N. M. Kay: Epigrams from the Anthologia Latina

Cover
Titel
Epigrams from the Anthologia Latina. Text, translation and commentary


Autor(en)
Kay, Nigel M.
Erschienen
London 2006: Gerald Duckworth
Anzahl Seiten
VIII, 388 S.
Preis
£ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Habermehl, Die griechischen christlichen Schriftsteller, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

Zu den Kuriositäten der römischen Literatur gehört auch die Anthologia Latina – die ihren Titel wohlgemerkt erst seit dem 18. Jahrhundert trägt (seit Burmans editio maior von 1759-1773; der ursprüngliche Titel ist nicht überliefert). Diese wohl im 6. Jahrhundert n.Chr. in Nordafrika, zur Zeit der Vandalen entstandene Sammlung vereinte eine Fülle lateinischer Gedichte verschiedenster Provenienz, von der späten Republik bis zum Ausklang der Antike. Ihre Genese liegt im Dunkeln; ebenso ungeklärt sind Umfang und Inhalt der ursprünglichen Sammlung, insbesondere die Frage, inwieweit jene sich mit unserem Hauptzeugen für ihren Text deckt, mit dem legendären, gegen 800 n.Chr. in Mittelitalien geschriebenen Codex Salmasianus.1 Hohe Dichtung steht in der Anthologia unvermittelt neben verspieltem Manierismus (Akrosticha, Buchstabenrätsel, Centos und dergleichen mehr); Gelegenheitsprodukt und spätes Epigonentum trifft auf Klassiker wie Seneca und Petron. Wie in jeder umfänglichen Gedichtsammlung gibt es Belangloses und Ephemeres; doch birgt die Anthologia auch Raritäten und Preziosen, die zu Unrecht in Vergessenheit geraten sind.

In der Neuzeit hatte die Anthologia durchaus Glück mit ihren Editoren, von Pithou über Riese zu Baehrens und Shackleton Bailey. Auch zu Fragen der Überlieferungsgeschichte und Textkritik gibt es eine Reihe solider Untersuchungen. Spärlich vertreten sind hingegen literarische Studien (wie ein Solitär steht H. Happs exquisiter "Luxurius" von 1986 auf einsamer Flur). Im universitären Alltag begegnet man der Anthologia noch seltener als selbst Plinius senior, Frontin oder Manilius – mit anderen Worten: nie. Und in keiner einzigen modernen Sprache existiert meines Wissens eine Übersetzung ihrer Texte (in Planung ist allerdings eine populäre lateinisch-deutsche Ausgabe). So ist es ein Glücksfall, dass ein ausgewiesener Kenner des lateinischen Epigramms sich auf die Anthologia eingelassen hat. Dem Londoner Latinisten Nigel M. Kay verdanken wir zwei vorzügliche Editionen mit Text, Übersetzung und reichem Kommentar zu den Epigrammen des Ausonius (2001) und zu Martial, Buch XI (1985). Ein geistesverwandtes Projekt hat er für seine neue Ausgabe ausgewählt. Neben dem Poesiealbum des Luxurius (AL 287-375 R.² ~ 282-370 SB) enthält die Anthologia zumindest einen zweiten geschlossenen Zyklus in Buchlänge, AL 90-197 R.² ~ 78-188 SB mit über hundert Epigrammen und gut 650 Versen. Diesen Reigen eines talentierten anonymen Autors legt Kay hier zum ersten Mal in separater Edition vor.

In seinem Vorwort referiert und ergänzt Kay ältere Argumente für die Existenz eines solchen Zyklus (S. 1-7). Wichtig sind die Hinweise auf die bunte und ausgewogene Auswahl der Gedichte, deren thematischer Reichtum an Martial erinnert, ferner die Indizien für eine bewusste Anordnung zumindest eines Teils der Texte. Entstanden ist besagtes Buch unseres Anonymus (so zuerst Schetter, dem Kay folgt) wohl am selben Ort und zur selben Zeit wie die Anthologia insgesamt – im literaturbegeisterten Nordafrika der vandalischen Könige. So folgt im Vorwort sinnigerweise eine Skizze des Kulturbetriebs im zeitgenössischen Nordafrika (S. 7-14), aber auch ein Abriss der Überlieferungsgeschichte der Anthologia samt der relevanten Editionen (S. 14-18, 20-22); das Chaos von insgesamt sechs konkurrierenden Paginierungen und Nummerierungen lichtet die Konkordanz (S. 35-37).

Es folgen ein eigener Lesetext (S. 39-64; manche bedenkenswerte Konjektur steuerte namentlich Michael Reeve bei) und das Filetstück der Ausgabe, die jeweils von einer Prosaübersetzung eingeleiteten Kommentare zu den einzelnen Epigrammen (misslich ist die monotone Kopfzeile des Kommentars, die gut 300 Seiten Text schlicht als "Commentary" ausweist: wer ein bestimmtes Gedicht sucht, wird lange fluchend blättern, ehe er endlich fündig wird). Jedes Epigramm stellt Kay prägnant vor, wobei bei komplexen Gedichten der Vorspann schon einmal mehrere Seiten umfasst und fließend in eine Deutung übergeht. Die filigrane Textarbeit leistet der extensive Zeilenkommentar, für den Kay manches aus Burman, Baehrens und der überschaubaren Sekundärliteratur schöpfen konnte; der Löwenanteil seiner Beiträge und Lesefrüchte ist jedoch ureigenes Verdienst.

