J. Hellbeck u.a. (Hrsg.): Autobiographische Praktiken in Russland

Titel
Autobiographische Praktiken in Russland. Autobiographical Practices in Russia


Herausgeber
Hellbeck, Jochen; Klaus Heller
Erschienen
Göttingen 2004: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
301 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anke Stephan, München

Das methodische Instrumentarium zur Interpretation autobiografischer Texte als historischer Quellen hat sich in den letzten Jahren beträchtlich erweitert, etwa durch Ansätze aus der Erinnerungsforschung oder Diskursanalyse. Nun legen Jochen Hellbeck und Klaus Heller einen Sammelband vor, in dem sie nicht allein Autobiografien interpretieren, sondern vielmehr „autobiographische Praktiken“ untersuchen wollen. Die entsprechenden Quellen sollen damit „nicht nur als eine literarische Form und nicht nur als passive Dokumente“ verstanden werden, „sondern als aktive Werkzeuge einer bestimmten Selbstkonzeption“ (S. 8). Dieser Zugang resultiert aus zwei Prämissen: Die Herausgeber gehen davon aus, dass autobiografisches Schreiben oder Handeln ein dynamischer Prozess ist, der Selbstbilder von Individuen zugleich repräsentiert und erzeugt. Zweitens sei dieser Prozess maßgeblich von kulturellen Praktiken gesteuert, von konzeptionellen oder institutionellen Vorgaben, die mitentscheiden, ob oder in welcher Form Repräsentationen des Selbst geschaffen werden.

Im Zentrum der Betrachtung steht damit die Wahrnehmung und Konstitution des Selbst. Für den russischen Kulturraum, dem sich der Sammelband ausschließlich widmet, ergeben sich daraus einige Besonderheiten: Zwar sind sowohl aus vorrevolutionärer Zeit wie auch aus Sowjetrussland unzählige Tagebücher, Memoiren, Briefe und andere Quellen überliefert, die Auskunft über Selbstvorstellungen geben, jedoch wurde Individualismus im 19. und 20. Jahrhundert kaum als positiver Wert betrachtet. Stattdessen prägten kollektive Selbstentwürfe das Persönlichkeitsbild, so dass sich autobiografisches Erzählen im russischen Kulturraum deutlich von der Tradition Westeuropas unterschied, wo das Genre der Autobiografie eng mit der Herausbildung des bürgerlichen Selbstbewusstseins verknüpft war. Demgegenüber betonen russische Autobiografen weniger die Konstituierung der eigenen Persönlichkeit, sondern betten ihr Handeln in den geschichtlichen Zusammenhang ein.

Was den vorliegenden Sammelband auszeichnet, ist die lange Zeitspanne, die er abdeckt. Zwar liegen aus den letzten Jahren einige Forschungsarbeiten vor, die einzelne Epochen oder Aspekte russischen autobiografischen Erzählens untersuchen. Insgesamt mangelt es jedoch an epochenübergreifenden Untersuchungen zur autobiografischen Tradition Russlands, die sowohl intertextuelle Bezüge als auch Mechanismen der Textproduktion aufdecken.

Hervorgegangen aus einem Workshop im Rahmen des Sonderforschungsbereichs „Erinnerungskulturen“ der Universität Gießen, umfasst der zweisprachig deutsch und englisch angelegte Band sowohl literatur- als auch geschichtswissenschaftliche Beiträge. Ebenso vielseitig wie die Autor/innenschaft – die größtenteils namhaften Forscherinnen und Forscher stammen aus Deutschland, Russland, Frankreich und den Vereinigten Staaten – ist die Bandbreite der Aufsätze: Die hier analysierten Zeugnisse von Vertreterinnen und Vertretern unterschiedlicher sozialer Schichten stammen aus der Zeit vom späten 18. Jahrhundert bis zum Tod Stalins. Neben Tagebüchern oder Memoiren kommen auch Quellen zum Tragen, die weniger den „klassischen“ Selbstzeugnissen entsprechen, etwa die Reden Aleksandr Kerenskijs in dem Beitrag von Boris Kolonitskii oder Igal Halfins Analyse der Verhörprotokolle des Kommunisten und Parteimitglieds Pavel Popov aus dem Parteiarchiv.

