Titel
"Ich bekenne". Katholische Beichte und sowjetische Selbstkritik


Autor(en)
Unfried, Berthold
Erschienen
Frankfurt am Main 2006: Campus Verlag
Anzahl Seiten
420
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lorenz Erren, Bibliothek, DHI Moskau

In der vorliegenden Habilitationsschrift hat der Wiener Sozialhistoriker Berthold Unfried seine eigenen viel beachteten Publikationen zur „Selbstkritik“ erheblich erweitert und um einen Vergleich zur katholischen Beichte ergänzt. 1

Die Gegenüberstellung kommunistischer und katholischer Praktiken mag auf den ersten Blick plakativ wirken, doch glücklicherweise verzichtet der Autor auf vordergründige Parallelisierungen. Weder möchte er „frappierende Ähnlichkeiten“ aufzeigen noch heimliche Traditionslinien nachweisen, sondern vielmehr auf dem Wege der Untersuchung der Rede des Einzelnen über sich selbst, insbesondere der „Selbstthematisierung anhand von Fehlerthematisierung“, herausfinden, was die jeweilige Gesellschaft „im Innersten zusammenhielt“ (359). In Anlehnung an Foucault und eine moderne konstruktivistische Anthropologie unterscheidet Unfried sorgfältig zwischen „Selbst“, „Subjekt“ und „Individuum“.

Während das „Selbst“ demnach den einzelnen Menschen so wie er sich selbst empfindet bezeichnet, meint das „Subjekt“ die Person, wie sie sich in die Gesellschaft integriert hat. Als „Individuen“ schließlich empfinden sich die Bewohner/innen der modernen westlichen Konsumgesellschaften. Diese erheben Anspruch auf eine Privatsphäre, in der sie sich, wie sie naiv glauben, „frei entfalten“ können. Unfried hingegen begreift diese Form von Individualität nüchtern als Ergebnis des spezifisch westlichen Subjektivierungsprozesses. Auch die Individualisierung ist demnach nur ein Zwang, ein „paradoxer Zwang zur [...] Selbstinszenierung [...] der eigenen Biographie, [...] unter dauernder Abstimmung mit den Vorgaben von Arbeitsmarkt, Bildungssystem, Wohlfahrtsstaat usw.“ (S. 19) 2.

Da Individualität in diesem Sinn erst unlängst „erfunden und erzeugt“ wurde, kann sie außerhalb der westlichen Moderne auch nicht aufgefunden werden. Das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft kann dort nur über die Analyse „subjektivierender Praktiken“ wie etwa der Beichte oder der Selbstkritik erschlossen werden, die eben darum großes Interesse verdienen.

Unfried beginnt seine Untersuchung mit der katholischen Beichte, wie sie sich in Europa seit der Gegenreformation, insbesondere während der letzten 150 Jahre, entwickelt hat. Einer Erläuterung der Unterschiede zwischen der allgemeinen Volksbeichte, der elitären Virtuosenbeichte, der Beichte als Sakrament und als pastorales Mittel der Seelenführung folgt der Vergleich mit anderen Praktiken der „Selbstthematisierung“ in der Psychoanalyse und vor weltlichen Gerichten. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei den administrativen Aspekten der Beichte, der Perspektive der Beichtväter und endlich den Sünden, vor allem den fleischlichen.

Während Unfrieds Darstellung mit vielen interessanten Details aufwartet, von denen die Allgemeinbildung selbst „gelernter Katholiken“ noch erheblich profitierten kann, so werden seine Ergebnisse nicht allzu sehr überraschen. Recht eindeutig kommt er zum Schluss, dass die Beichte im 19. und 20. jedenfalls kaum noch „subjektivierende“ Wirkung erzielte und dass sich der moderne Mensch nicht durch die Beichte, sondern ihr zum Trotz individualisierte.

