Cover
Titel
The Jarrow Crusade. Protest and Legend


Autor(en)
Perry, Matt
Erschienen
Anzahl Seiten
264 S.
Preis
£ 12.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Reiß, German Historical Institute London

Der Marsch von ungefähr 200 arbeitslosen Männern aus der Stadt Jarrow nach London im Jahr 1936 ist der zentrale Erinnerungsort für die Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre in Großbritannien. Kein anderes Ereignis verkörpert im öffentlichen Gedächtnis Großbritanniens das Elend der Massenarbeitslosigkeit in dieser Zeit so sehr wie der so genannte ‚Kreuzzug’ aus Jarrow.

Der Jarrow Marsch war Gegenstand von diversen Ausstellungen, fünf Theaterstücken, zwei Musicals, einer Oper, diversen Pop- und Folksongs, verschiedenen Gemälden und Gedichten, einer Kurzgeschichte und einer Kindergeschichte, Performance Kunst, einem Wandgemälde, zwei Skulpturen, Glaskunsthandwerk, vier Fernsehdokumentationen (eine davon aus Deutschland) und vier Radioprogrammen. Er gab einem Ale und einer Kneipe seinen Namen und wurde in Spielzeug, Straßenamen, Fotographien, Wahlkampfpostern und Zeitungsartikeln thematisiert. 1986, fünfzig Jahre nach dem Ereignis, wurde der Marsch unter anderem mit der Absicht wiederholt, „to commemorate and celebrate one of the most potent and enduring images of unemployment in the 1930’s“.1 Perry zufolge war der Jarrow Marsch einer von lediglich zwei Einträgen für die 1930er-Jahre in einer Chronologie zur Geschichte Großbritanniens, die auf den Webseiten Britischer Botschaften angeboten wurde – der andere Eintrag war der Beginn des Zweiten Weltkrieges (S. 2f.).

Ungeachtet seiner zentralen Position im kulturellen Gedächtnis Großbritanniens gab es bisher keine veröffentlichte Monografie über den Jarrow Marsch aus der Feder eines/r Historikers/in.2 Die Erinnerung an das Ereignis wurde in einem erheblichen Maße durch Ellen Wilkinsons Buch ‚Jarrow: The Town that was Murdered’ mitgeprägt, das 1939 veröffentlicht wurde. 3 Wilkinson saß ab 1935 als Abgeordnete für Jarrow im britischen Unterhaus und war maßgeblich an der Organisation und Durchführung des Marsches beteiligt. Daneben wurde der Marsch in einer Reihe von geschichtswissenschaftlichen Studien mitbehandelt, deren Autoren ihn als repräsentativ für den Protest und das Leiden der Arbeitslosen stilisierten, oder ihn als positives Gegenmodel für den wesentlich umfangreicheren und dauerhafteren Protest des kommunistisch dominierten ‚National Unemployed Workers’ Movement’ (NUWM) in der Zwischenkriegszeit aufbauten. Matt Perrys Studie über den Marsch und seinen Mythos schließt diese – verblüffende – Forschungslücke, und dies auf überzeugende Weise. Perry selbst ist ein ausgewiesener Kenner der Materie, der mit „Bread and Work“ (2000) bereits eine exzellente Monografie zur Arbeitslosigkeit in der Zwischenkriegszeit vorgelegt hat. 4

Was „The Jarrow March“ hervorhebt ist die Art, in der Perry den Marsch in den ereignis- und sozialgeschichtlichen Kontext der Zeit einordnet. 1936 war ein bewegtes Jahr in der Geschichte Großbritanniens. Der Jarrow Marsch war nur einer von insgesamt vier Protestmärschen, die sich in zahlreichen kleineren Kontingenten nach London bewegten und dort im Rahmen von nur einer Woche Anfang November eintrafen. Zugleich entfaltete sich die Krise um die geplante Heirat des bei den Arbeitslosen populären Edward VIII. mit Wallis Simpson, die mit der Abdankung des Königs am 10. Dezember endete. Der Kampf gegen den Faschismus erreichte mit der ‚Battle of Cable Street’ am 4. Oktober einen Höhepunkt, und der Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges brachte viele der aktiv in die Arbeitslosenproteste involvierten Personen auf die Iberische Halbinsel, wo sie sich auf der Seite der Republik engagierten.

