U. Danker u.a.: Schleswig-Holstein und der Nationalsozialismus

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Titel
Schleswig-Holstein und der Nationalsozialismus.


Autor(en)
Danker, Uwe; Schwabe, Astrid
Erschienen
Neumünster 2005: Wachholtz Verlag
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
€ 16,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Bajohr, Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg

Die Zahl lokal- und regionalgeschichtlicher Darstellungen der NS-Herrschaft ist selbst für spezialisierte Fachhistoriker kaum mehr zu überschauen und geht in die Zehntausende. Allein für Schleswig-Holstein haben die Autoren des vorliegenden Bandes 3.500 Literaturangaben zusammengetragen. Die letzte von Michael Ruck im Jahr 2000 edierte "Bibliographie zum Nationalsozialismus" verzeichnet insgesamt 37.077 Titel, darunter Tausende regionalgeschichtlicher Darstellungen. Viele dieser Untersuchungen haben unser Wissen über die nationalsozialistische Herrschaftspraxis beträchtlich erweitert und anhand zahlreicher Beispiele veranschaulicht und konkretisiert. So sind wir mittlerweile umfassend über die Anfälligkeit bzw. Resistenzkraft verschiedener Sozialmilieus gegenüber dem Nationalsozialismus informiert. Es waren in erster Linie lokalhistorische Studien, die die Reichweite, aber auch die Grenzen des nationalsozialistischen Herrschaftsanspruches plastisch herausgearbeitet haben. Auch haben sie deutlich gemacht, dass die Dynamik z.B. des antijüdischen Verfolgungsprozesses oft auf lokale Aktionen und Initiativen zurückging und keineswegs allein Gesetzen und Anordnungen "von oben" entsprang.

Kritisch bleibt hingegen anzumerken, dass lokal- und regionalgeschichtliche Darstellungen oft Schwierigkeiten haben, sich im institutionellen Gestrüpp des NS-Staates zurechtzufinden, über den regionalen Tellerrand hinauszublicken oder komparative Perspektiven zu entwickeln. Zudem konzentrieren sich regionalhistorische Untersuchungen häufig auf einige wenige Themenkomplexe. Zu diesen zählen in erster Linie die NS-Machtübernahme, Widerstand und abweichendes Verhalten, Verfolgungsmaßnahmen gegen politische Gegner, die Verfolgung der Juden sowie die Lokalgeschichte des Bombenkrieges. Der wachsende Konsens zwischen Bevölkerung und Regime sowie die vielfältigen Formen der Anpassung und Integration werden hingegen deutlich seltener thematisiert. Überdies hat der regionalgeschichtliche Boom der letzten 25 Jahre oft ungewollt dazu beigetragen, das klassische Bild der NS-Herrschaft als "deutscher Diktatur" (Bracher) zu festigen, während die nach außen gerichtete Verfolgungs- und Vernichtungsdynamik des Nationalsozialismus, die sich vor allem in Osteuropa und den besetzten Gebieten manifestierte, erst in den letzten Jahren ins allgemeine Bewusstsein gerückt ist.

Mittlerweile liegen jedoch erste regionalgeschichtliche Studien vor, die dem hohen Anspruch einer integrierten Herrschafts- und Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus genügen und sich weit über ihren regionalgeschichtlichen Rahmen hinaus auch als exemplarische Gesamtdarstellung der NS-Zeit lesen lassen. Zu diesen Darstellungen zählt auch das vorliegende Werk Uwe Dankers und Astrid Schwabes über die NS-Herrschaft in Schleswig-Holstein. Beide Autoren, die am Institut für schleswig-holsteinische Zeit- und Regionalgeschichte (IZRG) tätig sind, präsentieren auf vergleichsweise knappem Raum eine sorgfältig durchkomponierte und proportionierte Gesamtdarstellung der NS-Zeit, die sich stets auf der Höhe der Forschung bewegt. Vor allem drei Aspekte sind positiv hervorzuheben:

Erstens besticht das Buch durch eine thematische Bandbreite, die nahezu keine Wünsche offen lässt. Es spannt den Bogen - durchaus klassischerweise - von dem Aufstieg des Nationalsozialismus in Schleswig-Holstein vor dem Hintergrund der Agrarkrise und der Landvolkbewegung bis zur "Nachgeschichte" der NS-Zeit, die ausführlich die Besatzungszeit, die Bevölkerungsverschiebungen durch Flüchtlinge und Vertriebene und besonders die einschlägigen schleswig-holsteinischen vergangenheitspolitischen Skandale behandelt. Innerhalb des thematischen Rahmens setzen die Autoren Akzente, die in regionalgeschichtlichen Darstellungen eher selten zu finden sind. So im Kapitel über die „neue 'Volksgemeinschaft'“, das die integrativen Aspekte der NS-Herrschaft betont und nicht verschweigt, dass sich ein erheblicher Teil der vormals oppositionell Eingestellten relativ schnell mit dem Regime arrangierte. Ebenfalls eher selten wurden bislang Themen wie Kunst und Kultur behandelt, zudem in einer so differenzierten und abgewogenen Weise, wie sie in den Kurztexten über Ernst Barlach, Emil Nolde und A. Paul Weber zum Ausdruck kommt, die nicht pauschal als verfolgte Künstler porträtiert werden; ebenso wird die NS-Kulturpolitik in ihren anfänglich widersprüchlichen Tendenzen nicht als Monolith behandelt.

