U. Walter u.a.: Unberührt von jedem Umbruch?

Cover
Titel
Unberührt von jedem Umbruch?. Der Althistoriker Ernst Hohl zwischen Kaiserreich und früher DDR


Autor(en)
Walter, Uwe; Sehlmeyer, Markus
Erschienen
Frankfurt am Main 2005: Verlag Antike
Anzahl Seiten
126 S.
Preis
€ 27,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katja Wannack, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Mit der Berufung von Walter Kolbe im Jahre 1905 erhielt die Alte Geschichte in Rostock erstmals einen eigenständigen Lehrstuhl. Die Einhundertjahrfeier der Disziplin im vergangenen Jahr bot den äußeren Anlass für den vorliegenden Band.1 Mehr als 30 Jahre davon wirkte Ernst Hohl (1886-1957) in Rostock. Zwar gehört Hohl nicht zu den markanten Althistorikern des 20. Jahrhunderts, aber er ist auch kein Unbekannter: Vor allem mit der Edition und Übersetzung der spätantiken Vitensammlung römischer Kaiser, der Historia-Augusta (HA), dürfte sein Name bis heute verbunden sein. Doch führen ihn weder große biografische Nachschlagewerke wie die "Neue Deutsche Biographie" oder die "Deutsche Biographische Enzyklopädie" auf, noch hat sich die Wissenschaftsgeschichte seiner bislang eingehend angenommen, wenn man von einer eher summarischen Behandlung in den beiden Studien von Karl Christ zur deutschen Althistorie absieht.2 Der vorliegende Band widmet sich nun erstmals in umfassender Weise Hohls, dessen Geburtsjahr 1886 ihn zum Angehörigen einer von mehrfachen politischen Umbrüchen betroffenen Generation von (Alt)Historikern werden lässt, zu der etwa Eugen Täubler (1879-1953), Wilhelm Weber (1882-1947), Matthias Gelzer (1886-1974) oder Ulrich Kahrstedt (1888-1962) mit ihren ganz heterogenen Lebensläufen gehören.

Ernst Hohl, Sohn eines stellvertretenden Hofbankdirektors in Stuttgart, promovierte nach einem Studium der klassischen Philologie und Geschichte 1911 in Tübingen, habilitierte sich 1914 in Straßburg und wurde 1919 in Rostock zum außerordentlichen Professor ernannt. Nach der Ablehnung eines Rufes nach Graz erhielt er hier 1929 eine ordentliche Professur. Der durch seinen Doktorvater Ernst Kornemann initiierte Plan, dessen Nachfolge in Breslau anzutreten – damals hatten zukünftige Emeriti noch ein Mitspracherecht bei der Neubesetzung – zerschlug sich 1935. Dies als eine Folge der Beurteilung durch den NS-Dozentenbund anzusehen, der Hohl bescheinigte, es sei ihm nicht gelungen, "innerlich Nationalsozialist zu werden" (S. 22), lässt sich nicht eindeutig verifizieren, scheint aber plausibel. Hohls hatte zwar wie so viele 1934 den Eid auf Adolf Hitler geleistet, doch zu mehr Konzessionen war er nicht bereit, seine Forschung dieser Jahre zeigt jedenfalls keinerlei deutlichen Äußerungen im Sinne der NS-Ideologie. Hohls Rostocker Kollege, der Gräzist Kurt von Fritz (S. 19, 91), hingegen verlor aufgrund seiner Verweigerung seine Beamtenstellung.3 Nach Breslau wurde statt dessen Joseph Vogt berufen, dessen politische Zuverlässigkeit außer Frage stand, so dass er hier sogar Prorektor werden konnte. Erst mit der Wahl zum Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Berlin (1949) und der Berufung an die Humboldt-Universität (1950, emeritiert 1953) sollte sich Hohls Arbeitsumfeld nach mehr als 30 Jahren von Rostock nach Berlin verschieben. Doch im Gegensatz zu Rostock, wo er 1930-1932 Dekan war, konnte seine Wirksamkeit an der Berliner Universität, bedingt durch die geringe Dauer und den Wandel der Universität im Zuge der 2. Hochschulreform (1952), nicht das gleiche Ausmaß erreichen. Anhand dieser drei Stationen "Straßburg-Rostock-Berlin" liefert Markus Sehlmeyer zu Beginn einen dichten biografischen Abriss (S. 9-37), der erstmals Archivmaterialien systematisch berücksichtigt.

