Titel
Gefangen im Großen Krieg. Kriegsgefangenschaft in Deutschland 1914-1921


Autor(en)
Hinz, Uta
Reihe
Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte, N.F. 19
Erschienen
Anzahl Seiten
392 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Edith Petschnigg, Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung, Graz

Kriegsgefangenschaft wurde im 20. Jahrhundert zu einem Massenphänomen, Millionen von Soldaten waren in den großen Kriegen des letzten Jahrhunderts mit dieser Extremsituation konfrontiert, die es für die Betroffenen erst zu bewältigen galt. Für sie begann ein neues Leben hinter der Front, ihr Schicksal lag in der Hand des Feindes. Während das Los der Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkrieges seit den 1990er-Jahren in zahlreichen Studien erhellt wurde, liegt die Lebenswelt der Kriegsgefangenen des Ersten Weltkrieges bis dato vielfach im Dunkeln. Uta Hinz nimmt sich in ihrer Studie eben dieses Themas an und beleuchtet das Schicksal alliierter Kriegsgefangener in deutschem Gewahrsam in den Jahren 1914 - 1921.

Bei dieser Darstellung handelt es sich um eine gekürzte und überarbeitete Fassung der Dissertation der Autorin „Not kennt kein Gebot? Kriegsgefangenschaft in Deutschland 1914–1921“, die im Jahr 2000 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg approbiert wurde. Eine in der wissenschaftlichen Forschung oftmals vergessene Geschichte zu rekonstruieren, war der Autorin Aufgabe und Auftrag zugleich. Nicht den militärischen, sondern den daraus resultierenden sozialen Dimensionen des Großen Krieges sollte nachgegangen und damit eine Überblicksdarstellung geschaffen werden – ein Versuch, der gelungen ist.

Das militärische Subsystem der deutschen Kriegsgesellschaft im Heimatgebiet, Theorie und Praxis des Kriegsgefangenenwesens bilden den zentralen Gegenstand der Untersuchung. Insgesamt befanden sich zu Kriegsende rund 2,4 Millionen ausländische Kriegsgefangene in den Lagern des Deutschen Reiches. Hinz will sich in ihrer Darstellung nicht auf eine Gefangenengruppe beschränken. Allen 13 in deutschen Lagern vertretenen Nationalitäten den gleichen Stellenwert einzuräumen, ist ihr dennoch nicht möglich. So widmet sie sich vor allem dem Schicksal der russischen und französischen Kriegsgefangenen, den beiden zahlenmäßig größten Gruppen, die darüber hinaus im Schnitt auch die längste Zeit in Lagern verbrachten. Als Fallbeispiel dient der Autorin der XIII. (Württembergische) Armeekorpsbezirk.

Zunächst beleuchtet Hinz die Ausgangsbedingungen des deutschen Kriegsgefangenenwesens und widmet dem Kriegsrecht und der Gefangenenfrage vor 1914 einen detaillierten historischen Rückblick, wobei sie insbesondere die Haager Landkriegsordnung von 1899/1907 – die rechtliche Grundlage des Kriegsgefangenenwesens im Ersten Weltkrieg – ausführlich darstellt. Handelte es sich bei dem Phänomen Kriegsgefangenschaft bis 1914 um keinen kriegsrelevanten Bereich, so brachte die Totalisierung des Krieges auch in dieser Hinsicht gewaltige Veränderungen mit sich: Ein in seinen Dimensionen bislang unbekanntes Lagersystem entwickelte sich, um dem Massenphänomen Kriegsgefangenschaft zu begegnen. Hinz widmet sich dabei insbesondere der Relevanz des Konzeptes des „totalen Krieges“ in Hinblick auf das deutsche Kriegsgefangenenwesen und geht unter anderem der Frage nach, inwieweit sich eine sukzessive erweiterte Kriegsführung auf den Gesamtkomplex Gefangenwesen auswirkte.

Eingehend analysiert die Autorin Organisation, Struktur und Entwicklung des deutschen Lagersystems anhand der drei Komponenten Konzeption, Intention und Praxis. Dem folgt eine anschauliche Darstellung des Alltagslebens der Kriegsgefangenen, im Besonderen der Bereiche allgemeine Fürsorge, Militärrecht, Ernährung und Arbeit. Erwähnung finden auch die religiöse Betreuung der Kriegsgefangenen sowie kulturelle Unterhaltungs- und Bildungseinrichtungen. Wie die Autorin bereits zu Beginn ihrer Studie anmerkt, wird dem Verhältnis zwischen Kriegsgefangenen und Zivilbevölkerung geringerer Platz eingeräumt, jedoch erhält die Leserschaft auch in diesem Bereich Einblicke in das Beziehungsgeflecht, das sich zwischen Zivilbevölkerung und Kriegsgefangenen entwickelte. Insbesondere freundschaftliche und intime Beziehungen zwischen deutschen Frauen und Kriegsgefangenen wurden als Landesverrat gewertet und oftmals dementsprechend geahndet. Ein Forschungsdesiderat stellt nach wie vor das Schicksal der diesen Verbindungen entstammenden Kinder dar.

Hinz geht auch den Aspekten und der Organisation des Kriegsgefangenenarbeitseinsatzes nach und analysiert eine Entwicklung, die vom Arbeitszwang bis zur Zwangsarbeit reichte. Es verwundert kaum, dass der Arbeitseinsatz in landwirtschaftlichen Betrieben von der Mehrzahl der Gefangenen als weitaus angenehmer empfunden wurde als der in gewerblichen Arbeitskommandos; auch war die Ernährungslage in der Landwirtschaft um vieles besser als im industriellen Bereich. Insgesamt stellte die Ernährungsfrage allerdings das organisatorische Problem des deutschen Gefangenenwesens schlechthin dar. Mangelernährung war bald an der Tagesordnung. Kriegsgefangene, die von ihren Heimatländern mit Lebensmittelpaketen versorgt wurden – Franzosen, Briten und Amerikaner – litten weniger unter Lebensmittelknappheit und Unterversorgung. Auch waren sie in weit geringerem Maße von Krankheit und Tod betroffen als osteuropäische Kriegsgefangene. Die höchste Todesrate wiesen kriegsgefangene Rumänen auf.

In einem letzten Punkt geht Uta Hinz der Repatriierungsfrage der Gefangenen nach, wobei sich auch hier erhebliche Differenzen zwischen den Nationalitäten zeigten. Während westliche Kriegsgefangenen rasch heimkehren konnten, mussten Russen teilweise bis 1921 in Deutschland verbleiben.

Zusammenfassend betrachtet, bietet die Studie einen umfassenden, auf breiter Quellenbasis recherchierten Überblick über das deutsche Lagersystem und die Lebenswelt der Kriegsgefangenen in deutscher Hand. Wünschenswert wären eine zahlenmäßige und örtliche Erwähnung bzw. Karte aller Kriegsgefangenenlager im Deutschen Reich samt Belegungsstärke sowie eine reichere Bebilderung des Bandes gewesen. Zum allgemeinen besseren Verständnis hätte auch eine Übersetzung der französischen Quellenzitate beigetragen. Insgesamt ist Hinz eine gut lesbare und detaillierte Überblicksstudie gelungen, die die Forschungslücke zum Thema Kriegsgefangenschaft im Ersten Weltkrieg um einiges reduziert.