U. Wölfel (Hg.): Literarisches Feld DDR

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Titel
Literarisches Feld DDR. Bedingungen und Formen literarischer Produktion in der DDR


Herausgeber
Wölfel, Ute
Erschienen
Anzahl Seiten
232 S.
Preis
€ 11,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Carola Hähnel-Mesnard, Département des Langues et Cultures, Ecole Polytechnique, Paris

Mit einem Sammelband zur Literatur der DDR, der themenübergreifend Bourdieus Modell des literarischen Feldes zum gemeinsamen methodologischen Nenner macht, trägt die Herausgeberin zur Aufarbeitung eines Forschungsdesiderats bei. Der Großteil der zwölf Artikel geht auf eine bereits 2003 stattgefundene Tagung am Lehrstuhl von Ursula Heukenkamp an der Humboldt-Universität zu Berlin zurück.1 Letztere war es auch, die Mitte der 1990er-Jahre Bourdieus Analysemodell in die Debatte um die Bewertung der DDR-Literatur brachte und selbst erste Ansätze zu dessen Anwendung lieferte.2 Der vorliegende Band ist ein wichtiger Schritt in Richtung auf eine eingehendere Diskussion über die Anwendbarkeit des Feldmodells auf die Literaturverhältnisse der DDR. Angesichts der anhaltenden Evaluierung der DDR-Literatur hat die literatursoziologische Perspektive Bourdieus den Vorteil, Bedingungen und Formen literarischer Produktion in ihrem komplexen Beziehungsgeflecht zu untersuchen und Positionen im intellektuellen Kräftefeld darzustellen, ohne sie einer Wertung zu unterziehen. So wird vermieden, dass subjektive Kriterien wie die Fokussierung auf die „bessere“ bzw. „interessante“ DDR-Literatur (Wolfgang Emmerich) den Blick auf das gesamte Spektrum der Literaturproduktion und mithin das Selbstverständnis zahlreicher AutorInnen verstellen.

Der dreiteilige Band, dessen wichtigste Artikel hier resümiert werden, geht der zentralen „Frage nach dem historisch konkreten Prozess der relativen Autonomisierung“ (S. 5) des literarischen Feldes der DDR nach, indem er die zunehmende Loslösung der Literatur von kulturpolitischen Vorgaben nachzuzeichnen versucht. Im ersten Teil steht der Zusammenhang von Ästhetik und Autonomie im Mittelpunkt. Dieser wird zunächst von Leon Hempel am Beispiel von Georg Maurers Lyrikseminar am Literaturinstitut Leipzig analysiert. Sowohl die Rückbesinnung auf ästhetische Kategorien als auch der beginnende künstlerische Wettstreit um das Wesen sozialistischer Dichtung sei Ausdruck einer beginnenden Autonomisierung des literarischen Feldes; allerdings deute die fehlende Distanzierung zur Politik die Grenzen dieses Prozesses an. Hier stellt sich jedoch die Frage, ob dort, wo sich AutorInnen als „Korrektiv“ der Politik verstehen (S. 18), überhaupt von literarischer Autonomie gesprochen werden kann. So unterstreicht z.B. Gisèle Sapiro, dass unter autoritären Herrschaftsstrukturen die Autonomie des Feldes trotz Widerstandsphänomenen gering ist, da die politische Auseinandersetzung den Antagonismus zwischen „Häretikern“ und orthodoxen Schriftstellern bestimmt.3

