A. Desrosières: Die Politik der großen Zahlen

Cover
Titel
Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte der statistischen Denkweise


Autor(en)
Desrosières, Alain
Erschienen
Berlin 2005: Springer Gabler
Anzahl Seiten
XIV, 434 S.
Preis
€ 24,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anette Schlimm, Institut für Geschichte, Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg

Das 1993 in Paris erschienene und im Jahr 2000 ergänzte Werk von Alain Desrosières, „La Politique des Grands Nombres – Histoire de la raison statistique“, liegt nun endlich auch in deutscher Sprache vor. Die Analyse der Entwicklung des statistischen Denkens in der europäischen Neuzeit reiht sich ein in eine Gruppe von Analysen, die sich in epistemologischer Absicht mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung und der deskriptiven Statistik beschäftigt haben.1 Was Desrosières’ Buch von diesen Untersuchungen unterscheidet, ist seine starke Betonung der Verflechtungen und Austauschbeziehungen zwischen staatlicher und wissenschaftlicher Legitimität, die sich in der Geschichte des statistischen Denkens besonders niederschlagen (z.B. S. 6f., 166, 361). Zudem analysiert Desrosières nicht nur die unterschiedlichen Traditionen der administrativ-deskriptiven und der universitär-mathematischen Statistik, die sich erst ab den 1930ern langsam zu einer gemeinsamen Linie vereinigen, zusammen oder zumindest alternierend, sondern bemüht sich auch um eine national vergleichende Perspektive. Neben den statistischen Traditionen Englands und Frankreichs bezieht er auch die spezifischen Entwicklungen in Deutschland und den USA in seine Untersuchungen mit ein, wobei der Schwerpunkt deutlich auf Frankreich liegt.

Die Ausgangspunkte der Statistik, wie sie in der Moderne wirksam wird, um soziale Tatbestände zu beschreiben und für die Intervention durch Staat und Gesellschaft zugänglich zu machen, liegen in sehr unterschiedlichen Bereichen, die Desrosières in seinen ersten Kapiteln („Präfekten und Vermessungsingenieure“ sowie „Richter und Astronomen“) ausführlich darstellt. Während die Staatsbeschreibungen, die als deutsche Statistik bekannt wurden, noch vollkommen ohne quantifiziertes Material auskamen, zeichnete sich die englische politische Arithmetik vor allem durch die Auszählung von Sterbetafeln und Kirchenregistern aus. Diese Tätigkeit, die vor allem von philanthropisch beeinflussten Privatpersonen durchgeführt wurde, wollte Expertenwissen für den Umgang mit Problemen der Industrialisierung bereitstellen. So hinterließen diese ersten Anfänge der Statistik je unterschiedliche Instrumente der Beschreibung des Sozialen: Die deutsche Staatenbeschreibung lieferte den formalen Rahmen für die Beschreibung einer fest umrissenen Entität (des Staates), der englische Zweig schuf die Permanenz der Individuen als Elemente einer Zivilgesellschaft: „Das war der Gründungsakt aller statistischen Arbeit (im modernen Sinne), bei der definierte, identifizierte und stabile Einheiten vorausgesetzt werden.“ (S. 27) Im nachrevolutionären Frankreich schließlich trafen die Unterscheidung zwischen der individualistischen und der holistischen statistischen Betrachtungsweise in den Departement-Denkschriften aufeinander, bei denen die ‚gewöhnlichen’ Menschen in Bezug zu ihrer soziale Gruppierung, die Eliten hingegen individualistisch gedacht wurden. Diese Unterscheidung, so Desrosières, zog sich wie ein roter Faden durch die gesamte Geschichte der deskriptiven Statistik (S. 49f.).

Die Wahrscheinlichkeitsrechnung als eher philosophische und epistemologische Tradition hingegen entstand im 17. Jahrhundert und speiste sich aus dem naturphilosophischen sowie dem juristischen Diskurs. Während Richter und Rechtsphilosophen über Gerechtigkeit als Gleichheit von Gewinnerwartungen nachdachten, versuchten v.a. die Astronomen, ihre Messfehler zu begrenzen und aus vielen unterschiedlichen Messwerten einen einzigen, verlässlichen zu konstruieren. Aus diesen Diskussionen rekonstruiert Desrosières den anhaltenden Konflikt zwischen Verfechtern von objektiven (in der Natur der Dinge liegenden) und subjektiven (in der Natur des Beobachtens liegenden) Wahrscheinlichkeiten (S. 61f.). Am Beispiel der ab dem 19. Jahrhundert aufkommenden Sozialwissenschaften zeichnet Desrosières die statistische Konstruktion von makrosoziologischen Entitäten nach: „[D]ie göttliche Ordnung von Süssmilch, der Durchschnittsmensch von Quetelet und die Gesellschaft von Durkheim waren Realitäten sui generis, die sich von den Individuen unterschieden und spezifische Methoden der Analyse erforderten.“ (S. 86) Diese Realitäten, so argumentiert Desrosières, dürften nicht als bloße Konstruktionen ohne reale Auswirkungen abgetan werden. Im Sinne des Durkheimschen Postulats, soziale Tatbestände als Dinge aufzufassen (S. 2f.), seien solchermaßen konstruierte Objekte in spezifischen Bereichen und Zeiträumen existent, solange sie als Bezugspunkte für Diskussionen und Handlungen funktionieren (S. 115).

