Titel
Zwangsarbeit und Verfolgung. Österreichische Juden im NS-Staat 1938-45


Autor(en)
Gruner, Wolf
Reihe
Der Nationalsozialismus und seine Folgen, Bd.1
Erschienen
Innsbruck-Wien-München 2001: StudienVerlag
Anzahl Seiten
358 S.
Preis
€ 33,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Achrainer, Universität Innsbruck

Nach seiner Dissertation über den "Geschlossenen Arbeitseinsatz deutscher Juden" 1 hat Wolf Gruner nun auch eine – fast ebenso umfangreiche – ergänzende Studie über die Zwangsarbeit der österreichischen Juden vorgelegt.
Mit beiden Arbeiten hat Gruner ein bisher unerforschtes Thema behandelt, wobei er kaum auf kompakte Aktenbestände zurückgreifen konnte, sondern aus unzähligen Archivbeständen einzelner Behörden Bruchstücke zu einem Mosaik formen mußte. Die im Anhang gedruckten Listen (S. 310-314) weisen 29 Arbeitslager und zwei SS-Lager in Österreich auf, in denen zum Teil allerdings nur eine Handvoll Personen eingesetzt waren, und immerhin 18 Lager im "Altreich", in die österreichische Juden und Jüdinnen verschickt wurden. Weitere 16 Umschulungslager der Kultusgemeinde dienten zunehmend dem Arbeitseinsatz und nicht der beruflichen Ausbildung.
In der Gliederung folgt Gruner einer peniblen Periodisierung: Kapitel I umfaßt die Zeit vom "Anschluß" Österreichs im März 1938 bis zum Oktober, die "Reichskristallnacht" definiert die erste Zäsur; Kapitel II – November 1938 bis August 1939 – wird vom Kriegsbeginn beendet. Kapitel III reicht bis zu den ersten Deportationen im März 1940; Kapitel IV bis Ende des Jahres 1940; Kapitel V beginnt mit der Wiederaufnahme der Deportationen und umfaßt das Jahr 1941, Kapitel VI das Jahr 1942, in dem die Deportationen aus Wien abgeschlossen wurden. Kapitel VII widmet sich dem Arbeitseinsatz der Juden in "Mischehen" und der "jüdischen Mischlinge", die nicht deportiert worden waren. Einzelne Zwangsarbeitslager werden in zehn Exkursen beschrieben.
Innerhalb der einzelnen Kapitel geht Gruner jeweils auf die Judenverfolgung im allgemeinen und auf jene in Wien im besonderen ein; die Entwicklung der Zwangsarbeit selbst steht dabei in einem Spannungsverhältnis zunächst zur Politik der Vertreibung, dann zu den Deportationen.

In der Entwicklung zur Zwangsarbeit für Juden berücksichtigt Gruner das lang tradierte Vorurteil des "arbeitsscheuen Juden", das jenen zahlreichen Übergriffen nach dem "Anschluß" zugrundelag, die sich durch die bekannten Bilder von den "Reibe-Partien" im kollektiven Gedächtnis erhalten haben. Sehr bald waren diese Demütigungsaktionen auch von ökonomischem Nutzen begleitet.
In einer bisher wohl kaum bekannten Aktion wurden Ende Mai 1938 "asoziale und kriminelle Juden" verhaftet und in das KZ Dachau eingeliefert; diese von Hitler angeordnete Aktion wurde dann von Heydrich mit der sogenannten "Aktion Arbeitsscheu Reich" im Juni quasi zusammengelegt. Gruner weist nach, daß Juden reichsweit besonders stark, mit etwa 20 %, unter den Verhafteten repräsentiert waren. Die Zahl der verhafteten österreichischen Juden betrug rund 1800.
In seinem ersten Exkurs bespricht Gruner ein sogenanntes "Umschulungslager" und stellt den Übergang von der (für die Emigration bedeutenden) Berufsumschulung zur ökonomischen Ausbeutung fest: "[...] vielmehr nutzten örtliche NSDAP, Firmen und Privatpersonen das unbezahlte Engagement der Fluchtwilligen für Arbeiten, die die Gemeinde verschönerten bzw. als Sozialmaßnahme für 'arische' Einwohner und Arbeiter dienten." (S. 44).
Zur Entwicklung des organisierten Arbeitszwanges waren aber andere Faktoren maßgeblich: die generelle Separierung der jüdischen Bevölkerung, die es ihr immer schwerer machte, auf dem freien Arbeitsmarkt Arbeit zu erhalten; der steigende Bedarf am Arbeitsmarkt, und die Belastung der Fürsorge durch die in die Armut getriebene jüdische Bevölkerung. So entstanden in der Arbeitsverwaltung sehr bald Pläne, für Juden "Kolonnenarbeit" zu finden – die Separierung war unbedingte Voraussetzung –, um sie aus der Fürsorge nehmen zu können. In Wien spielte auch die Wohnraumbeschaffung eine besondere Rolle: Die Verpflichtung einer großen Zahl von Juden zur Zwangsarbeit war mit ihrer Unterbringung in Arbeitslager verknüpft; auf diese Weise gedachte die Stadt Wien sich ihrer jüdischen Bevölkerung zu entledigen. Gruner referiert solche Pläne und die Debatten zwischen allen beteiligten Behörden relativ ausführlich, eines aber wird bald klar: Davon betroffen war zunächst nur ein kleiner Bruchteil der österreichischen Juden.