Auch wo die Beichte zur Disziplinierung sozial Schwächerer (Bauern, Frauen, Kinder) beitrug, vermochte sie Lebensentwürfe und Verhaltensweisen nicht nachhaltig zu verändern. Eher passte sich die Beichte den Sündern an als umgekehrt: Während gerade den kirchenhörigen Frauen genaue Auskunft über ihr Sexualleben abverlangt wurde, blieb weltläufigen Männern, die nicht vergrault werden sollten, eine peinliche Befragung häufig erspart. Ansonsten fehlte der Kirche schon rein technisch die Möglichkeit, auf alle Gläubigen individuell einzugehen. Wo sich samstagnachmittags vor dem Beichtstuhl Schlangen bildeten, blieb zur Seelenerforschung gar keine Zeit. „Ich habe gelogen, ich habe gestohlen, ich habe die Katze beim Schwanz gezogen“ (S. 101) – so etwa könnte man die Kompromissformel parodieren, mit der Kirchenvolk und Pfarrer den lieben Gott zum guten Mann erklärten.

Auch die sowjetische Praxis von „Kritik und Selbstkritik“ prüft Unfried darauf hin, inwieweit sie einzelne Menschen zu „Subjekten“ formte, indem sie sie nötigte, über persönliche Fehler und Unzulänglichkeiten zu sprechen. Die Untersuchung konzentriert sich dabei stark auf die internationale Emigrantenkolonie der 1930er-Jahre, vor allem auf österreichische Kommunisten/innen und Schutzbündler/innen. Wer sowjetischen kommunistischen Organisationen angehörte, war schon routinemäßig ständiger Selbst- und Fremdbeurteilung ausgesetzt. Ausführliche Autobiografien, Selbstberichte, Parteisäuberungen, der sozialistische Wettbewerb und vor allem die Selbstkritik-Sitzungen waren „Techniken des Selbst“, mit deren Hilfe die Emigranten sich von ihrem eingeschleppten „kleinbürgerlichen Individualismus“ befreien sollten. Insbesondere die internationale Schar der Kursanten der konspirativ arbeitenden „Internationalen Lenin-Schule“ wurde rundum gegängelt und musste sich selbst für kleine Vergehen (den Besuch eines verrufenen Tanzcafés, das Stibitzen einer Portion Butter) vor dem Kollektiv entschuldigen und ernsthafte Besserungsabsicht demonstrieren. Befremdlich wirkte auf österreichische Kommunisten/innen auch die Einmischung in „ihr Privatleben“, wenn die Partei Ehemänner öffentlich zur Rede stellte, die ihre Frauen schlecht behandelten. Doch Versuche, sich gegen solche Bevormundung zu behaupten, blieben ergebnislos. Wer die verlangte Demutshaltung auf Dauer uneinsichtig verweigerte, konnte sich in der Partei nicht halten.

Die Selbstkritik wirkte letztlich darauf hin, bereits eingetretene Individualisierungsprozesse wieder rückgängig zu machen. Während der Terrorphase 1936-1938 behauptete die Propaganda, dass die „maskierten Schädlinge“ durch die mangelnde Wachsamkeit von Genossen/innen, Kollegen/innen und Verwandten begünstigt worden seien. Da sich in diesem Zusammenhang nun wirklich jeder etwas vorzuwerfen hatte, wurde auch die Selbstkritik intensiv praktiziert. Selbst in den Geständnissen der verhafteten Kommunisten/innen kann der Autor noch die Spuren einer zuvor eingeübten Demutsrhetorik nachweisen. Wenn italienische Kommunisten/innen, die zwar keiner „terroristischen Verschwörung“ angehörten, sich aber in der Sowjetunion unwohl und darum auch gegenüber der Partei schuldig fühlten, schließlich ihre eigene Erschießung forderten, so begreift Unfried diesen Schritt auch als Resultat einer Umformungspraxis, die Menschen „subjektivierte“ und zugleich „entindividualisierte“.