Beim Blick in das Schriftenverzeichnis von Hohls (S. 95-112) fallen zwei Aspekte auf: Zum einen hat er keine große Monografie (oder Beiträge in Handbüchern, abgesehen von dem eher populärwissenschaftlichen zur Propyläen Weltgeschichte, siehe unten) verfasst. Zum anderen zeugt eine Vielzahl von mehr als 190 Rezensionen von seinem breiten historischen Interesse und wirkt dadurch dem ersten Eindruck einer thematischen Beschränkung auf die HA (als Synonym für die römische Kaiserzeit und Spätantike) sowie auf die Quellenkritik historiografischer Texte entgegen. Damit sind die Themen für die weiteren Beiträge genannt: Uwe Walter untersucht den Geschichtsschreiber und Verfasser "kritischer Rezensionen im besten Sinne des Wortes" (S. 38-68; Zitat: Christ 1982, S. 147), während Sehlmeyer Hohls Arbeiten im Schnittpunkt der HA vorstellt (S. 69-87). Wenngleich die Mehrzahl seiner HA-Studien durch die moderne Forschung überholt wurde und das Interesse an ihnen der Disziplingeschichte vorbehalten bleibt, haben seine Edition und Übersetzung eine fortwährende Wirkung. So gab er 1927 (2. Aufl. 1955) bei Teubner eine kritische Ausgabe der HA heraus, nach seinem Tode wurde seine Übersetzung aus den Jahren 1942-1944 unter der Regie von Johannes Straub in der "Bibliothek der Alten Welt" (1976-1985) publiziert. Ebenso geht das 1962 von Johannes Straub gemeinsam mit Andreas Alföldi begründete "Bonner Historia Augusta Colloquium", dessen Ziel die Erstellung eines umfassenden, bereits von Theodor Mommsen geforderten Kommentars zu den Kaiserbiografien ist, auf eine Initiative Hohls aus dem Jahre 1951 zurück (S. 85-87).

Hauptthese der Auseinandersetzung mit den Arbeiten Hohls ist die bereits im Titel vertretene und dort noch mit Fragezeichen versehene Annahme, dass sein wissenschaftliches Werk, das sich über einen Zeitraum mit drei politischen Umbrüchen erstreckt, von eben diesen "gänzlich unberührt" geblieben sei. Im Verlaufe der Darstellung wird diese These zu einem Urteil, das an verschiedenen Stellen bekräftigt, wenngleich nicht zum Gegenstand einer Diskussion gemacht wird (S. 24: "stets mit denselben wissenschaftliche Methoden - unabhängig von Thema und möglichen ideologischen Verknüpfungen, [...] unerschrockenes Festhalten an Standards", S. 68: "ganz persönliche Integrität"). Formulierungen wie diese erstaunen nicht, bestand doch über die Bewertung Hohls in fachlicher wie persönlicher Hinsicht kein wirklicher Zweifel. So gelangte bereits Matthias Gelzer in seinem Nachruf zu einer im Kern entsprechenden Einschätzung: „Weil die gewissenhafte Exaktheit seiner Forschung zutiefst in der sittlichen Verpflichtung zu unbedingter Wahrhaftigkeit wurzelte, war ihm die Zumutung, die Wissenschaft habe sich nach den Wünschen politischer Machthaber zu richten, im innersten zuwider“. Daher bezeichnet er Hohl als einen Gelehrten, "der in einem Zeitalter größter weltgeschichtlicher Umwälzungen unbeirrbar die altbewährten Grundsätze gewissenhafter Quelleninterpretation verteidigte und durch scharfsinnige Ergebnisse rechtfertigte".4 Dessen ungeachtet war Hohls Auffassung vom generellen Wesen der Geschichte und Historiografie natürlich von zeitgenössischen Denkweisen (etwa der Vorstellung von einer ‚nationalrömischen’ Wesensart und Kultur) geprägt, wie Uwe Walters Analyse des für ein breiteres Publikum gedachten Abrisses über "Die römische Kaiserzeit" in der Propyläen Weltgeschichte zeigt.5

