naturgemäß das Gerüst der Darstellung sehr stark. Die große und überzeugende Leistung des Buches liegt aber gerade darin, dass es sich weder auf die Rekonstruktion der obrigkeitlichen Arbeiterpolitik beschränkt, noch in blutleerer Sozialstrukturanalyse versandet, noch der Versuchung erliegt, das Handeln von Arbeiterinnen und Arbeitern zu idyllisieren oder zur Geschichte von Resistenz und Widerstand zur stilisieren. Gerade in der souveränen Verbindung von Politik, Struktur und Handlung liegt seine Stärke. Wie ein roter Faden zieht sich die Frage nach der sozialen Relevanz des kommunistischen Projekts für die ostdeutsche Arbeiterschaft durch die Darstellung. Deren Plot ist – wie könnte es anders sein – ein dialektischer: Die asymmetrische Interaktionsgeschichte von Arbeitern und „Arbeiterstaat“ führte zu Ergebnissen, die weder den Erwartungen der einen, noch den Hoffnungen der anderen Seite entsprachen, im Ergebnis aber den Sozialismus der Ulbricht-Ära zutiefst prägten.

Die Arbeiterpolitik des Regimes war von Anfang an durch einen nicht aufzuhebenden Zwiespalt charakterisiert: Der Legitimitätsanspruch der SED hing an der Arbeiterschaft als geschichtsphilosophischer Konstruktion. Die Zukunftschancen der DDR als Industriegesellschaft hingen dagegen an der Arbeit der Arbeiter. All die Hennecke-Kampagnen, Wettbewerbe, Anreize, Orden, Disziplinierungsmaßnahmen und Brigadebewegungen, deren wechselvolle Geschichte Kleßmann nicht ohne einen Schuss wohltuender Ironie schildert, sollten nichts anderes bewirken, als beide Ebenen in Einklang zu bringen. Viel Aufmerksamkeit schenkt Kleßmann in diesem Zusammenhang der Transformation des „Betriebs“ und dem FDGB, der meist unter dem Stichwort „Transmissionsriemen“ abgelegt und zu Unrecht wenig beachtet wird. Tatsächlich war es aber die Riesenorganisation der „Gewerkschaft“, die sich in den fünfziger Jahren zur allgegenwärtigen Erziehungs-, Mobilisierungs-, Sozialversicherungs- und Integrationsinstanz entwickelte. Da der Markt und seine Zwänge, die im 19. Jahrhundert aus der Vielfalt der Arbeiterexistenz erst so etwas wie eine „Klasse“ gemacht hatten, nicht mehr existierten, mussten seine Steuerungs- und Disziplinierungsfunktionen durch außerökonomischen Druck, Lockung und Appelle ans „richtige Bewusstsein“ ersetzt werden. Der Erfolg war mäßig.

„Agency“ und autonomes Handeln von Arbeitern hatten ihren Ort natürlich nicht in der enteigneten und verstaatlichten Arbeiterbewegung, sondern in der Fabrikhalle, in der Brigade oder in den privaten vier Wänden. Die vielen Einzelinformationen, die Kleßmann aus der spröden Hinterlassenschaft von Partei, FDGB und Stasi sowie den illegalen Monatsberichten des Ostbüros der SPD destilliert, vermitteln eine Ahnung von der dichten und oft kritischen Alltagskommunikation unter Arbeitern. Mit dem heroischen Identifikationsangebot der SED hatte diese meist wenig zu tun, wenn auch die Resonanz auf manche Aktivistenkampagne das idealistische Aufbaupotential der 40er und 50er Jahre zeigt. Die Schwelle zum offenen, kollektiven Widerstand wurde allerdings nur einmal überschritten. Man fragt sich nach Kleßmanns sehr gelungener Darstellung des Juni-Aufstands und seiner Fernwirkungen, ob nicht eher der 17. Juni 1953 statt wie jetzt oft in Anschluss an Staritz der 13. August 1961 als „heimlicher Gründungstag“ der DDR vermerkt werden sollte. Auf Basis der beiderseits traumatisierenden Erfahrung spielte sich nämlich langfristig jener prekäre modus vivendi zwischen dem Staat und seiner „Klasse“ ein, der nicht nur bis zum Ende der DDR Bestand hatte, sondern dieses zum Gutteil mit verursachte. Offene Auflehnung hat es nicht mehr gegeben, dafür erzwungenes, murrendes Mitmachen auf Basis eines unausgesprochenen Gesellschaftsvertrags: Die Mehrheit der Arbeiter verinnerlichte die egalitären, kollektivistischen und antikompetitiven Ideale, die ihnen die sozialistische Utopie offerierte, ohne viel auf den ganzen ideologischen Bombast der SED zu geben. Zudem nahm sie die SED unerbittlich beim Wort, wenn diese soziale Sicherheit und Auskömmlichkeit versprach, war aber weder durch Druck noch Lockungen dazu zu bewegen, jenes selbstlose sozialistische Arbeitsethos zu pflegen, das die SED bis zum Überdruss propagierte. Die SED musste für die Sicherung ihrer Herrschaft einen hohen Preis zahlen: Alle Erziehungsanstrengungen prallten am Alltagssozialismus der kleinen Leute ab, die Kampagnen zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität liefen ins Leere, die Brigaden der sozialistischen Arbeit funktionierten als Orte sozialer Vergemeinschaftung, nicht aber als Institution zur Leistungsstimulierung, der „Modernisierungsresistenz“ der Arbeiter war mit den Technikutopien der späten Ulbricht-Jahre nicht beizukommen. Auch wenn die Kosten der sozialpolitischen Pazifizierung erst in der Honecker-Ära ins Unermessliche wuchsen, waren die Weichen für diesen Kurs letztlich 1953 gestellt worden: Zur Sicherung ihrer Herrschaft etablierte die SED ein Modell staatssozialistischer citizenship, das die Verweigerung politischer Rechte durch die nicht rückholbare Gewährung sozialer Rechte kompensierte – bis zum Ruin und mit anhaltenden mentalen Fernwirkungen.

Christoph Kleßmanns Geschichte der „Arbeiter im ‚Arbeiterstaat’ DDR“ ist nicht nur eine in jeder Hinsicht gelungene sozialgeschichtliche Studie, sondern ein Eckpfeiler jeder zukünftigen Gesamtdeutung der DDR-Geschichte. Zugleich ist sie ein eindrucksvoller Beweis dafür, dass die Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung ihre Relevanz und Erklärungskraft für die Geschichte der „Modernen“ des 20. Jahrhunderts noch lange nicht eingebüßt hat.

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