A. Gerstner u.a. (Hrsg.): Der neue Mensch

Titel
Der neue Mensch. Utopien, Leitbilder und Reformkonzepte zwischen den Weltkriegen


Herausgeber
Gerstner, Alexandra; Könczöl, Barbara; Nentwig, Janina
Erschienen
Frankfurt am Main 2006: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
XIV, 184 S., 14 Abb.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rüdiger vom Bruch, Institut für Geschichtswissenschaften Lehrst. für Wissenschaftsgeschichte, Humboldt-Universität zu Berlin, z.Zt. Historisches Kolleg, München

Wie neu ist der Neue Mensch – das haben sich die Herausgeberinnen selbst immer wieder gefragt, auf uralte Topoi wie die Überwindung des alten Adam oder auf eine seit dem 18. Jahrhundert zunehmende Überzeugung von der Machbarkeit der Welt verwiesen, für diesen Band aber mit guten Gründen vornehmlich die 1920er-Jahre ausgewählt. Herausgeberinnen wie der gesamte Mitarbeiterkreis strebten auf der zugrunde liegenden, durchweg von Nachwuchswissenschaftler(inne)n bestrittenen Tagung im Rahmen der Studienstiftung eine hohe interdisziplinäre Bandbreite der Zugriffe an und konzentrierten sich eben darum auf einen schmalen Zeitraum, geprägt durch die Katastrophenerfahrungen der Kriegsjahre und die politischen, sozialen und kulturellen Nachkriegserschütterungen in einem „Zeitalter der Extreme“.

Freilich wäre interessant, wie spezifisch umgebogen durch jene Verwerfungen, wie anschlussfähig die hier präsentierten Neue-Mensch-Konzeptionen waren, bedenkt man eine bereits um 1900 auffällige Verdichtung von Modernitäts-, Reform-, Sinnsuche-Programmen im Zeichen kultureller Orientierungskrisen und eines massengesellschaftlichen Persönlichkeitspathos, immer wieder im Rückgriff auf Nietzsche, in den schillernden Verästelungen von Lebensreform-Bewegungen und einem vielfach verfügbaren Lichtapostel Fidus, im ästhetisch-religiösen Tasten nach Bünden neuer Menschen von Rudolf Steiner bis Stefan George, in jenem Zentralthema mit Variationen, das geburtständischem Adel einen neuen Geistesadel gegenüber hielt, oder aber in einem vermeintlich wissenschaftlich erprobten, unentrinnbaren biologischen Determinismus, der den Arier als neuen Menschen kündete und in den 1930er-Jahren zum Wandel von ideologischer zu physischer Ausgrenzung ansetzte. Solche Koordinatennetze sind im Blick zu behalten, eher implizit, denn das Verdienst dieses Bandes liegt in einer thematischen Zusammenführung sehr unterschiedlicher disziplinärer Analyseebenen.

Der erste Teil entfaltet konträre utopische Leitbilder, einsetzend mit Claudia Bahmers Blick auf André Malraux als „l’homme nouveau“, wie er 1930 porträtiert wurde, in der Verknüpfung von außenorientierter Tat und künstlerischem Schöpfungsakt. Wie spezifisch französisch war diese Debatte, schaut man nach Italien und Deutschland Anfang der 1920er-Jahre? „Völlig neu und eigenartig“, so präsentiert Alexander Schmitz die „Instituierung des ganzen Menschen bei Carl Schmitt“ im Sinne bedrohlicher, freilich ganz unsentimentaler Vereinnahmung und in bemerkenswerter Nähe zu Georg Simmels Soziologie. Widerborstig unter dem Deckmantel Utopien, wenn als philosophisch-anthropologischer U-topos auch durchaus nicht herausfallend, liest sich Nele Schneidereits Musterung von Helmuth Plessners Beharren auf realen Verknüpfungen zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, ein nüchterner Protest gegen jedwede arkadische „ideale Gemeinschaft“.

Auf konkrete Leitbilder „neuer Menschen“ zielt der zweite Teil, in dem zunächst Alexandra Gerstner Richard Coudenhove-Kalergi als „neuen Europäer“ entmythologisiert in einer befremdlichen und wohl doch zeittypischen Gemengelage zwischen Konservativer Revolution, Züchtungsvorstellungen und pazifistischem Antinationalismus. Als Ahnherr eines vereinten Europa taugt der Graf wohl kaum, umso hilfreicher diese kontextgeleitete Historisierung. Aus der Sicht der Literaturwissenschaft beleuchtet Marcel Lepper die Barockfaszination während der Weimarer Republik – der neue Mensch als „barocker Held“ – im Sinne wahlverwandter Krisenhaftigkeit. „Revolution des Körpers“ überschreibt Frank Becker seinen Beitrag zu einer ideologienübergreifenden Sportbewegung mit ähnlicher Ausrichtung in unterschiedlichen Gesellschaftsentwürfen, ähnlich auch im jeweiligen Verwissenschaftlichungsanspruch der neuen Körperlichkeit. Sonja Levsen mustert im Rahmen einer Tübinger Fallstudie schon 1916 einsetzende studentische Visionen einer neuartigen Führungsrolle in einer neuartigen Volksgemeinschaft; Hingabe an das Vaterland als „Aufgabe“ der Persönlichkeit durchaus im doppelten Wortsinn. Max Weber wusste genau, warum er während des Krieges in seinem Vortrag „Wissenschaft als Beruf“ vor Münchener Freistudenten vor Erlebnispathos und Politisieren warnte.

Im dritten Teil geht es um neue Menschen im Rahmen allgemeiner Reformkonzepte. Martina Steber beleuchtet eine Erziehung zum „Heimatmenschen“ im pädagogischen Diskurs der Weimarer Republik, der auch hier an Vorkriegstendenzen einer Lebensreform von rechts anknüpft, freilich mit spezifischer Verschärfung – eine „totale“ Heimat erfordere nun „totale“ Heimaterziehung zum Volksganzen. Spannend liest sich die kunsthistorische Analyse von Janina Nentwig zum rätselhaften Bild „Fleisch und Eisen“ des Veristen Georg Scholz von 1922 im Sinne hierarchischer Prostitution von Arbeiterin und Unternehmerin und als Menetekel deutscher Abhängigkeit vom internationalen Kapital, ein eher verstörender neuer Mensch also. Abschließend mustert Diana Zitzmann „Neuer Mensch – Neues Wohnen?“ am Beispiel der Leningrader Avantgarde-Architektur 1929-1931; trotz ihres radikalen Fortschrittsglaubens brachen sich die Visionen dieser sowjetischen Architekten und Stadtplaner an Zwängen des Massenwohnungsbauens. Was unterscheidet, was verbindet sie mit vergleichbaren Konstellationen westlich der Sowjetgesellschaft? Der mit Frankreich eröffnende, mit der Sowjetunion endende, im übrigen auf die Weimarer Republik konzentrierte Band bestätigt die Leistungsfähigkeit eines interdisziplinären Verbundes mit vorrangig mentalitätsgeschichtlicher, aber eben nicht nur geschichtswissenschaftlicher Ausrichtung. Er lädt, was diese Beiträge selbst nicht leisten konnten, zu intensiven synchronen internationalen wie auch zu diachronen Vergleichen für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ein. „Neuer Mensch“ taugt für weiteres Nachfragen.

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