Einen überzeugenden Beitrag zur Analyse der Bedingungen literarischer Autonomie liefert Herausgeberin Ute Wölfel, die am Beispiel von Angela Krauss’ Erzählung „Das Vergnügen“ (1984) untersucht, inwiefern es Krauss gelingt, bei der Darstellung des seit den 1920er-Jahren für die sozialistische Literatur bedeutsamen Themas Arbeit einen Bruch zu vollziehen. Während bisherige Darstellungen der Arbeitswelt vom politischen Diskurs der Macht geprägt waren – gerade auch dort, wo AutorInnen Kritik übten – vollzieht Krauss ein „De-Engagement“ gegenüber der sozialistischen Ethik. Stilistisch dienen permanente Ironisierung und ästhetische Selbstreflexion der Loslösung vom offiziellen Diskurs. Wölfels Analyse ist wichtig, weil sie es erlaubt, feldinterne Momente der Heteronomie auszumachen, hier konkret im engagierten Festhalten an bestimmten Sujets ebenso wie in der Interdependenz von Diskurs und Gegendiskurs.4

Henning Wrages theoretischer Aufsatz über distinktionssoziologische Ansätze im Kontext der DDR-Kultur wirft grundlegende Fragen über die Anwendbarkeit soziologischer Modelle auf, die ursprünglich am Beispiel ausdifferenzierter Gesellschaften entwickelt wurden. Der Beitrag, der parallel zu Bourdieu auch Luhmanns Systemtheorie hinterfragt, schlägt als Alternative zur Beschreibung der DDR-Kultur in Anlehnung an Zygmunt Baumanns Moderne-Konzept das Wechselspiel von Ordnung und Ambivalenz vor. Bourdieus Modell, dessen Grenzen im Band oft problematisiert werden, wird hier jedoch zu schnell einem neuen Ansatz geopfert, für dessen Operationsfähigkeit überzeugende Beispiele fehlen.

Im zweiten Teil steht die Frage des Habitus im Mittelpunkt, die zunächst von Churaithong Thongyai am Beispiel von Wolfgang Hilbigs Positionierung im Feld der DDR und des vereinten Deutschland beschrieben wird. Georg Ohlerichs Analyse der Position Erik Neutschs ist aus theoretischer Perspektive interessant. Ohlerich skizziert die polare Struktur des literarischen Feldes zwischen künstlerischer Autonomie und parteipolitischer Haltung. Wie in Hempels Beitrag stellt sich jedoch die Frage, ob von Autonomie gesprochen werden kann, wo das Politische sowohl inhaltliche als auch ästhetische Überlegungen bestimmt und, wie Ohlerich unterstreicht, viele AutorInnen kein Interesse an literarischer Autonomie hatten. Neutschs Positionierung sieht Ohlerich als Beispiel einer „Kapitalienmischung“ zwischen politischem und kulturellem Kapital. Obwohl sich Neutsch klar am heteronomen Pol des Feldes verorten lässt, setzte er sich mit zunehmender Sorge um literarische Anerkennung punktuell für einen autonomen Status der Literatur ein. Dies sei ein Zeichen von „gleichzeitiger Heteronomie und Autonomie literarischen Schaffens“ (S. 119).

Anstatt von doppelter Feldzugehörigkeit zu sprechen, die eine bei Bourdieu nicht vorgesehene Besetzung zweier gegensätzlicher Pole suggeriert 5, wäre es wohl richtiger, bei den einzelnen AutorInnen die unterschiedliche Gewichtung heteronomer und autonomer Elementen in ihrer Laufbahn zu bestimmen und die ganze Spannbreite der Positionen zwischen den Extremen auszuschöpfen. Auch wäre die Frage interessant, in welchem Umfang und unter welchen Umständen rein heteronome (ebenso wie rein autonome) AutorInnenpositionen in der DDR-Literatur auszumachen sind. Um den Autonomie-Begriff nicht zu überbeanspruchen – dies gilt auch für andere Beiträge – wäre es sicher sinnvoll, zwar von einer polaren Struktur des Feldes auszugehen, den autonomen Pol jedoch zunächst als „strukturelle Lücke“ 6 aufzufassen, die nicht zu jeder Zeit besetzt war.