Als einschneidende Zäsur betrachtet Gruner die "Reichskristallnacht", die eine "fundamentale Neuorientierung der 'Judenverfolgung'" (S. 69) nach sich zog. Ein umfassendes Konzept Heydrichs wurde zur Grundlage der Judenpolitik: die Verknüpfung der Vertreibung nach dem "Wiener Vorbild" mit der völligen Isolierung der verbleibenden Juden in allen Lebensbereichen. In einem Erlaß der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung vom 20. Dezember 1938 wurde dann der "Arbeitseinsatz erwerbsloser Juden in geschlossenen Kolonnen" geregelt, allerdings sah dieser Erlaß keine Zwangsmittel vor. Die österreichischen Arbeitsämter hatten offensichtlich Schwierigkeiten sowohl mit der Rekrutierung als auch mit der Unterbringung: So wurden österreichische Juden vor allem zu Arbeitseinsätzen in das "Altreich" vermittelt.
Auch nach Kriegsbeginn unterblieb eine vielfach erwartete Regelung zum umfassenden Arbeitszwang für Juden; erst im Frühjahr 1940, nach der Verschiebung der geplanten Deportationen, begannen die Arbeitsämter reichsweit, alle arbeitsfähigen Juden zu erfassen. Eine Legalisierung aller seit Jahren durchgeführten Maßnahmen per Verordnung erfolgte im Herbst 1941, "ausgerechnet kurz vor den [...] Massendeportationen" (S. 255). Hier hätte sich Gruner in der Interpretation durchaus weiter vorwagen können; mir erscheint dies typisch für die Konstruktion der NS-Herrschaft: Konkurrierende Behörden treiben Verfolgungsmaßnahmen voran, eine Regelung erfolgt immer erst im Nachhinein. 2
In der Darstellung dominieren die Jahre 1938 bis 1940; danach war zwar der Anteil der Zwangsarbeiter unter der jüdischen Bevölkerung am höchsten, die Politik aber bereits von den Deportationen bestimmt, die in Wien Ende 1942 praktisch abgeschlossen waren. Das letzte Kapitel betrifft daher auch nur mehr die verbliebenen Juden in "Mischehen" und "jüdische Mischlinge". Im Vergleich zum "Altreich" fällt besonders auf, daß in Österreich Juden kaum in der Rüstungsindustrie eingesetzt waren, sondern vor allem zu Erdarbeiten, zum Straßen- und Kraftwerksbau, herangezogen wurden.

Wie der Titel "Zwangsarbeit und Verfolgung" – während in der vorangegangenen Studie die "Zwangsarbeit als Element der Verfolgung" besser beschrieben wurde – nahelegt, versucht Gruner die Verfolgung der österreichischen Juden insgesamt darzustellen. Er stützt sich dabei vor allem auf Quellen der Wiener Kultusgemeinde, die auch die Hauptgrundlage der kürzlich veröffentlichten Dissertation Doron Rabinovicis über die Wiener Kultusgemeinde bzw. den Ältestenrat bilden 3. Rabinovicis Darstellung ist nicht nur ausführlicher, sondern auch stilistisch ansprechender; sein Buch ist als Ergänzung zum besprochenen Band dringend zu empfehlen. In Randbereichen scheint Gruner manchmal etwas unsicher zu sein; als Beispiel sei der Rückblick auf die Tradition des Stereotyps vom "faulen Juden" genannt: Als Belege dienen ein Artikel aus dem "Boten aus dem Waldviertel" von 1884 und eine Broschüre für Lehrer aus dem Stürmer-Verlag (1937/38); und dann die Erkenntnis: "Die NS-Propaganda blieb nicht ohne Wirkung. Schon in den ersten Tagen nach dem 'Anschluß' wurden, diesem Vorurteil folgend, Juden zu 'Arbeiten' gezwungen" (S. 27, es folgen einige Beispiele). Hier wäre es wohl sinnvoller gewesen, die Tradition des österreichischen Antisemitismus (z. B. die Antisemitenbünde der Nachkriegszeit) kurz anzuschneiden als "die NS-Propaganda" zu bemühen.
In vielen Abschnitten des Buches, in denen es um die fortschreitende Separation der österreichischen Juden von der "arischen" Bevölkerung, den Entzug von Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten, die Zusammendrängung in immer weniger Wohnungen und "Judenhäuser", die Beschränkung der Lebensmittelversorgung und viele weitere Schikanen geht, wird allerdings recht deutlich veranschaulicht, wie sehr lokale und regionale Bürokratien die ständige Erweiterung der Judenverfolgung vorangetrieben haben.