Ansprechende Beispiele für die poetische Qualität der Texte wie für Kays kompetenten Umgang mit ihnen liefern beispielsweise AL 168 SB (frugaler Badeluxus), AL 85 (ein antiautoritäres Klassenzimmer), AL 93 (die mythologische Ameise), AL 137 (ein hippophiler Staranwalt) oder AL 171 (ein bizarrer Katzentod). Jede Seite dokumentiert Kays extensives Lesepensum in der lateinischen Literatur von Plautus bis Prudentius, aber auch eine bodenständige Neugier für Realien jeglicher Couleur. Wer wüsste schon aus dem Stegreif, welche spezifischen Alltagsgüter das Holz des Erdbeerbaums vornehmlich liefert (Arbutus unedo L.; vgl. S. 213)? Auch dass die letzten Elefanten Nordafrikas erst in der Spätantike ausgerottet wurden, gehört nicht zwingend zum philologischen Allgemeinwissen; ob man freilich für den Maghreb eine eigene Spezies postulieren darf, die Kay (S. 360) leichthändig mit dem nur in den Dschungeln Westafrikas beheimateten Waldelefanten identifiziert (Loxodonta cyclotis), steht auf einem anderen Blatt. Astronomisch interessierte Leser kommen bei der Erklärung der rätselhaften machina sacra AL 128 auf ihre Kosten, die Kay einleuchtend als Himmelsglobus à la Archimedes deutet (an den antiken Astro-Computer von Antikythera 2 wird man kaum denken). Und einen rundum geglückten Schlussakkord setzt seine Exegese des ‚Epilogs’ AL 188, der das römische Zirkusgebäude kosmologisch als Himmelsgewölbe allegorisiert.

Oft genug gehen Kays Auskünfte merklich über das hinaus, was man erwartet hätte. Nur vereinzelt findet sich Gelegenheit für ergänzende Glossen am Seitenrand. S. 337 wäre etwa zu der Handschrift "Diez. B. Sant. 66" (ca. 800 n.Chr.) der Staatsbibliothek Berlin anzumerken, dass es sich wahrscheinlich um einen authentischen Teilkatalog der Aachener Hofbibliothek Karls des Großen handelt, der ersten ‚Staatsbibliothek’ des christlichen Abendlandes – was dieser Berliner Zimelie ihre eigene Aura verleiht. In der Einführung zu AL 97 wäre auch ein Hinweis auf Martial 6,39 am Platz, jenes köstliche Sittengemälde einer rührigen Dame von Welt, die ihrer Lust umsichtig genug am liebsten mit den beiden Hauskastraten frönt (und ihrem gehörnten Gatten deshalb ‚nur’ sieben Kuckuckskinder unterjubelt). Wohl nicht von ungefähr erinnert der aus rohem Holz gehauene Dichterling AL 120,8-10 an den grobschlächtigen Gartengott und Freizeitpoeten Priap.3 À propos Priap: die schöne Zeile AL 137,4 invasit iuvenem prodigiosa venus ist wohl weniger übertragen zu verstehen ("thoughts of monstrous intercourse overcame the young man" übersetzt Kay) als konkret-physiologisch: dem jungen Wüstling ‚schwillt die Ader’. AL 186, der vom Menschen gezähmte gewaltige Elefant, klingt wie ein Echo von Martials spect. 17 (quod pius et supplex elephas te, Caesar, adorat eqs.). Nicht von ungefähr kehrt der Topos von der wilden Natur, die sich der höheren (im Kaiser kulminierenden) Macht des Menschen beugt, in etlichen Zirkusgedichten des Spaniers (z.B. Mart. spect. 10, 29) oder auch in dem zu recht berühmten ‚Löwe-Hase-Zyklus’ in Buch 1 wieder (epigr. 6, 14, 22, 44, 48, 51, 60 u. 104).

Ob dieser prächtige Foliant eine Renaissance der Anthologia Latina einzuläuten vermag, wage ich nicht vorherzusehen – una hirundo non facit aestatem.4 Doch die verschworene Gemeinde treuer AL-Fans wird Kays neues opus entschieden begrüßen.

Anmerkungen:
1 Heute Paris Bibl. Nat. lat. 10318.
2 Vgl. "The Antikythera Mechanism Research Project" (<http://www.antikythera-mechanism.gr/>).
3 Vgl. z.B.: Appendix Verg. Priap. 2,1-2: ego haec, ego arte fabricata rustica eqs.; Hor. serm. 1,8,1-3: olim truncus eram ficulnus, inutile lignum eqs.; Priap. 10,4: lignum rude vilicus dolavit.
4 Nicht zugänglich war mir die offenbar dieser Tage erschienene parallele Ausgabe von: Zurli, Loriano, Unius poetae sylloge (Anthologia Latina, cc. 90-197 Riese = 78-188 Shackleton Bailey), Hildesheim 2007 (Bibliotheca Weidmanniana 11).

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension