U. Küppers-Braun u.a. (Hrsg.): Wunderglaube

Titel
Anfechtungen der Vernunft. Wunder und Wunderglaube in der Neuzeit


Herausgeber
Küppers-Braun, Ute; Nowosadtko, Jutta; Walz, Rainer
Erschienen
Anzahl Seiten
287 S.
Preis
€ 27,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Emden, Department of German and Slavic Studies, Rice University

Womit können Historiker schon besser ihre Zeit verbringen als mit der ferngesteuerten Heilung von Schusswunden, unter Strom gesetzten Ehebetten, gepfählten Säuglingen, Vampiren, wilden Kindern, Fußballtoren oder der Vorliebe für Käse? Es geht natürlich um die Kulturgeschichte des europäischen Wunderglaubens zwischen früher Neuzeit und Moderne, das heißt, von den Wissenschaften des Okkulten bis zur medientechnischen Aufbereitung des in den letzten Jahren immer wieder erneut beschworenen ‘Wunders von Bern’.

Die einzelnen Beiträge des vorliegenden Sammelbandes sind entstanden im Rahmen der Emeritierung Paul Münchs, der bis 2006 an der Universität Duisburg-Essen gelehrt hat. Trotz des konkreten Anlasses tragen nur wenige Aufsätze die bei ähnlichen Publikationen bisweilen anzutreffenden Zeichen von Gelegenheitsarbeiten. Die Beiträge verhandeln den Themenbereich von Wunder und Wunderglaube vor allem auf der Ebene von Kultur- und Gesellschaftsgeschichte und orientieren sich an den Fragstellungen der historischen Anthropologie, was für eine gewisse Fokussierung der einzelnen Themen sorgt.

Die von Rainer Walz verfasste Einleitung präsentiert Fragestellung und kulturhistorische Rahmung der folgenden Beiträge. Die naturwissenschaftliche Wende der frühen Neuzeit mag traditionelle epistemische Autoritäten zwar zunehmend in Frage stellen, was durchaus zu einer Spannung führt zwischen dem Wunderglauben und dem gesetzmäßigen Lauf der Natur, negiert allerdings nicht grundsätzlich den Begriff des Wunders. Dies hat freilich viel zu tun mit der Stellung christlicher Religion, deren intellektuelle Vorstellungswelt einerseits die Entwicklungen der Scientific Revolution begleitet und deren politische Autorität in Europa bis tief ins 19. Jahrhundert fast ungebrochen Geltung besitzt. 1

Dieses Spannungsverhältnis ist auch Gegenstand der folgenden Beiträge von Rainer Walz und Gerhard Klier, die dem Verhältnis von Wunder und Natur am Beispiel der okkulten Qualitäten in der Scientific Revolution und medizinischen Erklärungsmustern nachspüren. Walz zeigt am Beispiel des Wittenberger Arztes Daniel Sennert und des von ihm angestoßenen Streites um die ‘Waffensalbe’ noch einmal die enge Verbindung von neoplatonischer Ideenwelt und naturwissenschaftlichen Erklärungsweisen im 17. Jahrhundert. 2 Dass die mit Salbe bestrichene Schusswaffe noch lange nicht die von ihr verursachte Wunde zur Heilung bringt, führt jenes Problem vor Augen, dem sich gerade die frühneuzeitliche Medizin stellen muss: den Kausalzusammenhang zwischen Krankheit und Heilung. Klier verfolgt die Entwicklung dieses Problems anhand der neuzeitlichen Medizingeschichte von der Renaissance bis ins 18. Jahrhundert und zeichnet die langsame Verschiebung des medizinischen Paradigmas von der Wunderheilung zu einer ‘Technik des Begreifens’ nach, die medizinisches Wissen zunehmend von der Theologie ablöst und zugleich eine auf Experimentalmethoden beruhende Spezialisierung des medizinischen Diskurses einleitet. Dennoch sollte das historische Verhältnis zwischen Religion und wissenschaftlicher Erkenntnis weder auf einen bloßen Konflikt reduziert noch im Rahmen einer bloßen Fortschrittsgeschichte verhandelt werden. 3

