A. Benjamin (Hrsg): Walter Benjamin and History

Cover
Titel
Walter Benjamin and History.


Herausgeber
Benjamin, Andrew
Reihe
Walter Benjamin Studies Series
Anzahl Seiten
260 S.
Preis
€ 32,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markus Bauer, University of Portsmouth

Der aktuelle kulturhistorische „turn“ kann Walter Benjamins komplexen Blick auf Phänomene der Vergangenheit zu seinen Vorläufern zählen. Auch seine Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ erscheinen als Geschichtstheorie einzigartig in der deutschsprachigen Philosophie. Dennoch ist ihre Wahrnehmung und Integration in der deutschen Geschichtswissenschaft oder -schreibung nur vereinzelt und/oder verkürzt in einer ‚alternativen’ Historiographie festzustellen. Dies verhält sich im englischsprachigen Bereich anders. So bezog sich 1983 etwa Benedict Anderson in seinen „Imagined Communities“ ausdrücklich auf Benjamin und den Philologen Erich Auerbach, als es um die theoretische Begründung der kommunikativen Struktur von Nationenbildung ging.1 Die breitgefächerte englischsprachige Universitäts- und Verlagslandschaft macht es möglich, innerhalb einer „Walter Benjamin Studies Series“ einen Band speziell den geschichtsphilosophischen Thesen zu widmen, die erstmals 1942 in Los Angeles posthum von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in dem hektographierten Heft „Walter Benjamin zum Gedächtnis“ publiziert wurden.

Werner Hamacher macht auf den ganz eigenen aktivierenden Zugang Benjamins zur Geschichte aufmerksam: „Was Benjamin in seinen Thesen ‚Über den Begriff der Geschichte‘ aufdeckt, ist die Zeitstruktur des politischen Affekts.“(S. 38) Diese liegt in einem Irrealis, denn: „In der politischen, auf Glück gerichteten Zeit ist die historische fundiert und von dieser Affektzeit muss deshalb jede Theorie der Geschichte — der geschichtlichen Erkenntnis und des geschichtlichen Handelns — ihren Ausgang nehmen.” (S. 38) Glück der Vergangenheit ist nur als Mögliches, aber nicht Realisiertes, somit als etwas Verfehltes zu begreifen. Von dieser Theorie der Affekte erhält Benjamins Politik ihren überraschenden Impetus zur eingreifenden Veränderung.2

Weitere Beiträge des Bandes nehmen Melancholie und Langeweile zum Ausgangspunkt. Rebecca Comay geht von einem eher psychoanalytischen Ansatz aus, um Fetischismus und Melancholie als Agenten einer ‚perversen’ Geschichtsschreibung zu profilieren. In ihnen würden Surrogate von Vergangenheit (ausufernde Memorialisierung und Musealisierung) und die Illusion einer intakten Gegenwart als Verweigerung der Auseinandersetzung mit der Todesverfallenheit der Geschichte erkennbar. Andrew Benjamin sieht hingegen Langeweile und Zerstreuung als „moods“ (Stimmungen) der Moderne: Gemeinsam definieren sie das „Massenindividuum“ und seine Zeiterfahrung. Es wartet an der Schwelle zur Zukunft auf die Befreiung. Nach Andrew Benjamin liegt hier eine Möglichkeit, den von Benjamin adressierten politisch Agierenden seiner Gegenwart zu beschreiben, aber nicht als Helden, sondern als verschlagen-pfiffigen Teil der Massen. Schwieriger zu folgen ist Rebecca Comays Lesart der politischen Anteile Benjaminscher Geschichtsdialektik im Lichte der biopolitischen Ansätze Giorgio Agambens und Deleuzes-Guattaris Rhizom-Theorie. Benjamins Vergangenheitsbezug habe sich in einem historisch sehr unterschiedenen Kontext artikuliert, daher könnten die Unterschiede der beiden aktuellen Ansätze nicht vorschnell mit diesen kurzgeschlossen werden.

Die „Erkrankung der Tradition“ sieht Philippe Simay bei Benjamin am Werke, arbeitet aber eine Neubestimmung von Tradition und Ethik heraus. Da seit dem Bekanntwerden der Realgeschichte des Kommunismus die ‚proletarische Variante’ der Barbarei nicht mehr geleugnet werden könne, müsse sich die Perspektive auf die ‚Opfer’ der Geschichte neu herstellen. Dimitrie Vardoulakis diskutiert die für Benjamins Geschichtsvorstellung zentrale Kritik am Historismus und führt die Entdeckung der Geschichte gerade auf die jeweiligen Unterdrückten zurück. Es sei die Kategorie des „Urteils“, die den Historiker als Subjekt der Geschichte in einem destruierenden Akt zur Geschichtsschreibung erst befähige.