Die seit längerem anhaltende Konjunktur von Arbeiten zur Geschichte der Altertumswissenschaft hat nun mit dieser Einzelstudie einen Althistoriker erreicht, der weder durch extreme Profilierung während der NS-Zeit hervorgetreten noch ins Exil gezwungen worden ist.6 Die heutige Wahrnehmung von Hohl als Mann der zweiten Reihe spiegelt sich jedoch in der zeitgenössischen nicht wider, hier genoss er im Kollegenkreis eine hohe fachliche Reputation. So wurde ihm 1939 die Leitung der Prosopographia Imperii Romani (PIR) von Ulrich Wilcken angetragen (S. 23). Unerwähnt bleibt, dass die PIR im gleichen Jahr dem Corpus Inscriptionum Latinarum angegliedert wurde und damit dessen Leiter Johannes Stroux den Posten übernahm.7 Insgesamt ist dem Nüchternen und um Ausgewogenheit bemühten, von beiden Autoren im gemeinsam verfassten „Versuch einer Bilanz“ (S. 88-94) gefällten Urteil, dass Hohl "ein eher Unauffälliger, wenn auch kein Uninteressanter und schon gar kein Uninteressierter" (S. 93) gewesen sei, zustimmen. Seine Person hat nicht polarisiert, seine fehlende Neigung zur öffentlichen Wirksamkeit, auch mittels grob unzulässiger Aktualisierungen der Antike, hat ihn einerseits vor der Indienstnahme durch politische Kräfte geschützt, ihn aber andererseits zu einer Randfigur werden lassen. Es überrascht daher kaum, dass der Band keine unerwarteten Erkenntnisse präsentieren kann. Da der Anspruch „einer weiträumigen Kontextualisierung“ schon im Vorwort (S. 8) mit dem Hinweis auf die Gefahr der Verführung zu vorschnellen Verallgemeinerungen zugunsten einer Einzelstudie aufgegeben wurde, kann hier nur nachdrücklich die Hoffnung auf eine Nutzung der neu gewonnenen Details zu Hohl in einer zukünftigen, umfassenderen Studie zur Wissenschaftsgeschichte bekräftigt werden.

Anmerkungen:
1 Vgl. den Tagungsbericht "100 Jahre Alte Geschichte in Rostock" von Volker Grieb, H-Soz-u-Kult 09.11.2005 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=901>.
2 Vgl. Christ, Karl, Römische Geschichte und deutsche Geschichtswissenschaft, München 1982, S. 145-148, mit Zitaten charakteristischer Passagen und umfangreichen bibliografischen Nachweisen. In der neueren Arbeit nun deutlich kürzer: Klios Wandlungen. Die deutsche Althistorie vom Neuhumanismus bis zur Gegenwart, München 2006, S. 54-55, 117.
3 Dies scheint innerhalb der Altertumswissenschaften eine Ausnahme gewesen zu sein, vgl. auch Wegeler, Cornelia, "[...] wir sagen ab der internationalen Gelehrtenrepublik". Altertumswissenschaft und Nationalsozialismus. Das Göttinger Institut für Altertumskunde 1921-1962, Wien 1996, S. 369-372, 375.
4 Gelzer, Matthias, Ernst Hohl, Gnomon 29 (1957), S. 398-400, hier 399f.
5 Goetz, Walter (Hg.), Propyläen Weltgeschichte, Bd. 2, Berlin 1931, S. 341-472.
6 Für die beiden Gruppen seien beispielhaft angeführt: Rebenich, Stefan, Alte Geschichte in Demokratie und Diktatur. Der Fall Helmut Berve, Chiron 31 (2001), S. 457-496; Königs, Diemuth, Joseph Vogt. Ein Althistoriker in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Basel 1995; sowie: Scharbaum, Heike, Zwischen zwei Welten. Wissenschaft und Lebenswelt am Beispiel des deutsch-jüdischen Historikers Eugen Täubler (1879-1953), Münster 2001; Franke, Peter Robert, Victor Ehrenberg. Ein deutsches Gelehrtenschicksal 1891-1976, in: Schneider, Reinhard (Hg.), Juden in Deutschland. Lebenswelten und Einzelschicksale, St. Ingbert 1994, S. 309-331; Kneppe, Alfred; Wiesehöfer, Josef, Friedrich Münzer. Ein Althistoriker zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Bonn 1983; Gundel, Hans Georg, Richard Laqueur (1881-1959), in: Gundel, Hans Georg u.a. (Hgg.), Gießener Gelehrte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Marburg 1982, S. 590-601.
7 Vgl. Rebenich, Stefan, Zwischen Anpassung und Widerstand? Die Berliner Akademie der Wissenschaften von 1933 bis 1945, in: Näf, Beat u.a. (Hg.), Antike und Altertumswissenschaft in der Zeit von Faschismus und Nationalsozialismus, Mandelbachtal 2001, S. 203-244, hier 234.

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