Das in den ersten beiden Beiträgen angerissene Spannungsverhältnis zwischen Wunder und Natur bildet auch den Hintergrund der folgenden Aufsätze, die sich der religiösen Erfahrungswelt des Wunderglaubens in Europa widmen. Ute Küppers-Brauns exzellenter Beitrag über Taufwunder untersucht die vermeintliche kurzzeitige ‘Erweckung’ totgeborener Säuglinge in österreichischen und deutschen Wallfahrtsorten: Der Tod des Kindes vor der Taufe und damit dessen gleichsam automatischer Eingang in eine Art ‘Kindergarten der Hölle’ kann für die trauernden Eltern nur kompensiert werden durch die scheinbare Wiedererweckung der Säuglingsleiche, das heißt, durch vermeintliche Lebenszeichen, die eine Nottaufe ermöglichen. Interessant ist hierbei die zunehmende theologische Kritik an Not- und Wundertaufen, die der Trauer- und Sepulchralkultur der Laien entgegenläuft, aber auch das Nord-Süd-Gefälle: die Erweckung der Säuglinge, so scheint es, bleibt ein vor allem österreichisches Phänomen, während in Westfalen oder im nördlichen Rheinland durch unterschiedliche Formen der Frömmigkeit die Nottaufen keine große Verbreitung finden.

Marlies Mattern widmet sich der Wunderheilung und dem Wunderglauben unter religiösen Gruppierungen in England in der Pufferzone zwischen Scientific Revolution und traditionellen Formen des Christentums, während Petra Schwarz die Tradierung von Wundern am Beispiel Benedetto Croces doch etwas seltsam anmutenden Interesses für einen italienischen Wunderbericht aus dem 16. Jahrhunderts verfolgt. In ihrem kenntnisreichen Aufsatz präsentiert Erika Münster-Schröer die erschreckende Fallgeschichte eines Hexenprozesses vor dem Düsseldorfer Hauptgericht im Jahre 1738, das – wie kann es auch anders sein – zur prompten Hinrichtung einer 48-jährigen Frau und eines 16-jährigen Mädchens führt. Gerade in diesem Beitrag werden die regionalen Grenzen des Aufklärungswillens im 18. Jahrhundert deutlich, denn im Spannungsfeld zwischen Rekatholisierung, populärem Aberglauben und dem Fehlen einer kritischen bürgerlichen Öffentlichkeit lässt sich die Verbrennung der beiden Frauen von vornherein kaum verhindern.

In einer interessanten Verbindung zwischen lokalgeschichtlicher Fallstudie und ideengeschichtlichem Hintergrund beschäftigt sich Martin Tabaczeks Beitrag mit den Erweckungsbewegungen im Kreis Minden, deren Entwicklung im 19. Jahrhundert zu Recht im Kontext der wesentlich älteren Tradition der protestantischen “Schwärmerei” verhandelt wird. Hierbei zeigen sich verblüffende Ähnlichkeiten zwischen den ostwestfälischen Erweckungsbewegungen, dem württembergischen Pietismus sowie dem Katholizismus um 1850. Ein Verdienst dieser lokalgeschichtlichen Perspektive ist die implizite Forderung, die Landschaft religiöser Denkstrukturen jenseits der kulturellen und intellektuellen Zentren wie etwa Berlin, Hamburg und München als Reaktion auf die verspätete Modernisierung der deutschen Provinz zu lesen. Auch die ostwestfälischen Erweckungsbewegungen verlaufen letztlich als Kompensationsstrategien, die die Erfahrung verspäteter Modernisierung in den Griff zu bekommen suchen und sich damit in einiger Entfernung bewegen zu der offiziellen Konvergenz von Protestantismus und Nation. 4

Hansjörg Bruland, Markus Bötefür und Jutta Nowosadtko setzen in ihren Beiträgen den Begriff des Wunders in einen engen Zusammenhang zu der Wahrnehmung des Exotischen. Hierbei sticht besonders Nowosadtkos detailreicher Aufsatz über die konfessionell geprägten Auseinandersetzungen mit dem südosteuropäischen Vampirglauben um 1800 hervor. An der schmalen Grenzen zwischen Aberglaube und Wunderglaube erweist sich, dass sowohl die protestantische als auch die katholische kirchliche Autorität in einer seltsamen Mischung von Aufklärung und theologischem Eigeninteresse den Vampirglauben als abstruse Verwirrung bekämpfen, während die orthodoxe Kirche eine erstaunliche Toleranz gegenüber lokalen Formen des Aberglaubens an den Tag legt.

