M. Füssel u.a. (Hgg.): Ordnung und Distinktion

Titel
Ordnung und Distinktion. Praktiken sozialer Repräsentation in der ständischen Gesellschaft


Herausgeber
Füssel, Marian; Weller; Thomas
Reihe
Symbolische Kommunikation und Gesellschaftliche Wertesysteme 496
Erschienen
Münster 2005: Rhema Verlag
Anzahl Seiten
264 S.
Preis
€ 36,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nicolas Rügge, Niedersächsisches Landesarchiv - Staatsarchiv Osnabrück

Das höfische Zeremoniell, Festzüge, Erbhuldigungen und Ratswahlen – „repräsentative“ Anlässe solcher Art sind seit einiger Zeit ins Blickfeld der Mittelalter- und Frühneuzeitforschung gerückt. Die Selbstinszenierung sozialer Gruppen und politischer Einheiten lässt danach fragen, welche Ordnungsvorstellungen und Geltungsansprüche sich in den symbolträchtigen Verfahren manifestierten.

In den vorliegenden Sammelband, der aus dem Sonderforschungsbereich „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme“ an der Universität Münster hervorgegangen ist, fließt diese Forschungstradition durchaus mit ein. Die beiden Herausgeber Marian Füssel und Thomas Weller verfolgen darüber hinaus jedoch weitergehende Ziele, in deren Richtung sie die bisherigen Impulse zuspitzen. Zum einen betonen sie den konstruktiven und „performativen“ Charakter der Repräsentation. Deren Formen sehen sie als „Praktiken“ an, „die das zu Repräsentierende erst herstellen und bewirken“ – und zwar „jedes Mal aufs neue“ (S. 12). Die für die ständische Gesellschaft grundlegende soziale Ungleichheit stellte demnach keine festgefügte Vorgabe dar, die aus „objektiven“ Daten rekonstruierbar wäre, sondern musste von den Beteiligten – vor allem auf dem Weg symbolischer Kommunikation – immer wieder neu ausgehandelt werden: „Bei herausgehobenen zeremoniellen Anlässen und Ritualen inszenierte sich die ständische Gesellschaft vor sich selbst als hierarchisch gegliedertes Ganzes und stellte damit gesellschaftliche Ordnung überhaupt erst her“ (S. 11). Zum anderen wollen die Herausgeber den Blick von den spektakulären Inszenierungen auf die Breite der gesellschaftlichen Kommunikation lenken, die insgesamt ebenfalls von der Manifestation sozialer Unterschiede geprägt gewesen sei. Noch kaum erforscht sei insbesondere die symbolische Konstruktion der Rangordnung „unterhalb der Sphäre des Hofes und der adeligen Lebenswelt, etwa in Stadt und Dorf oder an den Universitäten“ (S. 20f.). Unter diesen Prämissen vereinigt der Band zehn Aufsätze – darunter vier aus einschlägigen SFB-Projekten –, die das Leitthema anhand unterschiedlicher Forschungsgegenstände beleuchten.

Im ersten Beitrag untersucht Thomas Lüttenberg die Bemühungen königlicher Amtsträger in Frankreich, ihren behaupteten Rang in einer Provinzgesellschaft durchzusetzen. Seit Mitte des 16. Jahrhundert auf das Land verteilt, mussten sich die Schatzmeister bei zeremoniellen Anlässen und im „Alltag“ ihren Platz in der Hierarchie der Justiz, der Stadtoberen und des Adels erstreiten. Das Beispiel Bourges erweist dabei ein kompliziertes Zusammenspiel von Recht, Amtsehre und Herkunft. Dass den Schatzmeistern als Korporation die Behauptung ihres verbrieften Vorrangs nicht gelang, zeigt das „Gewicht der Praxis“ (S. 46) gegenüber dem Recht.

Einer ganz anderen und letztlich doch vergleichbaren Welt widmet sich Marian Füssel: der frühneuzeitlichen Universität, in diesem Fall den Beispielen Tübingen und Ingolstadt. Konfessionsunabhängig führte hier die mangelnde Regelung des Verhältnisses zu anderen Korporationen, Institutionen und Gruppen (Stadt, Adel, Militär, Hofgericht) eine „schwebende Verfassung“ (S. 73) herbei, die sich als ausgeprochen (rang-)konfliktträchtig erwies.

Anschließend analysiert Thomas Weller die zeremoniellen Ausprägungen und den Wandel von Bürgermeisterbegräbnissen im frühneuzeitlichen Leipzig. Im 17. und frühen 18. Jahrhundert galt die Aufmerksamkeit nicht zuletzt der Platzierung der Teilnehmer am Trauerzug, wodurch die Rangverhältnisse erst „symbolisch her(gestellt)“ worden seien (S. 89). Später kamen exklusivere, jedoch nicht minder aufwändige Begräbnisse in Mode. Die Bürgermeister definierten ihren Rang zunehmend über ihr Verhältnis zum Landesherrn und legten daher auf die symbolische Präsenz der ganzen Stadt bei ihrer Beisetzung immer weniger Wert.

Noch weiter gefasst ist der zeitliche Rahmen des Beitrags von Stefanie Rüther über die „Repräsentationsformen bürgerlicher Herrschaft in Lübeck“ von der Entstehung des Rates um 1200 bis ins 18. Jahrhundert. Die Ausbildung der Ratsobrigkeit ging hier einher mit repräsentativen Akten (Ratswahl, fromme Stiftungen) und der Gewinnung der Verfügungsgewalt über das Kirchengut. Die Führungsschicht etablierte damit ihrer alleinigen Deutungshoheit unterliegende „symbolische Grenzen“ (S. 134) von so suggestiver Kraft, dass der Autorin das Konzept der „konsensgestützten Herrschaft“ (nach Meier/Schreiner) nicht treffend erscheint.

