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Titel
Der Eckenknick oder wie die Bibliotheken sich an den Büchern versündigen.


Autor(en)
Baker, Nicholson
Erschienen
Reinbeck 2005: Rowohlt Verlag
Anzahl Seiten
492 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Wiederkehr, Deutsches Historisches Institut Warschau

„Lasst die Bücher in Ruhe, sage ich, lasst sie, lasst sie in Ruhe“ (S. 181). Wer hier aufschreit, ist nicht ein Bibliothekar, der seine Bücher vor kritzelnden Lesern schützen will, sondern ein Leser, der seine Lektüre vor den Bibliothekaren verteidigt. Zielscheibe der flammenden Streitschrift des US-amerikanischen Romanautors Nicholson Baker ist die Mikroverfilmungs- und Digitalisierungspraxis in den Bibliotheken seines Heimatlandes.

Worum geht es? Die Library of Congress und andere große amerikanische Bibliotheken begannen nach dem Zweiten Weltkrieg, ihre Zeitungssammlungen auf Mikrofilm zu übertragen. Um den Verfilmungsprozess zu beschleunigen, lösten sie die Bindung der Originalbände. Anschließend ließen sie die verfilmten Zeitungen nicht neu binden, sondern schieden diese aus ihrem Bestand aus, um in den Magazinen Platz zu gewinnen. Diese Aussonderungen zogen einen systematischen Informationsverlust nach sich, weil z.B. farbige Abbildungen im Mikrofilm nur schwarz/weiß wiedergegeben werden. Dazu kommt, dass die Existenz der Mikroverfilmung einer Zeitung zahlreiche Bibliotheken verleitete, ihre eigene Druckausgabe dadurch zu ersetzen. So verschwand innerhalb der amerikanischen Bibliothekslandschaft die Vielfalt unterschiedlicher Regionalausgaben ein und derselben Zeitung. Negative Konsequenzen hatte schließlich die Tatsache, dass die Technologie vor allem in der Anfangsphase unausgereift und die Qualitätskontrollen ungenügend waren: Unvollständige, unscharfe oder schlicht vergessene Seiten lassen sich ohne Original nicht rekonstruieren. Da die Master-Kopien der Mikrofilme in der Hand privater Firmen verblieben, muss für neue Abzüge von verblassten oder durch häufigen Gebrauch zerkratzte Filme im besseren Fall ein zweites Mal bezahlt werden. Im schlechteren Fall existiert die Firma nicht mehr und die Master-Kopien sind bei der Liquidation verloren gegangen.

Nach den Zeitungen kamen – so Baker weiter – Zeitschriften und immer häufiger auch Bücher an die Reihe, obwohl die Lebensdauer von Mikrofilmen kaum über diejenige von Büchern hinausgehe, die den Eckenknick-Test (das mehrfache Umknicken der Ecke einer Seite zur Feststellung der Papierqualität, wie es in amerikanischen Bibliotheken praktiziert wird) nicht bestehen. Anstelle des Mikrofilms sei in jüngster Zeit die Digitalisierung getreten – mit denselben fatalen Folgen für die Originale und ohne eine Lösung für das Problem der Langzeitarchivierung in Sicht. Politisch durchsetz- und finanzierbar geworden sei diese Form des „Zerstören[s], um zu bewahren“ (S. 40) dank der von Bibliotheksdirektoren gehegten Schreckensvision, dass die seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts auf säurehaltigem Papier gedruckten Bücher und Zeitungen in Kürze zu Staub zerfallen würden.

Mit dem rhetorischen Handwerk des Schriftstellers, aber auch gestützt auf 94 Seiten Anmerkungen und 23 Seiten Bibliografie, stellt Baker die amerikanischen Bibliotheksverantwortlichen und die Washingtoner Geldgeber als dilettantische Kulturvernichter dar und schildert genüsslich, dass hauptsächlich ehemalige Pyrotechniker als Fachleute für die Massenentsäuerung von Papier herangezogen wurden. Immer dann, wenn das Buch zu lang zu werden droht, bringt ein Einschub Spannung und Lust an der Lektüre zurück, bald zu den Verbindungen zwischen CIA und Library of Congress, bald über Pläne aus dem 19. Jahrhundert, zur Papierherstellung ägyptische Mumien auszuwickeln. Kurz: Baker präsentiert sein ernstes Thema leichtfüßig, schreibt ein „sexy Buch“ im amerikanischen Sinne.

