Titel
Welfare in East and West. Hungarian Social Security in an International Comparison 1918-1990


Autor(en)
Tomka, Béla
Reihe
Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte - Beihefte 5
Erschienen
Berlin 2004: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
188 S.
Preis
€ 69,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Maria Hidvegi, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), Universität Leipzig

Globalisierung und demografische Entwicklung üben einen permanenten Druck auf die heutigen Wohlfahrtsysteme aus. So wird die Aufrechterhaltung des Wohlfahrtsstaates von Politik- und Sozialwissenschaftler/innen ebenso wie von Wirtschaftspolitiker/innen heftig diskutiert.1 Es ist daher zu begrüßen, dass mit dem vorliegenden Werk der Versuch unternommen wird, die verschiedenen Analyseversuche um eine historische Perspektive auf das gesamte kurze 20. Jahrhundert (1918-1990) zu erweitern und dabei jene Teile Europas zusammenzubringen, die fast 50 Jahre getrennt waren. Die als fünftes Beiheft des Jahrbuchs für Wirtschaftsgeschichte erschienene Studie stammt von einem ausgewiesenen Kenner des Metiers 2 und präsentiert die Ergebnisse von Forschungen, die der Autor – Dozent für neuere und Zeitgeschichte an der Universität Szeged (Ungarn) – 2001-2002 als Stipendiat der Alexander von Humboldt Stiftung am Zentrum für Vergleichende Geschichte Europas durchgeführt hat.

Allein mit der systematischen Analyse der Entwicklung des ungarischen Wohlfahrtsstaates zwischen 1918-1990 wird eine Forschungslücke geschlossen. Darüber hinaus öffnet Tomka mit der gezielten Untersuchung eines Staates, der als „late comer“ im Prozess der Industrialisierung gilt und danach lange Zeit realsozialistisch regiert wurde, eine neue Perspektive für die Forschungen über supranationale Tendenzen in der Entwicklung des Wohlfahrtstaates im 20. Jahrhundert. Diese Forschung ist zweifellos auch im Hinblick auf die Folgen der Osterweiterung der Europäischen Union von Bedeutung, da sich das Problem der Konvergenz in der Wohlfahrtsentwicklung immer klarer abzeichnet.3

Einleitend wird der Rahmen der Untersuchung abgesteckt. Bisherige Forschungen konzentrierten sich räumlich meist auf Westeuropa, zeitlich auf die Periode nach 1945 und thematisch auf die Wohlfahrtausgaben. Tomka bezieht in seine Analyse die Wohlfahrtssysteme von elf westeuropäischen Staaten sowie Ungarns ein und unterscheidet zwei Untersuchungsabschnitte: 1918-1945 und 1945-1990. Vier Variablen werden in Betracht genommen, die den einzelnen Kapitel der Arbeit entsprechen: Wohlfahrtsausgaben, die Rolle der Wohlfahrtsinstitutionen, Charakteristika der Wohlfahrtsrechte, Organisationsform der Wohlfahrtsprogramme.

Das erste Kapitel ist der Höhe der Wohlfahrtsausgaben im Vergleich zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, gemessen beispielsweise am Bruttoinlandsprodukt (BIP) gewidmet. Sowohl mit methodologischen als auch Schwierigkeiten der Datenbeschaffung begründet er die Reduzierung der Analyse auf die staatlichen bzw. staatlich geregelten Wohlfahrtsaktivitäten. Die Höhe der Wohlfahrtsausgaben misst er anhand von vier Definitionen, die immer auch weitere Elemente sozialer Ausgaben einschließen: 1. Sozialversicherungsprogramme (Unfall-, Renten-, Krankheits- und Arbeitslosenversicherung); 2. Sozialausgaben der Regierungen (ärztliche Versorgung, Rente, Wohnung, Arbeitslosigkeit), wozu nur für die erste Untersuchungsperiode (von 1890 an) Daten erhoben werden; 3. Die Definition der International Labour Organisation (ILO) von Ausgaben für die soziale Sicherheit, (öffentliche Ausgaben für Gesundheit, Familienunterstützung, Mutterschaftshilfe, Behindertenbeihilfe, sowie für Kriegsopfer, Überlebende und auch für Beamte). Dafür standen aus der zweiten Untersuchungsperiode zur Verfügung; 4. Die OECD-Definition von Sozialausgaben (ILO-Definition plus Bildung und Wohnungsinfrastruktur sowie Investitionen in den Wohlfahrtsektor). In Auswertung des umfangreichen statistischen Materials ergibt sich ein Bild des Wandels der Wohlfahrtsausgaben. Die in der ersten Hälfte des Jahrhunderts beachtlichen Unterschiede schwächten sich in den 1950er-Jahren deutlich ab. Dieser Prozess der Angleichung setzte sich in den nächsten zwei Jahrzehnten fort. Gegen Ende des zweiten Untersuchungszeitraums sind dann aber wieder deutlichere Unterschiede zwischen den Staaten in den Wohlfahrtsausgaben der westeuropäischen Staaten zu erkennen. Für Ungarn lässt sich aus Mangel an geeigneten Daten für die erste Untersuchungsperiode nur vermuten, dass der Anteil der Sozialversicherungsausgaben am BIP erheblich geringer war als in Westeuropa. In den ersten Jahrzehnten des kommunistischen Regimes setzte sich diese Entwicklung fort. Die Wohlfahrtsausgaben blieben sowohl gegenüber dem Stand der Zwischenkriegszeit in Ungarn selbst als auch gegenüber dem westeuropäischen Niveau zurück. Dass in den 1970er und 1980er-Jahren wiederum eine deutliche Angleichung zu erkennen ist, kann einerseits auf die Stagnation des ungarischen BIP sowie andererseits auch auf die Stagnation der westeuropäischen Wohlfahrtsausgaben andererseits zurückgeführt werden. Ungarn blieb also im gesamten Untersuchungszeitraum hinsichtlich der relativen Wohlfahrtsausgaben deutlich unter dem westeuropäischen Niveau, allerdings war der Unterschied in der Zwischenkriegszeit kleiner (trotz seines „late-comer“-Status’) und in der kommunistischen Periode größer (trotz Sozialleistungen als Legitimationsgrundlage des sozialistischen Staates) als in den bisherigen Forschungen dargestellt.