Die Frage nach dem Subjekt und der emphatisch gedachten Rolle des Historikers findet bei Benjamin seine Lösung in einer Philosophie der Zeit, deren Beschreibung mehrere der Autoren versuchen. In einem „zitternden“ argumentativen Bogen erläutert Rainer Nägele die Dialektik von Benjamins Denkweise zwischen Brechtschem Materialismus und Kierkegaards Metaphysik. Robert Gibbs spürt den Zeitstrukturen nach, indem er Franz Rosenzweigs jüdische Kalenderzeit mit der christlichen und paganen sowie der von Benjamin in These XV aufgerufenen Evokation des revolutionären Kalenders vergleicht. Die Unterschiede nicht unterschlagend wird dabei die mögliche Rhythmik von Vergangenheit in der Gegenwart deutlich. Howard Caygill verlässt diese Ebene des Messianischen, um in Benjamins Werk die politische Theologie nachzuzeichnen, die das Modell des schachspielenden Automaten in These I als komplexe Metapher für das Verhältnis von Politik und Theologie entwirft. Caygill diskutiert die Kritik am Kapitalismus im Zusammenhang mit Carl Schmitt und Max Webers Protestantismus-Theorie.

Georges Didi-Huberman untersucht die zeitliche Struktur der Aura, die Benjamin in seinem für die Ästhetik und die Medientheorie folgenreichen Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ in den Mittelpunkt seiner Überlegungen zum modernen Verhältnis von Technik und Ästhetik gestellt hatte. Didi-Huberman sieht in der Aura vor allem „supposition“ am Werk – eine Haltung der aktiven Erwartung, der Vorwegnahme. Damit wird auch die Zeitstruktur der Aura der linearen Zeit entgegengesetzt; sie handelt vom „Ursprung“, der nicht der Beginn von Linearität ist, sondern einen Wirbel bildet, dem die folgenden Zeiten entspringen – Vergangenheit vergeht dann nicht einfach, sondern dieses Vergehen folgt einem eigenen Rhythmus.

Exemplifiziert Didi-Huberman seine Einsichten an Kunstwerken Barnett Newmans, so wird von David Ferris eine technizistische Metapher Benjamins für den Geschichtsverlauf kontextualisiert. Das Zitat lautet: „Will man die Geschichte als einen Text betrachten, dann gilt von ihr, was ein neuerer Autor von literarischen sagt: die Vergangenheit habe in ihnen Bilder niedergelegt, die man denen vergleichen könne, die von einer lichtempfindlichen Platte festgehalten werden.“3 Benjamin folgert, dass das eigentlich Historische sich nur einer zukünftigen Generation enthülle, also nur derjenigen „die Entwickler besitzt, die stark genug sind, um ein Bild zu fixieren, das nie zuvor gesehen wurde“(S. 24). Dass dieses „Jetzt der Erkennbarkeit“ (Hamacher) sich in dem modernen Ineinander von Technik und Ästhetik entfaltet, interessiert auch Charles Rice und Gevork Hartoonian, bei denen die Architektur und das Interieur auf ihren historischen Standort und ihre Funktion in Benjamins Argumentation gegen den historistischen Ansatz hinterfragt werden.

Insgesamt diskutieren die 13 Beiträge neue Zugänge zu Benjamins „Thesen“ auf teilweise hohem Niveau und profilieren damit zugleich ein Nachdenken über die Möglichkeiten und Funktionen von Geschichtsschreibung. Es könnte eine wünschenswerte Wirkung des Bandes sein, diesen Bezug auf Benjamin auch in der deutschsprachigen Szenerie anzuregen.

Anmerkungen:
1 Anderson, Benedict, Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, New York 1983.
2 Hamachers Beitrag liegt auch auf Deutsch vor: Hamacher, Werner, ‘Jetzt’. Benjamin zur historischen Zeit, in: Geyer-Ryan, Helga; Koopman, Paul; Yntema, Klaas (Hrsg.), Perception and Experience in Modernity. International Walter Benjamin Congress 1997, Amsterdam/New York 2002, S. 145-183.
3 Benjamin, Walter, Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. I.3., Frankfurt am Main 1980, S. 1238.

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