Abgerundet wird das Buch durch ein Schlusskapitel, in dem Jochen Hellbeck eine Synthese versucht, die, ausgehend von den spezifischen Voraussetzungen in Russland, die Grundzüge einer Geschichte „autobiographischer Praxis“ im russischen Kulturraum skizziert. Somit spannt sich noch einmal der Bogen zur Einleitung, die – nicht ganz verständlich für einen zweisprachigen Sammelband – in zwei Fassungen vorliegt: einer gekürzten deutschen ohne Anmerkungen und einer ausführlichen englischen. Hellbeck verweist hierin vor allem auf die führende Rolle der kritischen Intelligenzija der 1830er- und 1840er-Jahre bei der Entwicklung prägender Muster der Selbstreflexion und Persönlichkeitsbildung. Aus dieser Zeit stammte nach Hellbecks Darstellung ein Kennzeichen der Selbstbilder in Russland vom 19. Jahrhundert bis in die Sowjetzeit: Der missionarische Anspruch, das eigene Leben einem höheren Ziel zu widmen und damit einhergehend die eigene Persönlichkeit gemäß bestimmter Ideale formen zu wollen.

Die Stärke des Sammelbandes liegt darin, dass durch die Vielseitigkeit der Beiträge ein facettenreiches Bild von der Auseinandersetzung mit dem Selbst in der russischen Kultur gezeichnet wird. Größtenteils handelt es sich um fundierte Interpretationen einzelner Quellenkorpora. Sie sind etwa zu gleichen Teilen der vorrevolutionären wie der Sowjetzeit gewidmet. Für erstere sind besonders die Beiträge von Elena Grechanaia und Catherine Viollet hervorzuheben, die sich beide mit dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert beschäftigen, einerseits mit der Tagebuchkultur russischer Aristokratinnen, andererseits mit den Memoiren russischer Konvertitinnen zum Katholizismus. Besonders die religiösen Wurzeln für Unterschiede zu westeuropäischen Darstellungen des eigenen Ich kommen hierin zum Ausdruck, etwa die katholische Praxis der „Gewissensanalyse“, die der orthodoxen Tradition fremd ist (S. 35, S. 50). Gleichsam als Fortsetzung liest sich Laura Engelsteins Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Orthodoxie, Individualität und Selbst-Artikulation am Beispiel des Slavophilen Ivan Kireevskij und seiner Frau Natalija.

Die Beiträge von Klaus Heller und Galina Ul’ianova sind der russischen Kaufmannschaft und dem Unternehmertum gewidmet. Sie gehen insbesondere den Fragen nach „bourgeoiser“ Mentalität und Habitus im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert sowie paternalistischen Strukturen im Denken und Handeln russischer Individuen nach. Dieser Paternalismus beschäftigt auch Larisa Zacharova in ihrer Analyse persönlicher Äußerungen des Zaren Alexander II. Allerdings fällt ihr Aufsatz etwas aus dem Rahmen, denn die Selbstzeugnisse des Monarchen werden im Gegensatz zu den meisten der übrigen Beiträge weniger als soziales Phänomen interpretiert, sondern eher individuell psychologisierend.

Die Frage nach den Veränderungen autobiografischer Praktiken durch die Revolution bildet die Klammer für die letzten vier Beiträge, die sich mit der Revolution und der Sowjetzeit auseinander setzen. Boris Kolonitskii zeigt am Beispiel der Reden Aleksandr Kerenskijs, wie sehr die Revolutionsführer (sowohl der Februar- als auch der Oktoberrevolution) die Ideenwelt der russischen Intelligenzija, insbesondere ihren Messianismus, repräsentierten. Nach der Oktoberrevolution kam es zu einem Bruch mit der von der Intelligenzija vertretenen humanistischen Denktradition, was, wie Christa Ebert zeigt, beispielsweise von den emigrierten Dichterinnen und Dichtern Zinaida Gippius, Ivan Bunin, Marina Cvetaeva und Aleksei Remizov in ihren autobiografischen Äußerungen lauthals beklagt wurde. Dennoch handelt es sich um keinen vollständigen Bruch mit den Traditionen der russischen Intelligenzija. Bestehen blieb die Forderung, politische Aktivität mit kontinuierlicher Arbeit am – nun kommunistischen – Selbst zu verknüpfen und so eine historische Errettung anzustreben, wie Igal Halfin am Beispiel der Akte des Kommunisten Pavel Popov eindrücklich vor Augen führt. In diesem Sinne diente auch organisiertes Memoirenschreiben in den 1930er-Jahren der Läuterung und der Formierung neuer kommunistischer Persönlichkeiten – schließlich war der Neue Mensch keine Erfindung der Bolschewiki, sondern wurde ebenfalls durch die Denktradition des 19. Jahrhunderts vorweggenommen. Ein Beispiel für die massenhafte Produktion von Autobiografien aus den frühen 1930er-Jahren ist das vielbändige Projekt „Die Geschichte der Fabriken“ (Istorija zavodov), mit der sich Katerina Clark abschließend beschäftigt.