Michael Maurer und Klaus Deinet wiederholen in ihren Aufsätzen zur Stellung des Wunders in der Aufklärung und zur Funktion des Wunderglaubens in der Französischen Revolution noch einmal die bereits wohlbekannte These einer engen Verschlingung von religiöser Erfahrung und politischer Rationalität, während Axel Heimsoth, Siegfried Gehrmann und Thomas Knubben gewissermaßen den Sprung in die technische Moderne wagen. An ausgewählten Beispielen – von der Einführung der Eisenbahn über die Popularisierung des Okkultismus am Vorabend des Dritten Reiches bis hin zur medientechnischen Aufbereitung der Fußballweltmeisterschaft von 1954 – verfolgen sie die kontinuierliche Präsenz eines zunehmend theologisch entleerten Wunderglaubens in der technischen Moderne. Am Ende des Bandes wird zwar deutlich, dass auch in einer säkularisierten Moderne der Wunderglaube nicht verschwindet und zudem politischen aufgeladen wird, aber zumindest im deutschsprachigen Raum bleibt die Rede vom Wunder vor allem ein geflügeltes Wort. Kritisch anzufragen wäre hier, wie sich diese Geschichte verhält zu Entwicklungen im katholischen Südeuropa und zu der bizarren Popularität eines religiösen Wunderglaubens in den USA, der in den letzten Jahrzehnten Eingang in den kulturellen mainstream gefunden hat und zunehmend die öffentliche Rezeption wissenschaftlicher Forschung untergräbt.

Die in diesem Band versammelten Aufsätze bereiten dem Leser eine spannende Lektüre, auch wenn sie bisweilen etwas uneben sind. Die Übergänge und Unterschiede zwischen theologischem Wunderdiskurs, populärem Wunderglauben und lokalem Aberglauben werden eher selten reflektiert. Zudem hätte der Band profitiert von einem Blick auf die frühneuzeitlichen Wunderkammern, auf die Ideengeschichte des Staunens sowie auf den Zusammenhang von Elektrizität, Spiritismus und Fotografie, der im 19. Jahrhundert auf den Plan tritt. 5 Gerade aus der Perspektive der Wissenschafts- und Mediengeschichte wäre hier einiges nachzuholen. Dennoch handelt es sich um einen sehr lesenswerten Sammelband, dessen Beiträge oft auf hohem Niveau argumentieren und zugleich viel Kurioses aus der Kulturgeschichte des Wunders zutage fördern.

Anmerkungen
1 Vgl. Lindberg, David C., Numbers, Ronald L. (Hrsg.), God and Nature: Historical Essays on the Encounter between Christianity and Science, Berkeley 1986.
2 Für eine präzise Zusammenfassung dieser ideengeschichtlichen Konfiguration vgl. Copenhaver, Brian P., “Natural Magic, Hermetism, and Occultism in Early Modern Science”, in: David C. Lindberg, Robert S. Westman (Hrsg.), Reappraisals of the Scientific Revolution, Cambridge 1990, S. 261-301.
3 Vgl. Brooke, John; Cantor, Geoffrey, Reconstructing Nature: The Engagement of Science and Religion, Oxford 1998.
4 Vgl. auch Ribbart, Christoph, Religiöse Erregung: Protestantische Schwärmer im Kaiserreich, Frankfurt/M. 1996, sowie Freytag, Nils, Aberglauben im 19. Jahrhundert: Preußen und seine Rheinprovinz zwischen Tradition und Moderne (1815-1918), Berlin 2003.
5 Vgl. z.B. Noakes, Richard, “‘Instruments to Lay Hold of Spirits’: Technologising the Bodies of Victorian Spiritualism,” in: Iwan Rhys Morus (Hrsg.), Bodies/Machines, Oxford 2002, S. 125-163. Daston, Lorraine; Parks, Katherine, Wonders and the Order of Nature, 1150-1750, New York 1998. Matuschek, Stefan, Über das Staunen: Eine ideengeschichtliche Analyse, Tübingen 1991.