Perry arbeitet die Verflechtung zwischen diesen Ereignissen und dem Jarrow Marsch eindrücklich heraus, ebenso wie die Analogien zwischen diesem modernen ‚Kreuzzug’ und den Kreuzzügen des Mittelalters. Ein Beispiel hierfür ist die Produktion und Verwendung von Reliquien sowie der Glaube an ihre Authentizität, die Perry unter anderem anhand des „Jarrow Kreuzes“ in der Kirche von St. Mark in Leicester verdeutlicht. Der örtlichen Legende zufolge übernachteten die Marschierer 1936 in dieser Kirche und bekamen die Füße gewaschen, wofür sie das besagte Kreuz als Zeichen des Dankes zurückließen. Es wurde 52 Jahre später vom Bürgermeister von Leicester an Jarrow in einer Zeremonie zurückgegeben. Nachforschungen ergaben später, dass das Kreuz nicht von den Männern aus Jarrow, sondern den „Hunger Marchers“ des NUWM gestiftet wurde, die 1934 auf ihrem Weg nach London durch Leicester gekommen waren. Der Glaube an die Authentizität dieser Reliquie des „wahren Kreuzes“ war so stark, dass sich in Leicester sogar Menschen fanden, die sich an die Übergabe des Kreuzes während des ‚Kreuzzuges’ zu erinnern meinten (S. 102, 157).

Die romantisierende Nutzung der Kreuzzugsmetapher durch die Organisatoren des Jarrow Marsches kontrastiert Perry unter anderem mit der zeitgleichen „cruzada“ General Francos in Spanien, die in ihrer Brutalität weitaus mehr Ähnlichkeiten mit dem mittelalterlichen Vorbild hatte (S. 155f.). Der Jarrow Marsch glich den Kreuzzügen nur in seiner Fähigkeit, Folklore, Symbole und Mythen zu generieren: „Apart from the name, the Jarrow Crusade had nothing in common with the reality of the original Crusades; as for the capacity of the original crusades to generate folklore, symbols and myth that have become integral to British history that is a different matter, and the parallels are compelling.“ (S. 156).

Daneben spielen Individuen eine große Rolle in Perrys Buch. So geht Perry zum Beispiel stärker als andere Autoren auf die Aktivitäten und die Motive des Bischofs von Durham, Hensley Henson, ein, der den Jarrow Marsch nicht nur öffentlich verdammte, sondern auch hinter den Kulissen gegen ihn arbeitete. Die zentrale Rolle kommt jedoch Ellen Wilkinson zu, die über weite Strecken an der Spitze des Jarrow Marsches mitlief und auf der Labour Konferenz 1936 eindringlich und vergeblich um die Unterstützung der Gewerkschaften und der Labour Party warb. Perry zeichnet dabei ein sehr positives Bild von Wilkinson, von der Beatrice Webb 1927 behauptete, sie sei lediglich „an interpreter of other people’s thoughts and intentions“.5 Perry hält Wilkinson jedoch für „underestimated as a thinker“ (S. 106), und das Buch ist weiten Teilen ein Versuch, ihr Bild zu verbessern. Wilkinson sei mehr als nur eine engagierte Aktivistin gewesen: „a sophisticated understanding and a keen intellect lay behing her great passion“ (S. 189).