Clarks fundierter Beitrag beschreibt im wahrsten Sinne des Wortes „autobiografische Praxis“, wohingegen etliche der übrigen Aufsätze die Auseinandersetzung mit der Praxis, also mit den Rahmenbedingungen autobiografischer Reflexion und Produktion, vermissen lassen. Bedauerlicherweise machen sich zudem die wenigsten Autor/innen die Mühe, ihre detaillierten Ausführungen zu einzelnen Fallbeispielen in einem Fazit nochmals zu reflektieren, in einen größeren Kontext einzuordnen und den expliziten Bezug zu den eingangs formulierten Fragen und Thesen herzustellen. Dieses Manko wird auch nicht durch die kurzen Zusammenfassungen/Abstracts am Ende jeden Beitrags aufgewogen. 1

Versöhnt werden die Leser/innen durch das – ausschließlich auf Englisch abgefasste – Schlusskapitel Jochen Hellbecks. Am Beispiel ausgewählter Persönlichkeiten gelingt eine komprimierte Darstellung der Grundzüge autobiografischen Erzählens in Russland zwischen 1830 und dem Ende der Stalinzeit, einer Periode, die Hellbeck als „long century of Russian autobiographical practice“ (S. 296) charakterisiert, deren Hauptimpetus in der Überwindung der „Rückständigkeit“, der Schaffung „Neuer Menschen“ und der spirituellen Läuterung bestand. Selbst wenn Hellbeck die zeitliche Eingrenzung mit der Entwicklung des sozialistischen Wohlfahrtsstaates nach Stalins Tod und der Kultivierung des „entwickelten Sozialismus“ begründet, in dem die Entwicklung der sozialistischen Persönlichkeit in den Hintergrund trat, wäre es zumindest einen Hinweis wert gewesen, dass die Tradition des 19. Jahrhunderts auch und gerade nach Stalins Tod noch in zahlreichen autobiografischen Texten fortlebte, beispielsweise in den Memoiren ehemaliger Lagerhäftlinge oder Dissidenten. 2

Den abschließenden Forderungen des Herausgebers für künftige autobiografische Forschungen (S. 296ff.) kann man sich nur anschließen. So besteht zum Beispiel die Notwendigkeit, die Produktionsmechanismen stärker mit einzubeziehen oder die Quellengrundlage um Texte zu erweitern, die Äußerungen über das Selbst darstellen, im engeren Sinne aber nicht autobiografisch sind, wobei Hellbeck erstaunlicherweise auf mündliche Quellen wie Oral-History-Interviews nicht eingeht. Ferner sei weiter zu forschen nach dem Zusammenhang zwischen autobiografischer Praxis und politischer Gewalt. In diesem Kontext kann laut Hellbeck eine Kontinuitätslinie gezogen werden zwischen der humanistischen Tradition der Intelligenzija und Läuterungskonzepten, wie sie in den „Säuberungen“ auftraten. Die Kultivierung der eigenen Persönlichkeit, die Arbeit am Selbst, die Suche nach dem Heil in Selbstreinigung und Erneuerung seien somit als fortlaufende autobiografische Praxis zu lesen. Diese These gibt, so ist zu hoffen, Anlass zur weiteren Auseinandersetzung mit autobiografischen Texten im russischen Kulturraum.

Anmerkungen:
1 Ulrich Schmid, Ichentwürfe: die russische Autobiographie zwischen Avvakum und Gercen, in: Basler Studien zur Kulturgeschichte Osteuropas, Bd. 1, Zürich 2000.
Igal Halfin, Terror in My Soul: Communist Autobiographies on Trial, Cambridge/MA 2003.
Clyman, Toby; Vowles, Judith (Hrsg.), Russia Through Women’s Eyes. Autobiographies from Tsarist Russia, Chelsea 1996; Liljeström, Marianne; Rosenholm, Arja; Savkina, Irina (Hrsg.), Models of Self. Russian Women’s Autobiographical Texts, Helskinki 2000; Sheila Fitzpatrick; Yuri Slezkine (Hrsg.), In the Shadow of Revolution: Life Stories of Russian Women from 1917 to the Second World War, Princeton, New Jersey 2000.
Jüngst erschienen: Hellbeck, Jochen, Revolution on My Mind: Writing a Diary under Stalin, Cambridge/MA May 2006.
2 Siehe beispielsweise: Holmgren, Beth, For the Good of the Cause. Russian Women’s Autobiography in the Twentieth Century, in: Clyman, Toby W.; Greene, Diana (Hrsg.): Women Writers in Russian Literature, Westport/London 1994, S. 127-148; Stephan, Anke, Von der Küche auf den Roten Platz: Lebenswege sowjetischer Dissidentinnen, Zürich 2005.

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