G. Wolnik: Mittelalter und NS-Propaganda

Titel
Mittelalter und NS-Propaganda. Mittelalterbilder in den Print-, Ton- und Bildmedien des Dritten Reiches


Autor(en)
Wolnik, Gordon
Erschienen
Münster 2004: LIT Verlag
Anzahl Seiten
480 S.
Preis
€ 43,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Julian Führer, Historisches Seminar, Universität Zürich

Diese im Jahr 2003 in Frankfurt am Main angenommene Dissertation stellt sich der Frage, „inwieweit neben dem Einfluß der NS-Ideologie die charakteristischen Elemente der Mittelalterbilder in den gleichgeschalteten Medien Deutschlands zur Zeit des Nationalsozialismus von der akademischen Mittelaltergeschichtsforschung beeinflußt wurden“ (S. 13). Dieser Ansatz fragt nicht primär nach der Rolle der Historiker im Nationalsozialismus oder ausschließlich nach den Mittelalterbildern, sondern ausdrücklich nach der Wirkung der Wissenschaft auf die Popularisierung in der Propaganda. Der Titel hätte daher vielleicht etwas präziser „Mittelalterforschung und NS-Propaganda“ heißen sollen. Gefordert ist also die Bewältigung sowohl der Forschungsprobleme und spezifischen Darstellungsweisen der Mediävistik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als auch die ihres Niederschlags in der Popularisierung. Diese Besprechung nun, dies vorweg, betrachtet das Buch vor allem von mediävistischer Seite.

Die Materialbasis hätte kaum breiter sein können, denn Gordon Wolnik hat es sich zur Aufgabe gemacht, nicht nur die mediävistische Forschung zu erfassen (allerdings deutlich beschränkt auf die damals wirkenden Ordinarien), sondern auch nicht weniger als 28 historische Romane der NS-Zeit mit Mittelalterthematik auszuwerten, ebenso populäre Sachliteratur, Schulbücher, Zeitungen (exemplarisch anhand des „Völkischen Beobachters“, der „Frankfurter Zeitung“ sowie der Wochenzeitungen „Das Reich“ und „Das Schwarze Korps“), Rundfunk und Film. Angesichts der Materialfülle beschleicht den Rezensenten ein gewisses Unbehagen, ob solche Mengen in einer Qualifikationsarbeit mit der nötigen Sorgfalt bearbeitet werden können, selbst wenn das vorliegende Buch fast 500 eng bedruckte Seiten umfasst.

In einem ersten Teil erläutert Wolnik die Vorstellungen vom Mittelalter, wie sie in nationalsozialistischen Medien konzipiert wurden. Neben den Schriften Adolf Hitlers, Heinrich Himmlers, Alfred Rosenbergs, Joseph Goebbels’ und Richard Walther Darrés werden Konzepte wie „Volksgemeinschaft“ und „Führerprinzip“ erläutert. Hier wie in späteren Kapiteln zeigt die Arbeit deutlich, dass bis in die Mitte der 1930er-Jahre die Rebellenfiguren wie Widukind und Heinrich der Löwe besondere Wertschätzung erfuhren, während im Zuge der Eroberungen der Kriegsjahre Karl der Große aufgewertet und das Reich mit seinen Herrschern verstärkt als Ordnungsfaktor wahrgenommen wurde. Bei dem in jedem Abschnitt aufs Neue rekapitulierten Umschwung in der Bewertung Karls des Großen vermisst man allerdings den Hinweis auf die Feier zum 1200. Geburtstag des Frankenkönigs und Kaisers am 2.4.1942, bei dem einem breiten Publikum die positive Umdeutung präsentiert wurde, was nicht ohne erstauntes Echo blieb.1 Die unterschiedliche Bewertung der vieldiskutierten Ostsiedlung wird gesondert geschildert; während die hochmittelalterliche Expansion nach Osten den nationalsozialistischen Lebensraumkonzepten durchaus entgegenkam, war Himmler gegenüber den mittelalterlichen Vorgängen skeptisch. Autoren des „Völkischen Beobachters“ erblickten in der Ostsiedlung eine „blutliche Germanisation“, Himmler hingegen hielt diese für gescheitert (S. 265, S. 301). Die besondere Stellung der von Albert Brackmann ins Leben gerufenen Nordostdeutschen Forschungsgemeinschaft (NOFG) als eines quasi geheimen Forscherverbunds ohne Institut wird treffend charakterisiert (S. 154). Stärkere Betonung hätte mitunter der Umstand verdient, dass die Mittelalterforschung ihrerseits ebenfalls zeitgebunden arbeitete und daher Ideologie und Forschung allein aufgrund der Themenauswahl nicht immer strikt zu trennen sind.

Den zweiten Hauptteil bildet die Analyse des verstreuten Materials, das breit referiert wird. Mitunter hätten weniger und dafür prägnantere wörtliche Zitate dazu führen können, die Arbeit ohne substantiellen Verlust straffer zu halten. Die Feststellung, dass durch Medien wie Zeitungen und Rundfunk die Verbreitung von Mittelalterbildern immer mehr außerhalb der Wissenschaft stattfand, hat etwas Banales an sich, wird aber nicht immer hinreichend thematisiert, wenn auf die mehr oder weniger intensive Rezeption der wissenschaftlichen Mediävistik eingegangen wird. Zeitungen und Hörfunk, so das Fazit, hätten durch die Kontrolle des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda und den stärkeren Aktualitätsbezug intensiver als andere Medien spezifisch nationalsozialistische Mittelalterbilder transportiert. Erstaunlich ist das Ergebnis, dass die mediävistische Forschung dennoch auch in den mehr auf Massenwirkung ausgerichteten Medien anscheinend stärker rezipiert wurde, als man dies vielleicht vermutet hätte und als es heute wohl noch der Fall ist.

