H. Berghoff: Zwischen Kleinstadt und Weltmarkt

Titel
Zwischen Kleinstadt und Weltmarkt. Hohner und die Mundharmonika. Unternehmensgeschichte als Gesellschaftsgeschichte (1857-1961)


Autor(en)
Berghoff, Hartmut
Erschienen
Paderborn 1997: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
670 S. mit 48 Abb.
Preis
€ 34,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernhard Lorentz, Humboldt Universität zu Berlin

Die deutsche Unternehmensgeschichtsschreibung erlebt zur Zeit eine ihr in diesem Ausmaß bislang unbekannte Konjunktur. Diese Tatsache, die sich auch an den Bemühungen großer Verlage um eine Profilierung in diesem Bereich ablesen läßt, beruht weniger auf der Erkenntnis innerhalb der Zunft vom Wert der unternehmenshistorischen Analyse, als vielmehr auf politischen, externen Faktoren. Es ist vor allem das Verhalten der Firmen in der NS-Zeit, das in den letzten drei Jahren in der Öffentlichkeit ein verblüffendes Interesse an den Forschungsergebnissen entstehen ließ.

Bei den Ergebnissen dieses anhaltenden Nachfrage-Booms bleiben meist theoretisch und methodisch innovative Ansätze außen vor. Im Gegenteil: es überwiegen Einzelstudien, die sich anhand "neuer" Fälle an immer wieder gestellten Fragestellungen abarbeiten. Der Tübinger Wirtschaftshistoriker Hartmut Berghoff hat dieser Tendenz innerhalb der Disziplin eindrucksvoll entgegengewirkt und eine wegweisende Studie eines einzelnen Unternehmens vorgelegt. Seine Untersuchung über den Trossinger Musikinstrumentenhersteller Hohner von der Gründung bis in die bundesrepublikanische Zeit verweist schon im Titel auf die Integration in das Gesamtkonzept der Gesellschaftsgeschichte, der die Analyse in der Darstellung konsequent verpflichtet bleibt. Explizit ordnet der Autor seinen Gegenstand in die dynamischen Veränderungsprozesse der Rahmenbedingungen während des Untersuchungszeitraums ein und betont folgerichtig die Außenbeziehungen von Unternehmen, ohne interne Prozesse zu vernachlässigen.

Berghoff operiert - ohne es explizit zu machen - mit einem Verständnis von innen und außen, das an Überlegungen der allgemeinen Systemtheorie angelehnt ist. Diese System/Umwelt Relation führt ihn zu den Begriffen "Anpassungsdruck" und "Handlungsvarianten", die seine Analyse der Unternehmensentwicklung durchgehend bestimmen (16).

Die 1857 im württembergischen Trossingen als handwerklicher Familienbetrieb gegründete Firma entwickelte sich schon bald nach den 1880er Jahren im Zuge einer einsetzenden Industrialisierung des Hauptproduktes der Harmonika zu einem Großunternehmen. Einige Aspekte der detailliert nachgezeichneten Unternehmensentwicklung in den ersten 50 Jahren, wie die frühe Exportorientierung verweisen auf generelle Tendenzen der deutschen Industriegeschichte. Gerade die ausgeprägte und extrem funktionale Verkäuferorganisation scheint indessen ebenso wie das unverwechselbare Markenzeichen Spezifika der erfolgreichen Hohnerschen Entwicklung gewesen zu sein, die das Erringen der Marktführerschaft einleiteten. Besonders war auch die hohe Arbeits- und geringe Anlageintensität bei Hohner, die vor allem aufgrund der großen Heimarbeitanteile und der geringe Maschinisierung eine Einordnung des Betriebes als Fabrik kaum zulassen. Immer wieder integriert der Autor die Analyse der Unternehmensstrategien, die vor allem nach der Jahrhundertwende wichtig werden, in die Untersuchung des regionalen Umfeldes und der sozialen Entwicklungsprozesse der Belegschaft innerhalb der ländlichen Umwelt Trossingens.