An einigen Stellen hätte Baker allerdings besser daran getan, den Zweihänder durch das Florett zu ersetzen, um seinem erklärten Ziel – der langfristigen Bestandeserhaltung – zu dienen. Gegen Ende seines Buches kommt ihm zwar in den Sinn, dass Mikroverfilmung und Digitalisierung der Langzeiterhaltung des Originals dienen können, wenn eine Sicherheitskopie auf schonende Weise hergestellt wird und der normale Bibliotheksbenutzer nur mit der Sekundärform arbeitet. Im Eifer, Washingtoner Gelder aus den Mikroverfilmungs- und Digitalisierungsprojekten für den Bau von Bibliotheksmagazinen zurückzugewinnen, bestreitet er aber schlicht und einfach, dass das Problem des säurehaltigen Papiers existiert. Damit erweist er allen ernsthaften Versuchen, das Ausmaß dieses Phänomens zu erforschen und eine langfristige Gegenstrategie gegen den möglichen Totalverlust von Originalen zu entwickeln, einen Bärendienst. Bakers Vorschlag, einfach rechtzeitig zwei traditionelle Fotokopien von bedrohten Bänden zu machen (S. 239), ist nicht weniger dilettantisch als das von ihm inkriminierte Vorgehen der amerikanischen Bibliotheken. Abgesehen davon, dass auch Fotokopien nur eine begrenzte Lebensdauer haben, würde sich so ja der Raumbedarf der Bibliotheken auf einen Schlag verdreifachen.

Völlig außer Acht lässt Baker auch, dass gewisse Neuerscheinungen heute nur noch in elektronischer Form auf den Markt gebracht werden und dass diese Publikationsform einen Mehrwert gegenüber dem klassischen Buch aufweisen kann, wenn etwa audiovisuelles Material integriert wird oder wenn Suchfunktionen zur Verfügung stehen. Die Langzeitarchivierung derartiger elektronischer Dokumente stellt die Bibliotheken vor ganz neue Herausforderungen und kostenintensive Zusatzaufgaben, da sie nicht nur physisch aufbewahrt, sondern trotz raschem Wandel von Hard- und Software auch lesbar gehalten werden müssen.1 Das dazu notwendige Know-How kann auch auf Digitalisate angewendet werden, die zur Schonung von Originalen auf Papier hergestellt wurden. Dieses Know-How wird aber in Zukunft nur dann zur Verfügung stehen, wenn die Bibliotheken schon heute zusätzliche Gelder der öffentlichen Hand erhalten.

Veröffentlichungen auf Papier und Digitalisate gegeneinander auszuspielen, ist kurzsichtig. Als Primärformen mit unterschiedlichen Eigenschaften werden künftig gedruckte und elektronische Publikationen nebeneinander bestehen. Bibliotheken sind in dem Maße, in dem sich durch das elektronische Publizieren ihr Sammelauftrag erweitert und die Langzeitarchivierung durch periodische Datenmigration oder stetige Entwicklung von Emulationen zu weit höheren Kosten führen wird als bis vor kurzem die Buchbinderarbeiten, mit größeren Mitteln auszustatten.

Mit seinem Kostenargument gegen sekundäre Speicherformen hat Baker aber zweifellos Recht. An der Feststellung der Generaldirektion der Bayerischen Staatlichen Bibliotheken von 1998, dass die Erhaltung des Originals „im Vergleich mit den verschiedenen Sekundärformen in jedem Fall mit Abstand das billigste Verfahren“ 2 darstellt, hat sich bis heute nichts geändert. In diesem Sinne gehört Bakers Buch (in gedruckter Form, damit es auch in ein paar Jahren noch sicher lesbar ist) ins Regal jedes Finanzbeamten, der glaubt, Raumprobleme von öffentlich finanzierten Bibliotheken durch die Digitalisierung von Beständen kostengünstig lösen zu können.

Anmerkungen:
1 Zu den Bestrebungen in Deutschland, dieses Problem in den Griff zu bekommen, vgl. insbesondere die Tätigkeit des Kompetenznetzwerks Nestor (www.langzeitarchivierung.de), des Projekts kopal (<http://kopal.langzeitarchivierung.de>) sowie des Trierer Kompetenzzentrums für elektronische Erschließungs- und Publikationsverfahren in den Geisteswissenschaften (<http://germazope.uni-trier.de/Projects/KoZe2/>).
2 Leskien, Hermann (Hg.), Erhaltung, Archivierung und Aussonderung von Druckschriften in Bayern. Empfehlungen im Auftrag der Generaldirektion der Bayerischen Staatlichen Bibliotheken (Dbi-Materialien 174), Berlin 1998, S. 47.

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