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Titel
Frühe Slawen im Gebiet zwischen unterer Weichsel und Elbe. Eine archäologische Studie


Autor(en)
Dulinicz, Marek
Reihe
Studien zur Siedlungsgeschichte und Archäologie der Ostseegebiete 7
Erschienen
Neumünster 2006: Wachholtz Verlag
Anzahl Seiten
432 S.
Preis
€ 50,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerson H. Jeute, Lehrstuhl für Ur- und Frühgeschichte, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Entstehung von Kulturen ist stets ein vieldiskutiertes Forschungsgebiet, insbesondere dann, wenn diese in den Zeitraum einer sich erst entwickelnden Schriftlichkeit fallen und die historische Forschung sich daher auf andere, beispielsweise auf archäologische Quellen beziehen muss. Da, wo diese Auseinandersetzungen gescheut werden, fallen ganze Regionen aus dem Blickwinkel einer europäischen Geschichtsbetrachtung, Regionen wie etwa Ostmitteleuropa, in dem die politischen Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte in Teilen auch zu einem neuen Geschichtsbild geführt haben. Die vorliegende Studie fragt daher nach dem Entstehen der westlichen und nordwestlichen Slawen während des 7. bis 9. Jahrhunderts und bezieht sich dabei vorrangig auf archäologische Materialien. Der Band basiert auf der Habilitationsschrift von Marek Dulinicz, die in Polen bereits vor einiger Zeit unter dem Titel "Kształtowanie się Słowiańszczyzny Północno-Zachodniej. Studium archeologiczne" (Warszawa 2001) erschienen ist, in den vergangenen Jahren jedoch wesentlich ausgebaut und um zahlreiche Literaturangaben ergänzt werden konnte. Die Arbeit stellt ein kompetentes Kompendium dar, nicht zuletzt, da der Verfasser sich bereits seit Jahrzehnten mit der Problematik beschäftigt. Studienaufenthalte in Deutschland und Polen haben ihn den einmaligen Ein- und Überblick verschafft, der noch in den 1970er und 1980er-Jahren nicht möglich gewesen wäre, obgleich damals im ehemaligen Ostblock die Erforschung der Slawen ein wesentliches Thema der archäologischen Wissenschaft war. Neben der größeren Freiheit im wissenschaftlichen Betrieb tritt nun eine erweiterte und vor allem präzisere Datenbasis auf naturwissenschaftlicher Grundlage. Als Quellengruppen für seine Untersuchungen stehen Dulinicz hauptsächlich Siedlungen sowie einige wenige Gräberfelder, Hort- und Einzelfunde zur Verfügung. Die archäologischen Ergebnisse werden durch die naturwissenschaftlichen Daten, wie erwähnt, entscheidend ergänzt und anschließend der historischen Überlieferung gegenübergestellt.

Dementsprechend gliedert sich die Arbeit: Dem recht knappen Kapitel "Stand der archäologischen Forschung" (S. 17-23) folgt die Darstellung der "Schriftquellen zur ältesten Geschichte der westlichen Slawen" (S. 24-38), die eben deswegen verhältnismäßig kurz ausfällt, weil es für den Zeitraum des 7. bis 9. Jahrhunderts nur wenige Quellen gibt. Es folgt mit den "Naturwissenschaftlichen Altersbestimmungen als Grundlage chronologischer Untersuchungen" (S. 39-64) das wichtigste und nachhaltigste Kapitel des Bandes. Dagegen ist der Abschnitt "Analyse und Chronologie der Funde" (S. 65-159) eher den traditionellen archäologischen Methoden verhaftet. Vom Umfang und der Thematik her als Hauptkapitel zu betrachten sind die Untersuchungen zu "Siedlung und Besiedlung" (S. 160-265). Entsprechend der geringen Quellenbasis folgt ein kurzer Abschnitt zu "Grabformen und Bestattungssitte" (S. 266-274). Ein auswertendes Kapitel (S. 275-287) und ein sehr ausführlicher und ausformulierter Katalog nebst einem Register und dem Literaturnachweis (S. 288-423) beschließen das voluminöse und leicht unhandliche Buch.

Nach wie vor steht in der ostmitteleuropäischen Frühgeschichtsforschung die Frage im Vordergrund, wann die Einwanderung der Slawen in das Gebiet zwischen Elbe und Oder sowie zwischen Oder und Weichsel erfolgte und aus welcher Region die Zuwanderer kamen. Wenn sie westlich der Oder im 6. Jahrhundert ankamen, hatten sie vielleicht noch Kontakt mit den Germanen. Im späten 7. Jahrhundert dagegen werden sie in einen weitgehend menschenleeren Raum gekommen sein. Die wenigen schriftlichen Quellen weisen auf den frühen Zeitraum, die archäologischen, vor allem aber die naturwissenschaftlichen, also dendrochronologischen Daten, setzen die Zuwanderung jedoch in das 8. Jahrhundert. Die meisten Daten sprechen für die erste Hälfte des 8. Jahrhunderts, teilweise sogar erst für die erste Hälfte des 9. Jahrhunderts. Archäologische Objekte die in das 6./7. Jahrhundert zurückgehen sind dagegen überwiegend kontextlose Einzelfunde. Sie waren in der traditionellen Archäologie wichtige Eckpfeiler, sind heute ohne zugehörige Siedlungs- oder Grabbefunde jedoch kaum noch von Wert. Ebenso sind Radiocarbondatierungen (C14-Methode) kritisch zu hinterfragen. Deutlich wird, dass sie aufgrund ihrer Ungenauigkeit als Datierungsmethode in der Frühmittelalterforschung nicht mehr herangezogen werden dürfen.