Im zweiten Kapitel werden die Strukturen der Wohlfahrtsysteme anhand von Typ, Einführungszeit und Entwicklung der Sozialversicherungsprogramme beschrieben. Am Beispiel von mehreren Ländern und unterschiedlichen Versicherungstypen konnte gezeigt werden, dass die strukturelle Entwicklung der Wohlfahrtsprogramme in Westeuropa zunehmend gleichartig verlief, besonders nach dem zweiten Weltkrieg. Diesem Trend war vor dem zweiten Weltkrieg auch das ungarische Wohlfahrtssystem gefolgt, insbesondere in Bezug auf die Art und den Zeitpunkt der Einführung der Sozialversicherungsprogramme. Nach der kommunistischen Machtübernahme schlug die ungarische Entwicklung jedoch einen deutlich anderen Weg ein. Mit der Abschaffung der traditionellen Institutionen der Armutsbekämpfung und mit zunehmendem Einfluss der Sozialpolitik auf andere Gebiete der Wirtschaftspolitik nahm die Sozialversicherung im ganzen Wohlfahrtssystem an Bedeutung zu. In der Arbeitsmarktpolitik beispielsweise wurden mit der angestrebten Vollbeschäftigung nur indirekte Ausgaben für Arbeitslosigkeit notwendig. Im Rahmen der Preispolitik wurden Wohlfahrtsmaßnahmen über die Subventionierung von Preisen realisiert. Die Ausdifferenzierung der Sozialversicherungsprogramme setzte sich zwar fort, aber mit anderen Prioritäten als in Westeuropa: die Effizienz der Produktion und die Mobilisierung der Arbeitskraft gewann in Ungarn oberste Priorität.

Im dritten Kapitel werden die sozialen Rechte in drei Dimensionen untersucht: erstens der Anteil der Sozialversicherten an der gesamten bzw. der aktiv arbeitenden Bevölkerung, zweitens die Kriterien für den Erhalt von Sozialleistungen sowie die Prinzipien der Festlegung der Höhe der Sozialleistungen und drittens die Höhe der Leistungen im Vergleich zum früheren Gehalt des individuellen Empfängers oder zum landesüblichen Durchschnittsgehalt. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde in Westeuropa fast die gesamte Bevölkerung von den Sozialversicherungssystemen erfasst so dass eine Angleichung zwischen den westeuropäischen Wohlfahrtssystemen zu beobachten war. Die Ursachen und Folgen dieser Konvergenz der Wohlfahrtssysteme in den einzelnen Ländern bleiben allerdings wenig beleuchtet. Das Ziel der Armutsbekämpfung wurde ersetzt durch das Streben nach der Aufrechterhaltung des Einkommensniveaus, was sich auch auf die Höhe der Sozialleistungen auswirkte. In Ungarn fiel der Anteil der Versicherten vor dem zweiten Weltkrieg viel bescheidener aus als in Westeuropa, die Höhe der Sozialleistungen lag aber über dem westeuropäischen Stand. Nach dem zweiten Weltkrieg erreichte der Anteil der Versicherten schnell das westeuropäische Niveau; die umfassende Versicherung der gesamten Bevölkerung wurde sogar eher erreicht als in den meisten Ländern Westeuropas. Allerdings sind in der politisch motivierten Diskriminierung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen, wie beispielsweise der Bauern, und in der Gleichgestaltung der Sozialleistungen durch die partielle Abschaffung früher erworbener Anrechte, deutliche Unterschiede zur westeuropäischen Entwicklung zu sehen. Seit den 1960er und 1970er-Jahren, nach Abschaffung der Diskriminierungsmaßnahmen, ist wieder eine größere Konvergenz zu beobachten. Allerdings lag das Niveau der Sozialleistungen am Ende des gesamten Untersuchungszeitraums wieder beträchtlich unter dem Westeuropäischen. Einzelne Elemente des Bismarckschen konservativ-korporativen Wohlfahrtsystems, wie etwa die Festlegung der Rentenhöhe oder der des Krankengeldes in Abhängigkeit von den eingezahlten Beiträgen, blieben während der gesamten Untersuchungsperiode erhalten.