Ein eigenes Unterkapitel ist dem "Reichskommissariat Ostland" und der Eskalation des Judenmords gewidmet, an der der schleswig-holsteinische NSDAP-Gauleiter Hinrich Lohse als Reichskommissar und zahlreiche schleswig-holsteinische Verwaltungs- und Polizeichefs beteiligt waren. Hier vermeiden die Autoren eine geografische Verinselung der Regionalgeschichte, indem sie die Verwicklung schleswig-holsteinischer Repräsentanten in die Expansions- und Vernichtungspolitik im Osten beispielhaft thematisieren.

Zweitens betten die Autoren ihre regionalgeschichtlichen Befunde sehr behutsam in das Gesamttableau nationalsozialistischer Herrschaft in Deutschland ein. Aus diesem Gesamtzusammenhang ragt Schleswig-Holstein vor allem als frühe NS-Hochburg heraus, in der die NSDAP bereits im Juli 1932 mit 51,1 Prozent der Stimmen das reichsweit beste Wahlergebnis erzielte. Auch die besonders skandalträchtige NS-Nachgeschichte weist spezifische regionale Ausprägungen auf. Ausführlich listen die Autoren die Gründe für die regionalen Sonderentwicklungen auf, erliegen jedoch nicht der Versuchung, die NS-Herrschaft in Schleswig-Holstein aus einem geschlossenen regionalen Mikrokosmos zu interpretieren. Deutlich wird dies an den Ausführungen über den Gauleiter Hinrich Lohse, eines mediokren Emporkömmlings ohne persönliches Charisma, der sich vor allem deshalb an der Macht halten konnte, weil er ein gewiefter politischer Taktiker und loyaler Vasall seines "Führers" war, von dessen Popularität er profitierte: "Auch in der Provinz ist der Nationalsozialismus ohne die charismatische Figur des 'Führers' Adolf Hitler nicht denkbar." (S. 189)

Drittens wartet das Buch mit einer bemerkenswerten, stark didaktisierten Struktur auf. Der grundlegende Basistext wird zum einen durch zusätzliche Einschübe ergänzt, die mit konkreten Fallbeispielen und biografischen Skizzen die Grundlinien der Darstellung veranschaulichen. Die stets wiederkehrende Rubrik "Markantes aus der Forschung" bereitet den jeweiligen thematischen Forschungsstand in einer Weise auf, die auch für den fachlich nicht vorgebildeten Leser verständlich ist. Am Seitenrand platzierte Zitate ergänzen die Darstellung und summieren sich zu einer nützlichen Quellensammlung. Besonderes Lob verdient der sorgfältige Umgang mit den zahlreichen Schaubildern und Fotos, die präzise betitelt sind und über eine bloße Illustrationsfunktion deutlich hinausgehen. Als Dokumente sui generis fügen sie sich zumeist punktgenau in den jeweiligen Argumentationsgang ein. Wer beispielsweise den ehemaligen Gauleiter Lohse 1951 bei einem Redaktionsbesuch der "Itzehoer Nachrichten" jovial plaudernd vor einem Weinglas abgebildet sieht (S. 173), der gewinnt einen plastischen Eindruck, welche Dimensionen die gesellschaftliche Re-Integration selbst führender Nationalsozialisten nach 1945 annehmen konnte.

Einen zwiespältigen Eindruck hinterlassen hingegen die ebenfalls am Seitenrand platzierten "Anmerkungen", die keine Fußnoten sind, sondern "Regieanweisungen" für den Leser, in denen die Autoren ihre eigene Darstellung hinterfragen und mögliche alternative Deutungen und Perspektiven anbieten. Dies ist insofern originell, als sie den Konstruktionscharakter jeder Form von Geschichtsschreibung dem Leser deutlich vor Augen führen. Da sich die "Anmerkungen" jedoch zumeist auf zwei bis drei Sätze oder kurze Aufzählungen beschränken, können alternative Argumente bestenfalls flüchtig angedeutet werden. Eindeutig besser wäre es gewesen, das Für und Wider der Argumente und Perspektiven im Haupttext gegeneinander abzuwägen, zumal der Zwang zur sprachlichen Verkürzung in den Anmerkungen bisweilen unfreiwillige Wortkapriolen hervorbringt (so mag es graduierte Ingenieure geben, aber sicherlich keine "'graduierten' Widerstandsdefinitionen" (S. 54); und was mögen Gewaltdelikte sein, "die in der Ferne oder ohne erreichbare beziehungsweise ermordete Zeugen stattfanden" (S. 175). Solche Petitessen schmälern den uneingeschränkt positiven Gesamteindruck des Buches nicht. Uwe Danker und Astrid Schwabe haben mit "Schleswig-Holstein und der Nationalsozialismus" eine Darstellung auf beachtlichem Reflexionsniveau vorgelegt, die beispielhaft die Möglichkeiten regionalgeschichtlicher Forschung zur NS-Zeit demonstriert. Durch seine durchdachte didaktische Struktur ist das Buch überdies für den Einsatz im schulischen Unterricht bestens geeignet.

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