Die Entscheidung, Österreich aus der Dissertation auszuklammern (S. 19), erwies sich wohl nicht nur aus arbeitstechnischen Gründen als klug, sondern macht die unterschiedliche Entwicklung zwischen dem Altreich und Österreich besonders anschaulich, ohne diese Frage überzubewerten. Häufig sind Formulierungen wie die folgende zu lesen: "Der zentralen Politik im Altreich vorauseilend [...]" (S. 36). Die vor allem in Zusammenhang mit den "Arisierungen", aber auch mit der zwangsweisen Vertreibung diskutierte Frage nach einem das NS-Regime dynamisierenden und damit die Verfolgungspraktiken beschleunigenden Effekt des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich stellt sich immer öfter, und bei Gruner auch in Zusammenhang mit der Zwangsarbeit der Juden. Gruner neigt hier zu keinen voreiligen Interpretationen, bietet aber einige Ansätze – die umfassende Trennung der Juden von der "arischen" Bevölkerung, die Überlegungen zum umfassenden Arbeitszwang, das Verbot für Juden, ihren Wohnort zu verlassen, all dies war in Wien lange vor dem "Altreich" Praxis.

Wie Wolf Gruner in der Einleitung bemerkt, hatte er keine Gelegenheit, "nach weiteren Quellen in anderen österreichischen Regionalarchiven zu forschen. Dort wären zusätzliche Informationen über einige Lager zu vermuten, die das hier präsentierte Bild abrunden, doch ihm wohl kaum inhaltlich widersprechen würden." (S. 16). – So ist es, und einige Informationen über ein zusätzliches Lager können hier nachgetragen werden. Aus mehreren Aussagen in Opferfürsorgeakten ist bekannt, daß ein bei Gruner – auch in "Der Geschlossene Arbeitseinsatz deutscher Juden" – nicht erwähntes Zwangsarbeitslager in Rositz, einem Dorf im Kreis Altenburg im östlichsten Teil Thüringens, bestand, das üblicherweise als "Zwangsarbeitslager Rositz", gelegentlich auch als "Zwangsarbeitslager Schelditz" bezeichnet wurde. Den Zeugenaussagen zufolge waren dort rund 500 Häftlinge, darunter 24 (oder 21) Tiroler und Vorarlberger, zwei Salzburger und drei Wiener, eingesetzt wurden sie zu "schwerster körperlicher Aufräumungsarbeit in einem Erdölmineralwerk". Das Lager unterstand offiziell der Organisation Todt, "Einsatzgruppe IV in Weimar" und wurde von Gestapo, holländischer SS und älterem Wachpersonal beaufsichtigt. Die österreichischen Häftlinge waren – soweit bisher bekannt ohne Ausnahme – "Mischlinge ersten Grades" und wurden am 19. Oktober 1944 von einem provisorischen Sammellager in Wörgl aus von der Innsbrucker Gestapo nach Thüringen gebracht und der Weimarer Gestapo übergeben. In Rositz hatten sie zunächst das Lager aufzubauen. Es bestand demnach ab ca. Ende Oktober 1944 bis zum 13. April 1945, als die Häftlinge mit dem Ziel Flossenbürg in Marsch gesetzt, bereits am nächsten Tag von alliierten Truppen befreit und in Gössnitz kaserniert wurden. Sie bekamen vom Bürgermeister der Stadt Gössnitz einen (gedruckten!) Entlassungsschein. Das Lager Rositz wurde übrigens – im Gegensatz zu vielen anderen, wie dem SS-Lager Doppl (S. 298 f.) – als Haftstätte im Sinn des Opferfürsorgegesetzes anerkannt.

Wolf Gruners Buch ist für die Geschichte der Verfolgung der Juden in Österreich ein wichtiger, völlig neuer und unverzichtbarer Beitrag. Im Vergleich zu seiner "deutschen" Studie wirkt es etwas sperriger, weniger kompakt, was wohl daher rührt, daß Gruner die gesamte Vielfalt der Verfolgungsmaßnahmen miteinbezogen hat und die Zwangsarbeit als sein eigentliches Thema weniger stringent darstellen konnte; auch eine sorgfältigere Schlußkorrektur hätte nicht geschadet. Besonders gut gelungen, auch von der Lesbarkeit her, sind die Exkurse über einzelne Arbeitslager, in denen auch Zeitzeugen ausführlich zu Wort kommen.

Anmerkungen:
1 Wolf Gruner, Der Geschlossene Arbeitseinsatz deutscher Juden. Zur Zwangsarbeit als Element der Verfolgung 1938 – 1943 (Reihe Dokumente, Texte, Materialien / Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin; Bd. 20), Berlin (Metropol) 1997.
2 Diese Interpretation folgt dem "Doppelstaat"-Modell Ernst Fraenkels, der die Konkurrenz zwischen "Normenstaat" und "Maßnahmenstaat" betont. Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat (Studien zur Gesellschaftstheorie) Frankfurt/Main-Köln 1974.
3 Doron Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938-1945. Der Weg zum Judenrat, Frankfurt am Main (Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag) 2000 (zugleich Dissertation Wien 2000).

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