Die Entwicklung im Gebiet zwischen Oder und Weichsel geht nicht in allen Punkten den gleichen Weg, und so warnt Dulinicz auch zu recht davor, Erscheinungen im westlichen Grenzgebiet nicht ohne Weiteres auf den großpolnischen und pommerschen Raum zu übertragen. Diese Praxis wurde noch vor wenigen Jahren betrieben; nun kann jedoch durch die vergrößerte Datenbasis ein detailliertes Bild entworfen werden. Zur Lösung der Frage nach der Herkunft der Zuwanderer haben die Sprachwissenschaften das südliche Rußland und die Ukraine sowie den Raum südlich der Karparten vorgeschlagen. Das ebenfalls erwogene Oder-Weichsel-Gebiet entfällt nun jedoch als "Urheimat" der Slawen, wie Dulinicz mit seinen Ergebnissen unterstreicht. Eher randständig sind weitere Fragen der Frühslawenforschung, für deren Beantwortung traditionell die Archäologie bemüht wurde: Wo lag die civitas Dragoviti, die Karl der Große während seines Feldzuges im Jahre 789 besuchte? Wo befanden sich die Brücken über die Elbe, die er bauen ließ? Wo lag das berühmte Heiligtum Reric? Antworten darauf werden noch auf sich warten lassen, da ähnlich wie bei Fragen der ethnischen Zugehörigkeit 1 eine präzise Zuweisung von Befunden zu konkreten Ereignissen und Namen ohne weiterführende schriftliche Erläuterungen – die ja in diesem Falle fehlen – kaum möglich ist.

Auch für das Kapitel "Siedlung und Besiedlung" werden zunächst die schriftlichen Quellen ausgewertet. Diese bieten jedoch nur spärliche Angaben, da sie sich auf militärische und politische Ereignisse ab dem 9. Jahrhundert konzentrieren. Aus den Beschreibungen geht immerhin hervor, dass die slawischen Häuser in die Erde eingetieft waren und aus Holz bestanden. Dulinicz unterteilt nun die archäologisch bekannten Gebäude in vier Gruppen: ebenerdige Wohngebäude, eingetiefte Wohngebäude, ebenerdige Nebengebäude und eingetiefte Nebengebäude. Eine solche Unterteilung ist jedoch nicht unproblematisch; sie kann nur bei guter Befunderhaltung und unmittelbar während der Ausgrabungen vorgenommen werden. Sicherlich wird es Übergangstypen sowie Nutzungsänderungen und Parallelnutzungen gegeben haben, vor allem bei der Einwanderergeneration und ihrer vorrangig landwirtschaftlichen Lebens- und Wirtschaftsweise. Da er sich der Problematik bewusst ist, stellt Dulinicz weitere Klassifikationen vor, die wiederum recht kleinteilig und kompliziert sind und somit den einfachen Bauten selten gerecht werden. Zu all seinen Gruppen beschreibt er ausführliche Beispiele und liefert zahlreiche Abbildungen, die zudem auf gleichen Maßstab und Strichstärke umgezeichnet wurden. So ist ein Vergleich wesentlich besser möglich, als wenn man sich bei jeder Zeichnung erneut in den Zeichenstil einlesen muss. Zu den eingetieften Nebenbauten werden allerdings auch Brunnen gezählt. Diese hätten ohne Weiteres einer eigenen Gruppe zugeordnet werden können.

Von siedlungsgeschichtlich größerer Bedeutung ist das Kapitel "Struktur, Größen und topographische Lage der offenen Siedlungen" (S. 219-243). Auch hier gibt Dulinicz zu Beginn zunächst eine Klärung der Terminologie. Deutlich wird jedoch, dass es immer noch zu wenige großflächig und fast gar keine vollständig ergrabenen Siedlungen gibt. Dennoch bleibt die Frage nach der Struktur einer Siedlung vor allem für Zeiten der Transformation, ob einer frühslawischen oder einer hochmittelalterlichen, spannend. Sie kann ein Schlüssel zur Klärung ethnischer und sozialer Aspekte einer ländlichen Siedlung sein. Das Fazit von Dulinicz ist jedoch ernüchternd: Die frühslawischen Siedlungen sind so unregelmäßig, dass keine sinnvolle Interpretation möglich ist. Festzustellen ist lediglich, dass die Siedlungen in Polen wesentlich kleiner als am Dnjestr oder an der Donau sind; sie wurden so angelegt, dass sie Zugang zu den unterschiedlichsten Bereichen der Umwelt besaßen. Die vorgelegte Studie stellt eines der wichtigsten Werke der letzten Jahre zur slawischen Einwanderung zwischen unterer Weichsel und Elbe dar, die ihren Wert in den nächsten Jahren nicht verlieren wird.

Anmerkung:
1 Vgl. Brather, Sebastian, Ethnische Interpretationen in der frühgeschichtlichen Archäologie. Geschichte, Grundlagen und Alternativen, in: Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 42, Berlin 2004.

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