Die Einleitung des Buches reflektiert diesen doppelten Ansatz aus struktureller und personenbezogener Analyse. Nach einer kurzen Einführung in die verschiedenen Mythen, die mit dem Jarrow Marsch verbunden sind sowie der wechselnden Erinnerungskonjunktur an das Ereignis, schildert Perry den ‚Backdrop of Events’ und den ‚Backdrop of Personalities’. Im Hauptteil des Buches folgt er dem täglichen Verlauf des Marsches, wobei die Planungsphase des Marsches leider zu kurz kommt. Eingewoben in den Text sind verschiedene Exkurse, etwa über Ellen Wilkinsons Engagement für die Spanische Republik und die Verfolgten des NS-Regimes in Deutschland. Den Abschluss bildet eine Zusammenfassung, welche die Hauptthemen und Thesen noch einmal aufgreift, die Nutzung des Jarrow Mythos nach 1936 durch verschiedene Gruppen schildert und die Verbindung zu Protestbewegungen der Gegenwart zieht. Ein Anhang über das letztlich gescheiterte Projekt, in den 1930er-Jahren wieder Arbeitsplätze in Form eines Stahlwerkes in Jarrow zu schaffen, rundet das Buch ab.

„The Jarrow Crusade“ basiert auf einer beeindruckenden Vielfalt verschiedener Quellen, von offiziellen Dokumenten des Stadtrates von Jarrow, Polizei- und Geheimdienstberichten, Regierungsakten, Zeitungsartikeln, Interviews, lokalen Überlieferungen, über Quellen der Arbeiterbewegung, Autobiografien und Tagebücher sowie Denkmäler, Filme, Fotos, Belletristik und andere Formen der künstlerischen Auseinandersetzung, wie Oper, Theater und Gemälde. Die Schilderung, wie der Marsch und sein Mythos in der Kunst z.B. durch Thomas C. Dugdales Ölgemälde „Arrvial of the Jarrow Marchers“ herausgefordert oder durch Graham Ibbesons Bronzeskulptur „The Spirit of the Crusade“ bestätigt werden, gehört zu den interessantesten Aspekten von Perrys Studie. Es ist schwer sich vorzustellen, dass dieser Bandbreite an Quellen noch neues Material hinzugefügt werden kann.

Auf der Basis dieser umfangreichen Quellensammlung demontiert Perry die verschiedenen Komponenten des Jarrow Mythos: den angeblich apolitischen Charakter des Marsches und seine herausragende Organisation, seinen angeblichen Erfolg, die Vorstellung, er habe umfassende Unterstützung genossen, sowie das Bild, er sei englisch und christlich im Charakter gewesen. Der Jarrow Marsch, so Perrys Fazit, war ein Misserfolg, eine Einschätzung, die von den Marschierern selbst geteilt wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er zu einem Mythos, den sich verschiedenste Gruppen aneignen und neu mit Inhalt füllen konnten. „The Jarrow Crusade is part of a usable past approved of by the institutions of the British state“ (S. 177).

Matt Perry ist ein vielschichtiges und gut recherchiertes, dabei sehr gut lesbares and leicht zugängliches Buch gelungen, das weit mehr ist als eine Studie des Jarrow Marsches und eine große Forschungslücke schließt. Es ist gleichzeitig ein engagiertes Buch, und der Autor schreckt nicht vor deutlichen Stellungnahmen zurück. Dies macht es auch für den Einsatz im Unterricht interessant, jedoch kann das Buch allen empfohlen werden, die sich für die Geschichte der 1930er-Jahre in Großbritannien interessieren.

Anmerkungen:
1 Broschüre “Jarrow 86”, Modern Records Centre, University of Warwick, Mss. 292D/135/23.
2 Die Standardwerke über den Marsch sind: Dougan, David, Jarrow March, Jarrow 1976; Pickard, Tom, Jarrow March, London 1982; Ennis, Frank, The Jarrow March of 1936. The Symbolic Expression of Protest, M.A., University of Durham, August 1982.
3 Wilkinson, Ellen, The Town That Was Murdered. The Life-Story of Jarrow, London 1939.
4 Perry, Matt, Bread and Work. Social Policy and the Experience of Unemployment, 1918-39, London 2000.
5 Zitiert nach: Harrison, Brian; Wilkinson, Ellen Cicely, Oxford Dictionary of National Biography, Internet Version.

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