Was nun die formale Einrichtung des Buches angeht, ist der Eindruck allerdings katastrophal. Selbst eine vorrangig auf den Inhalt ausgerichtete Lektüre hat binnen kürzester Zeit weit mehr als 1.000 Verstöße gegen Rechtschreibung und Zeichensetzung zutage gefördert, die nicht nur den Lesefluss erheblich stören, sondern teilweise sinnentstellend sind. Einige Beispiele mögen einen Eindruck vermitteln: Man erkenne „neben der Deutung der Ostsiedlung, mit der [sic!] in der Mediävistik vorgeformten Interpretationsmuster [sic!], auch bei der Darstellungen [sic!] der Herrscher eine eher traditionelle, aus der Geschichtswissenschaft stammende Perspektive auf das Mittelalter“ (S. 397). Wenig später: „So ist die Vorstellung vom Volk in ‚Paracelsus’ nicht nur in den vorgegeben [sic!] positiven Idee [sic!] und Taten des Wanderarztes konturiert, sondern nicht zuletzt in dem Negativbeispiel einer volksfeindlichen Gesellschaft der Stände, daß [sic!] dem Zuschauer zur Betrachtung vorgeführt wird, um sich von diesen abzuwenden“ (S. 430). Sinnentstellend bzw. schlicht falsch sind die Verballhornung der päpstlichen Bulle „Unam sanctam“ von 1302 zu „Unam sancium“ (S. 278) sowie Görings angebliche Rede „Über die Aufgaben des Vierteljahresplanes“ statt „Vierjahresplanes“ (S. 49 Anm. 154, S. 61 Anm. 248 und 249 etc.). Die Zitierweise in den Fußnoten schwankt zwischen Kurztiteln und Querverweisen (die mehrfach ins Leere führen); das Literaturverzeichnis enthält etliche Fehler, dafür fehlen diverse Titel, die in den Fußnoten durchaus mehrfach verzeichnet sind; der Text ist stärker untergliedert und enthält mehr Zwischenüberschriften als das Inhaltsverzeichnis; schließlich fehlt ein Register, das gerade bei der Fülle des benutzten Materials dringend zu wünschen gewesen wäre. In dieser Form hätte das Buch keinesfalls publiziert werden dürfen, und man fragt sich, warum weder die begutachtende Fakultät noch der Verlag hier eingegriffen haben.

Doch auch inhaltlich ist in diesem Buch einiges problematisch. Wenn es um mediävistische Fragen geht, werden mitunter Paraphrasen aus den Quellen irrtümlich als nationalsozialistische Interpretationen bezeichnet. Ein Schulbuch schildert die Designation Heinrichs von Sachsen zum König durch den sterbenden König Konrad I. im Jahr 918, die vom Autor als nationalsozialistisches „Volksdienertum“ bezeichnet wird (S. 244). Die Stelle steht so allerdings schon seit dem 10. Jahrhundert in der Sachsengeschichte Widukinds von Corvey (I,25). Die Bezeichnung der Feldzüge der Ungarn im Reich des 10. Jahrhunderts als ein großes Übel ist auch keine Erfindung von Ideologen des 20. Jahrhunderts, sondern findet sich bei Widukind, dem Continuator Reginonis und anderen zeitgenössischen Verfassern (S. 240). Im Gegenzug fehlen in den Ausführungen zur Debatte um die Entstehung des deutschen Reiches die Verweise auf die moderne Forschung, die einige Unstimmigkeiten hätten verhindern können; der gesamte Unterabschnitt 3.2.3.5 („Von der Volkwerdung der Deutschen im Mittelalter“) kommt ohne auch nur einen Verweis auf die in den letzten Jahrzehnten sehr rege Nationes-Forschung aus.2

Gordon Wolnik hat enorm viel Material verarbeitet (das er leider zu oft mehrfach zitiert). Wenn auch Einzelergebnisse schlüssig erscheinen, kann der viel versprechende Ansatz, verschiedene Medienkontexte in Bezug auf die Mittelalterbilder zu untersuchen, in dieser Form nicht als geglückt bezeichnet werden.

Anmerkungen:
1 Vgl. Goebbels, Joseph, Die Tagebücher. Teil II: Diktate 1941-1945, Bd. 4: April – Juni 1942, hg. von Elke Fröhlich, München 1995, S. 92 (Eintrag vom 13.4.1942): „Erhebliches Aufsehen hat in der deutschen Öffentlichkeit unsere vollkommene Kurswendung in der Beurteilung Karls des Großen bei der letzten großen Feier erregt. Wir dürfen uns solche Damaskus-Vorgänge nicht oft leisten, sonst würde die ganze nationalsozialistische Geschichtswissenschaft in Mißkredit geraten.“
2 Zusammenfassend Ehlers, Joachim, Die Entstehung des deutschen Reiches, München 1998.

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