A. Geppert u.a. (Hgg.): Ortsgespräche

Cover
Titel
Ortsgespräche. Raum und Kommunikation im 19. und 20. Jahrhundert


Herausgeber
Geppert, Alexander C.T.; Jensen, Uffa; Weinhold, Jörn
Reihe
Zeit - Sinn - Kultur
Anzahl Seiten
378 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrike Jureit, Hamburger Institut für Sozialforschung

„Topographical turn“ lautet momentan eine Zauberformel in der Geschichtswissenschaft. Der letzte Historikertag stand unter dem Motto „Kommunikation und Raum“, und zahlreiche Tagungen, Workshops und Sammelbände haben in den letzten Jahren dazu beigetragen, dass die Kategorie „Raum“ als Grundbedingung historischer Ereignisse in den Theoriebestand der Geistes- und Sozialwissenschaften zurückgekehrt ist – zumindest dem Anspruch nach. In der Historikerzunft „räumelt“ es zwar gewaltig, allerdings häufig ohne wirklichen Erkenntnisgewinn. Der von Alexander C.T. Geppert, Uffa Jensen und Jörn Weinhold herausgegebene Sammelband, der auf eine Tagung des „Arbeitskreises Geschichte und Theorie“ (http://www.geschichte-und-theorie.de) mit dem Titel „Verklärung, Vernichtung, Verdichtung. Raum als Kategorie einer Kommunikationsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“ zurückgeht1, betrachtet den gegenwärtigen Raumdiskurs deshalb zu Recht kritisch: Die Rede vom Raum ermögliche es, das schwere Gepäck früherer Theoriedebatten hinter sich zu lassen und mit Verweis auf räumliche Bedingungen und geografische Gegebenheiten zur Materialität der Geschehnisse zurückzukehren. Dabei müsse der von Hause aus eher empirisch orientierte Durchschnittshistoriker nicht einmal ein schlechtes Gewissen haben, denn das Etikett „Raum“ verleiht selbst dem Neo-Positivismus noch einen theoretischen Glanz, mit dem man sich auch international sehen lassen kann.

Mit der dezidierten Kritik an der bisherigen Forschungspraxis sind zugleich theoretische Ansprüche formuliert, die von den Herausgebern des Bandes auch eingelöst werden. Ihre Einleitung ist ein überzeugender Versuch, über Raum „im Zusammenhang mit und in Abhängigkeit von einer noch nicht geschriebenen Kommunikationsgeschichte der modernen Gesellschaft nachzudenken“ (S. 18). Dabei vertreten Geppert, Jensen und Weinhold einen relationalen und somit nicht-substantialistischen Raumbegriff, „der zugleich eine Historisierung des alltäglichen ‚Geographie-Machens’ (Benno Werlen) erlaubt“ (S. 19). Ihre Perspektive der „Verräumlichung“ betont ein prozessuales Verständnis von Raum, das sie jenseits der üblichen Anwendungsfelder in der Stadt-, Sozial- und Technikgeschichte kommunikationstheoretisch verankern. Demzufolge lautet eine der Kernthesen, dass Räume nicht nur gesellschaftliche Kommunikation strukturieren, sondern auch selbst kommunikativ geschaffen werden. Räume sind keine gegebenen Größen, sondern symbolische Ordnungen, deren reale Wirkungsmächtigkeit jedoch nicht zu unterschätzen ist.

In Anlehnung an Reinhart Koselleck nehmen die Herausgeber den Zeitraum zwischen 1840 und 1930 als „Sattelzeit der modernen Kommunikationsgeschichte“ in den Blick (S. 49). Die Erfindung von Eisenbahn und Telegraf, später auch von individuellen Transport- und Kommunikationstechnologien werden als zentrale Faktoren einer sich allmählich verändernden Raumwahrnehmung aufgefasst. Dieser Veränderungsprozess forderte vom Einzelnen nicht nur eine erhebliche Flexibilität, sondern war auch durch die kommerzielle Herausbildung standardisierter Raummuster geprägt. Damit waren zugleich moderne Vergemeinschaftungsformen verbunden, die den sozialen Zugang zu den neuen Transport- und Kommunikationstechnologien regulierten. Darüber hinaus enthielt der Modernisierungsprozess ein beachtliches utopisches Potenzial, das jedoch trotz der damit verbundenen euphorischen Zukunftsperspektive nicht über kollektive Verlusterfahrungen und Orientierungskrisen hinwegtäuschen konnte.