Die Definitionskämpfe um den Kausalitätsbegriff spielten bei dieser Form der Konstruktion von makrosozialen Realitäten noch keine Rolle. Die Frage nach dem Zusammenhang von unterschiedlichen statistischen Einheiten wurde vor allem in England im Zuge der Herausbildung der Eugenik diskutiert. Durch den Begriff der Korrelation wurde es möglich, individuelle Phänomene zu ordnen und so neue Handlungs- und Wissensräume zu erschließen (S. 125). Dabei betont Desrosières jedoch die grundsätzlich gegebene Offenheit der Interpretation von statistischen Daten. Bei der Deutung der Daten von Francis Galton, dem Gründervater der englischen Eugenik, werde besonders deutlich, dass von einer Determiniertheit der Schlussfolgerungen keine Rede sein könne. Vielmehr werde die Interpretation der Daten erst durch den Rückgriff auf soziale, philosophische und politische Konstellationen ermöglicht. Diese Argumentationen setzten aber die mit Hilfe von statistischen Methoden objektivierten ‚Dinge’ voraus (S. 139). Neben der Herausbildung eines statistischen Kausalitätsbegriffs entwickelten sich im Rahmen der Eugenik-Debatte in England auch die Methoden zur Analyse von Diversität: Während bei Quetelets ‚Durchschnittsmensch’ noch die Mittelwerte im Zentrum standen, interessierten sich die Eugeniker vor allem für die Abweichungen. Diese wurden zwar nicht als Störungen einer natürlichen Ordnung interpretiert, ließen aber soziale Ordnungsmaßnahmen notwendig erscheinen.

Formalisierungstechniken, die in der administrativen Statistik eine Rolle spielten und immer noch spielen, ermöglichten zum ersten Mal, die in der politischen Praxis geschaffenen Objekte auf einen Blick zu überschauen und miteinander in Beziehung zu setzen. Diese Techniken entwickelten sich in spezifischen historischen Situationen, die durch die national vergleichende Analyse Desrosières’ deutlich hervortreten. So konstatiert er beispielsweise für die deutsche administrative Statistik eine Art ‚statistischen Sonderweg’: „Diese Ungewißheit in Bezug auf den Staat, seine Konsistenz und seine Legitimität hinerließen ihre Spuren nicht nur in den Strukturen der statistischen Institutionen, sondern auch in den Denkweisen und im Argumentationsverhalten. Die Ungewißheit verlieh der deutschen Statistik – und allgemeiner den Sozialwissenschaften und deren Beziehung zur Macht – in ihren aufeinanderfolgenden Formen eine besondere Färbung, die sich zumindest bis 1945 deutlich von den drei anderen Ländern unterschied.“ (S. 199) Und doch bleibt die grundsätzliche Schlussfolgerung in Bezug auf alle analysierten Länder die gleiche: Durch die Verknüpfung von politischer, wissenschaftlicher und technischer Autorität konnte die amtliche Statistik in besonderem Maße Glaubwürdigkeit gewinnen, die wiederum auf die Akzeptanz der gesellschaftlichen Interventionen zurückwirkte. Und: Die administrative Statistik war mehr als nur die Anwendung von bereits entwickelten Techniken auf den Nationalstaat: So zeichnet Desrosières beispielsweise nach, wie sich aus einer spezifischen historisch-gesellschaftlichen Konstellation die neue Technik der Zufallsstichprobe entwickelte, die dann wiederum den wissenschaftlichen Bereich beeinflusste. So stellte sie beispielsweise das Instrumentarium für die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung bereit.

Der Siegeszug des statistischen Denkens, den Desrosières zu rekonstruieren bemüht ist, findet seinen Schlusspunkt in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Ab diesem Zeitpunkt konstatiert Desrosières eine Krise des statistischen Denkens, die mit dem Misstrauen gegenüber langfristigen Plänen, gesellschaftlichen Totalisierungen und Prognosen einherging. Diese Krise wird leider von Desrosières in seinem Schlusskapitel lediglich festgestellt und nicht weiter analysiert – hier bleiben viele Fragen offen, die hoffentlich in weiteren Forschungen geklärt werden können.

Gerade für HistorikerInnen, die sich im weitesten Sinne mit der ‚Verwissenschaftlichung des Sozialen’ (Raphael) in der Moderne beschäftigen, ist die Auseinandersetzung mit der statistischen Denkweise, wie Desrosières sie differenziert und ausführlich analysiert, in jedem Fall zu empfehlen. Auf beeindruckende Art und Weise gelingt es ihm, politische, gesellschaftliche und wissenschaftliche Diskussionen zu einer spannenden Geschichte der Statistik zu verbinden, auch wenn einzelne Abschnitte des Buches recht stark in einer traditionellen Ideengeschichte verhaftet bleiben. Eine Verknüpfung mit einer eher kultur- oder diskursgeschichtlichen ‚neuen’ Politikgeschichte wäre an einigen Stellen fruchtbar gewesen, um die Verbindungen zwischen statistischen Entwicklungen und gesellschaftlichem Ordnungsdenken stärker zu pointieren.

Anmerkung:
1 Zu nennen sind hier zum Beispiel Gigerenzer, Gerd (u.a.), Das Reich des Zufalls. Wissen zwischen Wahrscheinlichkeiten, Häufigkeiten und Unschärfen, Heidelberg 1999; oder das zweibändige Werk: Krüger, Lorenz u.a. (Hgg.), The Probabilistic Revolution, Cambridge 1987 (Bd. 1: Ideas in History, Bd. 2: Ideas in the Sciences).

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