Berghoff gelingt es hierbei, die Entwicklung des Unternehmens in die Rahmenbedingung der deutschen Industriegeschichte einzubetten. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs wurde ein außergewöhnlich ausgeprägtes Filialnetz ausgebaut, das vor allem in der württembergischen Kernregion stark war und bis in die 1980er Jahre überlebte. Wie für viele deutsche Exportunternehmen bedeutete das Ende des Ersten Weltkrieges einen Einbruch, jedoch keine längerfristige Unterbrechung der Entwicklung. Schnell kehrte auch Hohner zu den alten Absatzmustern im Export zurück. Dennoch verlor der Marktführer nach dem Krieg gegenüber neuer Konkurrenz an Boden und büßte seine traditionelle Position zunächst ein. In der Zwischenkriegszeit rief auch der Eigentümerunternehmer Will Hohner wie viele seiner Kollegen in Anbetracht der drastischen Entwicklung auf dem Weltmarkt nach staatlichen Interventionen. Ebenso wie ein kurzes Zwischenspiel mit korporativen Experimenten stellten jedoch auch diese das Unternehmen längerfristig nicht zufrieden. Hohner kehrte in den zwanziger Jahren zu seinen "vertrauten Methoden der Marktbearbeitung" (288) zurück: dem aggressiven Wettbewerb und der innovativen Werbung.

Die Geschichte eines Familienunternehmens, auch das macht Berghoff überzeugend deutlich, ist aber immer auch die Geschichte der Eigentümerfamilie. Immer wieder erfährt der Leser von der Begabung und der Mentalität der Unternehmergeneration, der Frauen ebenso wie der Männer, und der Veränderungen der Machtverteilung.

Nach einer ungewöhnlichen Erfolgsentwicklung des Exports, die vor allem durch das Marktpotential der USA bestimmt wurde, setzte schon 1927/28 eine Sättigungskrise auf dem Harmonikamarkt ein. Inzwischen hatte sich Hohner durch mehrere Akquisitionen erheblich vergrößert ohne indessen die Organisationsstruktur des Betriebes maßgeblich zu verändern. Berghoff konstatiert einen relativen Entwicklungsstillstand und verpaßte Chancen in den zwanziger Jahren, die sich insbesondere in der fehlenden Rationalisierung und technologischen Weiterentwicklung, sowie der nur "halbherzig betriebenen Diversifizierung" (312) ausdrückte.

Dem Wegbrechen ganzer Märkte in der Weltwirtschaftskrise begegnete das Familienunternehmen sowohl mit einer internen als auch mit einer externen Krisenstrategie. Zunächst ermöglichte die "kohäsionsstiftende Wirkung der paternalistischen Unternehmenskultur" (353) die Weiterführung der Aktiengesellschaft als familiengeführte. Dabei spielte auch das Vertrauen der Hausbanken, insbesondere der Deutschen Bank und Disconto Gesellschaft, eine herausragende Rolle. Intern reagierte die Firma auf die Herausforderungen infolge der Krisen auf den Weltmärkten und nach 1931 auch auf den Heimmärkten mit einer innerbetrieblichen Modernisierung, die die Produktivität steigerte. Wie andere deutsche Unternehmen auch ging Hohner aufgrund dieser Maßnahmen, aber auch aufgrund der schon vor 1929 eingeleiteten Diversifikation, gestärkt aus der Krise hervor. Die zweite Krisenbekämpfungstaktik war das Marketing. Die Entwicklung der Marketingstrategien des Unternehmens zieht sich durch die Studie über den gesamten Untersuchungszeitraum und ist außerordentlich anschaulich und spannend geschrieben. Sie scheint indessen ein Spezifikum des Musikinstrumentenmarktes zu sein, was ihre Darstellung freilich nicht weniger lesenswert macht.

Die Machtergreifung der Nationalsozialististen leitete wie im ganz überwiegenden Teil der deutschen Industrie, soweit bislang bekannt, auch eine vorsichtige Gratwanderung der Unternehmensleitung zwischen Anpassung und Eigeninteressen ein. Hohner schien diese Strategie erfolgreich umzusetzen: Ökonomisch profitierte das Unternehmen erheblich von der anziehenden Binnenkonjunktur und Berghoff beurteilt die unternehmerische Anpassungsleistung an die Veränderungsdynamik der Rahmenbedingungen in dem sich etablierenden NS-System als insgesamt bemerkenswert. (390)

Detailliert verfolgt Berghoff die Auswirkungen des zunehmend politisierten und geregelten Wettbewerbs auf das Unternehmen. Die unternehmensinternen Bürokratisierungsprozesse infolge der staatlichen Interventionen und die negativen Auswirkungen von Bilateralismus und Devisenbewirtschaftung auf den Außenhandel werden deutlich beschrieben. Hier werden die Vorteile des methodisch/ theoretischen Ansatzes Berghoffs am deutlichsten.