Nach der theoretisch wie empirisch auf hohem Niveau argumentierenden Einleitung ist der Band in vier thematische Bereiche unterteilt. Im Abschnitt „Raumkonzeptionen“ werden die Eingangsüberlegungen der Herausgeber erneut aufgegriffen: Während Alexander Mejstrik verschiedene Raumvorstellungen in den Sozial- und Kulturwissenschaften systematisiert und Judith Miggelbrink die (Un-)Ordnung des Raumes im ausgehenden 20. Jahrhundert hinterfragt, denkt Antje Schlottmann darüber nach, wie die zu beobachtende Abwendung von essentialistischen Raumkonzepten zu bewerten ist. Einem vielerorts strengen Konstruktivismus hält die Autorin entgegen, dass es nicht um eine richtige (konstruktivistische) oder eben falsche (essentialistische) Raumauffassung gehe, sondern um die Frage, für welche gesellschaftlichen Phänomene es konstitutiv ist, Räume als Container mit einem klar definierten Innen und Außen zu definieren. Nicht die „Essentialisierung und ‚Containerisierung’ an sich ist kritisch zu betrachten, sondern das, was mit dieser angestellt wird“ (S. 129). Schlottmann geht es nicht um die Entlarvung falscher Raumvorstellungen, sondern um unergiebige Fragen an die Geschichte.

In den drei übrigen Abschnitten zu den „Techniken der Raumerschließung“, zu „urbanen Topographien der Kommunikation“ und zur „Kommunikation ästhetisierter Räume“ sind weitere neun Beiträge zusammengestellt, die ein breites Spektrum der Zusammenhänge von Raum und Kommunikation erkennen lassen. Architektur, Malerei und Museum gehören ebenso zu den bearbeiteten Themen wie die öffentliche Kommunikation in der modernen Großstadt oder in den europäischen Kurorten des 19. Jahrhunderts. Auch dem Telefonieren als besonderer Form der räumlich gedehnten Äußerung sowie der telegrafischen Vernetzung des nordatlantischen Raumes sind lesenswerte Beiträge gewidmet. Besonders herauszuheben sind noch die Überlegungen Alexander Honolds zur „Kolonialisierung des geografischen Raumes“. Er geht der für den Imperialismus nützlichen Arbeitsfiktion des leeren, noch nicht eroberten Raumes nach und beschreibt sie als kulturell produzierte Legitimationsformel, mit der Abenteurer, Spurensucher und Kolonisatoren ihre historische Mission vor sich und anderen zu rechtfertigen versuchten. Da sich besonders der afrikanische Kontinent der Verräumlichung hartnäckig zu verweigern schien, war gerade hier das imperiale Begehren nach Raumerschließung besonders leidenschaftlich.

Nicht alle Autoren haben sich einer so reflektierten Rede vom Raum verpflichtet gefühlt, wie sie in der Einleitung der Herausgeber entfaltet wird. Der prozessuale Aspekt der Verräumlichung gerät in manchen Einzelbeiträgen eher in den Hintergrund oder wird durch das übliche Behältermodell überdeckt, ohne dass diese Dominanz kritisch hinterfragt wird. Hier wäre eine konsequentere Umsetzung des eigenen theoretischen Entwurfes wünschenswert gewesen. Doch trotz solcher kritischen Einwände ist es den Herausgebern gelungen, das innovative Potenzial raumorientierter Forschungskonzepte aufzuzeigen. Der Band gehört daher zu den außergewöhnlichen und herausragenden Publikationen, von denen der aktuelle Raumdiskurs leider nicht sehr viele zu bieten hat.

Anmerkung:
1 Vgl. den Tagungsbericht der Veranstalter: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=213>.