Im vierten Kapitel widmet sich der Autor der Organisation – besonders der Rolle des Staates – und der Kontrolle des Sozialversicherungssystems sowohl seitens der Versicherten als auch der Versicherer. Diesem in der bisherigen Forschung wenig beachteten Zusammenhang kam in Ungarn besondere Bedeutung zu. Der Staat selbst räumte den Versicherten Kontrollrechte ein. Nach Einschätzung des Autors gab es dabei beachtliche Unterschiede in den jeweiligen Formen der Institutionalisierung der direkten Kontrollrechte der Versicherten. Mit der Ausbreitung und der erhöhten Komplexität der Wohlfahrtssysteme gewannen aber die indirekten Kontrollrechte immer mehr an Bedeutung. Im Vorkriegsungarn wurden social security-Gesetze zeitgleich wie in Deutschland, Österreich, Dänemark und Schweden eingeführt. Das ungarische Wohlfahrtssystem verfügte über ein hohes Maß an Selbstverwaltung. Die Besonderheit gegenüber den westeuropäischen Modellen, die den Bismarckschen Prinzipien folgten, bestand in der fortgeschrittenen Zentralisierung der Verwaltung. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde die ganze Sozialversicherung verstaatlicht und durch ein System verwaltet, das es in Westeuropa so nicht gab. Die Sozialversicherung lag in den Händen der Gewerkschaften, die aber selbst Teil der Machtstruktur des Einparteiensystems waren. Es gab daher weder direkte noch indirekte Kontroll- und Beteiligungsrechte seitens der Versicherten.

In seinem leider recht knapp gehaltenen Schlusskapitel widmet sich Tomka den Bestimmungsfaktoren für die Entwicklung der einzelnen Wohlfahrtssysteme. Dabei geht er verschieden Fragen nach: Warum wurden die Wohlfahrtsinstitutionen in den untersuchten Ländern zu unterschiedlichen Zeitpunkten eingeführt, warum funktionierten sie durch andere Mechanismen und warum folgten sie unterschiedlichen Entwicklungspfaden? Klassische Erklärungsansätze, wie beispielsweise die Diffusionstheorie, die Funktionalismustheorie, die Konflikt- oder Klassenmobilisierungstheorie werden dabei herangezogen und überprüft. Nach Ansicht des Autors kann die universelle Entstehung und Ausbreitung des Wohlfahrtsstaates durch die Funktionalismustheorie erklärt werden, die auf die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung fokussiert. Dagegen können die Unterschiede zwischen den westeuropäischen Ländern eher mithilfe der Theorien verstanden werden, die die politischen und institutionellen Faktoren in den Mittelpunkt stellen. Nach der Untersuchung von fünf möglichen Faktoren kommt der Autor zu dem Schluss, dass im ungarischen Fall keinem einzelnen Faktor eine ausschlaggebende Rolle zugeschrieben werden kann, vor allem nicht über einen längeren Zeitraum hinweg. Allerdings kam nach dem zweiten Weltkrieg dem politisch-ideologischen Faktor zweifellos eine besondere Bedeutung zu. Der Autor macht klar, dass in die Forschungen über die europäische soziale Konvergenz außer sozioökonomischen Faktoren auch die Art des Lebenszyklus, die sozialen Institutionen und die politische Entwicklung nach dem zweiten Weltkrieg mit einbezogen werden sollten. Die Entwicklung des ungarischen Wohlfahrtsystems belege vor allem die Bedeutung von politischen Faktoren.

Dem gut strukturierten Text der Untersuchung kommt die drucktechnisch anspruchsvolle Gestaltung des Buches zugute. Wertvoll sind die insgesamt 18 sehr detaillierten und dennoch leicht überschaubaren Tabellen (S. 119-165), die für einige Teilaspekte erstmalig Daten und Schätzungen bereitstellen. Im Appendix wird der Vergleich der Wohlfahrtsausgaben auf die Darstellung der Variations- und Deviationswerte ausgeweitet.

Anmerkungen:
1 Castles, Francis G., The Future of the Welfare State. Crisis Myths and Crisis Realities. Oxford 2004; Pelagidis, Theodore, Welfare state and democracy in crisis. Reforming the European model. Aldershot 2001; Lewis, Jane; Surender, Rebecca, Welfare State Change. Towards a Third Way? Oxford 2004.
2 Tomka, Béla, Western European welfare states in the 20th century. Convergences and divergences in a long-run perspective, in: International Journal of Social Welfare, 12(2003)4, S. 249-261.
3 Vgl. Ferrera, Maurizio, The Boundaries of Welfare. European Integration and the New Spatial Politics of Social Protection. Oxford 2005.

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