Ebenfalls in der städtischen Gesellschaft angesiedelt ist Claudia Strieters Untersuchung über die Schwierigkeiten der Lippstädter Leineweber um 1700, ihre offenbar schon längere Zeit bestehende Zunft nicht nur für ehrlich erklären, sondern auch im Stadtregiment verankern zu lassen. Das neue landesherrliche Privileg stieß vor allem insofern auf den Widerstand der etablierten lokalen Kräfte, als es deren Exklusivität bei der Einnahme symbolisch herausgehobener Ehrenstellen zu beeinträchtigen drohte.

Anschließend gelangt Ralf-Peter Fuchs auf der Grundlage westfälischer Injurienprozesse vor dem Reichskammergericht zu grundsätzlichen Überlegungen über das frühneuzeitliche Recht. Obwohl „Recht und Ordnung“ untrennbar schienen, lassen sich doch ein „distinktives“, die ständische Ranghierarchie beachtendes, und ein „universalistisches“, die Unversehrtheit jedes spezifischen Ehrmaßes schützendes (und damit potenziell gesellschaftliche „Unordnung“ erzeugendes) Prinzip unterscheiden. Im letzteren Sinn wurde in den Injurienverfahren vornehmlich „um die Ehre prozessiert, nicht um den Rang“ (S. 171).

Die beiden folgenden Beiträge sind dem höheren Adel gewidmet, also einer für symbolische Distinktion traditionell prädestinierten Gruppe. Andreas Pecar analysiert am Beispiel des kaiserlichen Hofes im 17. und 18. Jahrhundert das Spannungsverhältnis zwischen dem auf Hofämter und „Kaisernähe“ abgestellten Hofzeremoniell und den gleichwohl vorhandenen Möglichkeiten adliger Selbstdarstellung, die in Wien insbesondere der barocke Schlossbau bot. Am Beispiel der Grafen von Ysenburg-Büdingen geht Thomas Mutschler der Bedeutung der Hausordnung für eine im 16./17. Jahrhundert normativ noch unzureichend verfasste hochadlige Familie nach. Eine besondere „ordnungsstiftende Funktion“ (S. 201) kam in dieser Zeit einem Gelöbnis zu, das die in Herrschaftspositionen eintretenden Familienmitglieder leisten mussten.

Die letzten beiden Aufsätze heben stärker auf die kommunikative Dimension gesellschaftlicher Ordnungsproduktion ab. Michael Jucker weist am Beispiel eidgenössischer Gesandter nach, dass auch in der vermeintlich „protodemokratischen“ Schweiz gegen Ende des 15. Jahrhundert der Ausdruck von Rang und Distinktion eine wichtige Rolle spielte, wobei sich ein erheblicher Teil der Symbolik auf die Körperlichkeit der Gesandten bezog. Schließlich deutet Heiko Droste die barockzeitliche Nutzung von Briefen am Hof und in der Verwaltung als „Medium symbolischer Kommunikation“. Gerade die häufig als bloß formelhaft abgewerteten Briefe des 16. bis frühen 18. Jahrhundert geben durch ihre Analogie zur Aufwartung und durch ihre formalen Merkmale vielfachen Aufschluss über gesellschaftliche Rangordnungen. Zugleich konnten sie als Mittel zu deren Veränderung durch Patronage und sozialen Aufstieg dienen.

Der stets auf hohem Niveau argumentierende, sorgfältig redigierte Band gewährt einen hervorragenden Einblick in aktuelle Forschungsarbeiten. In einem für Aufsatzsammlungen seltenen Maß macht diese neugierig auf die meist zugrunde liegenden, schon greifbaren oder demnächst erscheinenden Monografien. Ganz zweifellos wird der Band der Diskussion wertvolle Impulse geben und – so hofft auch der Rezensent – in der Tat mit dazu beitragen, die Ordnung vormoderner Gesellschaften bis auf die unteren Ebenen der sozialen Hierarchie und bis in die alltäglichen Lebens- und Kommunikationszusammenhänge besser zu erfassen. Dieses hohe Ziel dürfte umso näher rücken, je intensiver auch die Analyse von „vermeintlich objektiven Dimensionen sozialer Ungleichheit wie Einkommen, Subsistenzweise, rechtlichem Status, politischen Partizipationsmöglichkeiten usw.“ (S. 10) einbezogen und konstruktivistische Übertreibungen vermieden werden. Sicher wird kaum noch ein Historiker die vormoderne Welt als sozial weitgehend statische Veranstaltung begreifen. Doch muss die weitere Diskussion erweisen, wie weit das gegenteilige Extrembild eines ständigen, vornehmlich auf symbolischer Ebene ausgetragenen Ehr- und Abgrenzungskampfes in einem gesellschaftlichen Schwebezustand ohne vorgegebene soziale Festgefügtheiten Geltung beanspruchen kann. Die wichtigsten Aufschlüsse scheinen nicht dort zu erwarten, wo sich in getrennten Welten lebende Korporationen und höhergestellte Persönlichkeiten nur ausnahmsweise miteinander arrangieren mussten, sondern wo sich fundamentale Prozesse sozialer Ungleichheit als Verteilungskonflikte um symbolische und höchst irdische Güter interpretieren lassen.

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