Offensichtlich ist es dem Autor gelungen, in zwei sehr unterschiedlichen kulturellen Phänomenen – der Beichte und der Selbstkritik – ein „gemeinsames Drittes“ aufzuzeigen, welches durchaus dazu anregen kann, über die Beschaffenheit eigener wie fremder Kulturen nachzudenken. Es handelt sich um ein gut lesbares Buch – Unfrieds Formulierungen erreichen mitunter feuilletonistische Eleganz, ohne an Ernsthaftigkeit einzubüßen.

Die Beurteilung der Arbeit wird indessen immer stark davon abhängen, wie man ihrem theoretischen Konzept und der gewählten Vergleichsperspektive gegenübersteht.
Dabei ist es weder die pragmatische Beschränkung auf das Kominternmilieu im Moskau der 1930er-Jahre, noch die Nichtberücksichtigung russischsprachiger Quellen und Literatur, die hier am problematischsten wirkt. Vielmehr fragen sich die Leser/innen, ob sich der Autor durch seine starre Festlegung auf das beschriebene konstruktivistische Konzept nicht vieler Möglichkeiten unnötig selbst beraubt hat. Die Suche nach „Subjektivierungstechniken“ etwa lenkt den Blick immerzu auf die direkte Begegnung des atomisierten Einzelmenschen mit den übermächtigen Großinstitutionen von Staat und Kirche, während andere soziale Beziehungen nicht mit gleicher Konsequenz reflektiert werden. Beispielsweise liegt es auf der Hand, dass im Stalinismus mit der öffentlichen Bloßstellung von „Sündenböcken“ nicht deren individuelle „Umerziehung“ erreicht, sondern oftmals nur ein massenwirksames Exempel statuiert werden sollte.

Doch zur Erforschung jener politischen Ratio, die solche und andere „Techniken“ operativ zur Anwendung brachte, kann die gewählte Fragestellung nur wenig Anreiz bieten. Das konsequente Festhalten Unfrieds an seinem Konzept überrascht umso mehr, als er dessen wichtigste Prämissen gar nicht zu teilen scheint. Im Gegensatz zu hartgesottenen Konstruktivisten/innen besteht er ja keineswegs darauf, dass die „Subjekte“ die von ihnen akzeptierten Identitätsangebote auch vollauf verinnerlicht hätten bzw. mit jenen „verschmolzen“ seien – vielmehr billigt er ihnen zu, dass sie bald nur noch auf die Wahrung der „äußeren Form“ geachtet hätten. Daher wird nicht recht verständlich, weshalb Unfried stereotypen „Ego-Texten“ eine so viel intensivere Beachtung schenkt als allen anderen biografischen Aspekten, die uns über die Sozialisierung, die charakterliche Entwicklung und das Verhalten der Akteure etwas mitteilen könnten. Oder können wir über die Sozialisierung, die innere Entwicklung und das Verhalten österreichischer Emigranten/innen wirklich nichts Interessanteres herausfinden, als dass sie dem extremen Druck nachgegeben und sich stalinistischen Normen äußerlich angepasst haben?

Anmerkungen:
1 Stellvertretend für andere Publikationen seien genannt:
--- Rituale von Konfession und Selbstkritik: Bilder vom stalinistischen Kader, in: Jahrbuch für historische Kommunismusforschung, Berlin 1994, S.148-164.
--- (gemeinsam mit Studer, Brigitte): „Das Private ist öffentlich“. Mittel und Formen stalinistischer Identitätsbildung, in: Historische Anthropologie, 1 (1999), S. 83-108
--- (gemeinsam mit Studer, Brigitte): Der stalinistische Parteikader. Identitätsstiftende Praktiken und Diskurse in der Sowjetunion der dreißiger Jahre, Köln 2001
2 Hier zitiert Unfried die Formulierung von Ulrich Beck: Ulrich Beck /Elisabeth Beck-Gernsheim, Individualisierung in modernen Gesellschaften - Perspektiven und Kontroversen in einer subjektorientierten Soziologie, in: Dies., Riskante Freiheiten, 14.

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