Der letzte Teil des Bandes widmet sich neben Zäsuren in der Entwicklung des Feldes – Holger Brohm untersucht ausgehend von Stephan Hermlins Lyrik-Abend 1962 die Auseinandersetzungen zwischen jüngeren AutorInnen und KulturfunktionärInnen – hauptsächlich Interferenzen bzw. auch dem Vergleich mit den literarischen Feldern anderer Länder (Bundesrepublik Deutschland, Polen). Gesine Bey geht am Beispiel des internationalen Schriftstellertreffens in Knokke het Zoute in Belgien im April 1954 dem Versuch einiger renommierter AutorInnen nach, über die politischen Ost-/West-Grenzen hinweg ein gemeinsames europäisches intellektuelles Feld aufrechtzuerhalten. Das Auftreten von AutorInnen wie Seghers und Brecht, die weiterhin von ihrem kulturellen Kapital und ihren internationalen Kontakten aus der Zeit der Weimarer Republik und des Exils profitieren, verdeutlicht, dass das literarische Feld der DDR – wie in manchen Beiträgen suggeriert – keine Schaffung „ex nihilo“ ist.

In ihrem Beitrag zur Neukonstituierung des literarischen Feldes im Polen der Nachkriegszeit öffnet Silke Pasewalck eine wichtige vergleichende Perspektive. Sie untersucht, welche alternativen Positionen zur heteronomen AutorInnenposition möglich waren und wodurch diese favorisiert wurden. Andreas Degens ausführlicher Beitrag zu Johannes Bobrowskis Position „zwischen allen Stühlen“ (S. 179) erhellt über den Autor hinaus das komplizierte Wechselverhältnis deutsch-deutscher Kulturkontakte. Erst die Anerkennung durch die bundesrepublikanische Öffentlichkeit ermöglichte Bobrowski den Eintritt in das literarische Feld der DDR, welcher sich wiederum negativ auf seine bis dahin behauptete Autonomie auswirkte. Abschließend widmet sich Markus Joch der Konfrontation zweier literarischer Felder nach dem Fall der Mauer, indem er die Logik des deutsch-deutschen Literaturstreits analysiert.

Insgesamt wäre es für die LeserInnen sicherlich ein Gewinn gewesen, die Beiträge in chronologischer Anordnung zu lesen, um synchron Positionen vergleichen und diachron strukturelle Veränderungen des Feldes nachvollziehen zu können. Denn auch wenn die Herausgeberin keine Geschichte des literarischen Feldes der DDR intendierte, so könnte eine solche durchaus eine forschungsleitende Perspektive bieten. Über den Bourdieuschen Ansatz hinaus vereint der Sammelband eine Reihe grundlegender Untersuchungen zu einzelnen AutorInnen und Perioden und bietet wichtige Anregungen für eine vertiefende Auseinandersetzung bei der Anwendung des Feldmodells auf die Literatur der DDR.

Anmerkungen:
1 „Literarisches Feld DDR? – DDR-Literatur auf dem Weg zur Autonomie“. Colloquium im Literaturhaus Berlin vom 14. bis 16. Februar 2003, organisiert von Ute Wölfel und Hania Siebenpfeiffer (Institut für deutsche Literatur, Humboldt-Universität zu Berlin).
2 Vgl. z.B. Heukenkamp, Ursula (Hg.), Unterm Notdach. Nachkriegsliteratur in Berlin 1945-1949, Berlin 1996.
3 Sapiro, Gisèle, The Literary Field between the State and the Market, in: Poetics 31 (2003), S. 446.
4 Die semantische Distanzierung vom offiziellen Diskurs und der Verzicht auf Gegenrede wurde in den 1980er-Jahren am konsequentesten von den AutorInnen der Parallelkultur vollzogen, die sich durch die Schaffung selbst verlegter Zeitschriften nicht nur diskursiv, sondern auch institutionell von den Machtstrukturen lösten und so den autonomen Pol des Feldes besetzen konnten.
5 Bourdieu, Pierre, Espace social et genèse des ‘classes’, in: Actes de la recherche en sciences sociales, 52/53 (1984), S. 3.
6 Bourdieu, Pierre, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt am Main 1999, S. 372.

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