Mit seiner detaillierten Untersuchung der Motivstränge der Unternehmerfamilie für die erfolgte Anpassung an den NS-Staat betritt Berghoff größtenteils im unternehmerbiographischen Bereich wissenschaftliches Neuland. Das scheinbar widersprüchliche Verhalten zwischen Dissens und Unterstützung einzelner persönlich bekannter Verfolgter des Regimes einerseits und dem rücksichtslosen Ausnutzen der Geschäftsmöglichkeiten, die das NS-System bot, andererseits stellt einen bislang wenig beachteten, aber möglicherweise weitverbreiteten Aspekt unternehmerischen Verhaltens im Nationalsozialismus dar. Auch hier wird die unternehmenshistorische Entwicklung in branchenspezifische, regionale, soziale und kulturelle Bezugsfelder integriert. Berghoff erreicht dadurch die Auflösung des abstrakten oftmals inflationär gebrauchten Begriffs der Politik und die anschauliche Demonstration der funktionalen Bedeutung desselben in den einzelnen Systemumfeldern des Unternehmens. Für diese gelungene Umsetzung seines Ansatzes lassen sich noch zahlreiche Belege in der Darstellung der Unternehmensentwicklung bis 1961, dem Einsetzen der nachhaltigsten Krise des Unternehmens, finden.

Auf der für Unternehmenshistoriker so typischen Suche nach den Gründen für den konstatierten Erfolg eines Unternehmens findet Berghoff in seiner Habilitationsschrift vergleichsweise triviale Antworten, die von den traditionellen Stärken des Unternehmens, Fertigungstechnik, Marktorientierung und Marketingstrategie ausgingen. Die Studie ist dabei sehr flüssig geschrieben und liest sich in einigen Passagen spannend wie ein Roman. Am Schluß verbleibt allein die Frage um wievieles zwingender die Argumentation und um wievieles einflußreicher damit die Studie wäre, wenn der empirische Gegenstand nicht der doch etwas besonders liegende Fall des Musikinstrumentenunternehmens Hohner, sondern ein anderes Unternehmen gewesen wäre. Dennoch: Der methodisch/ theoretische Zugang des Autors bleibt bemerkenswert innovativ und wegweisend. Durch die analytische Integration von Mikro- und Makroebenen entwickelt der Autor einen multidimensionalen Zugang, der es ihm ermöglicht die Beziehungsimpulse von Umwelt und Unternehmen in einem interdependenten Geflecht darzustellen. Damit erreicht er zweierlei, was dem Großteil der gegenwärtigen Unternehmensgeschichtsschreibung fehlt:

Erstens die Möglichkeit einer adäquaten Darstellung der multidimensionalen Vorgänge von den dynamischen Veränderungsprozessen eines Unternehmens und seiner Umwelt, die Berghoff mit den integralen Chiffren Markt und Region trefflich beschreibt. Seinen Marktbegriff hat der Autor dabei um die soziale Dimension erweitert. Nur auf diesem Wege wird das relationale Beziehungsgeflecht eines Unternehmens adäquat darstellbar und damit die Komplexität des Untersuchungsgegenstandes, an deren versuchter Reduktion ein Großteil der "Unternehmensgeschichten" scheitert, veranschaulicht. Zweitens erreicht er die Anschlußfähigkeit der Unternehmensgeschichtsschreibung an eine moderne theoriegeleitete Geschichtswissenschaft. Richtig stellt Berghoff dazu paradigmatisch fest: "Diese Beschränkung quasi auf die 'innere Unternehmensgeschichte' erklärt die Schwierigkeiten, die sowohl die Wirtschaftsgeschichte als auch die allgemeine Geschichtswissenschaft damit haben, die Ergebnisse der Unternehmensgeschichte aufzunehmen." (15) Es bleibt zu hoffen, daß die wegweisenden Signale aus Tübingen nicht ungehört unter den Unternehmenshistorikern verhallen.

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