C. Lepp; K. Nowak (Hg.): Evangelische Kirche im geteilten Deutschland

Titel
Evangelische Kirche im geteilten Deutschland (1945-1989/90).


Herausgeber
Lepp, Claudia; Nowak, Kurt
Erschienen
Göttingen 2001: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
346 S.
Preis
DM 43,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ludwig, Hartmut

Die evangelische Kirche in der DDR war 1989 ein Träger der „friedlichen Revolution“. Wenige Jahre danach wurde ihre Geschichte, methodologisch problematisch, zu einer Geschichte der Anpassung an die SED-Diktatur umgeschrieben. Das veranlaßte den Rat der Ev. Kirche in Deutschland (EKD) zu dem Forschungsprojekt „Die Rolle der Evangelischen Kirche im geteilten Deutschland“ (1996-2001). Das Taschenbuch könnte ein Desiderat schließen, doch es bietet nur einen Ausschnitt. Mit „Ev. Kirche“ ist fast nur die Amtskirche gemeint, nicht die konfessionellen Zusammenschlüsse der Lutheraner, Reformierten, Unierten, nicht die Arbeitszweige der Kirchen und schon gar nicht der kritisch-oppositionelle "Minderheitsprotestantismus", z.B. die Kirchlichen Bruderschaften und ähnliche Kreise.

Martin Greschat (Münster) beschreibt die Kirche in den ersten Nachkriegsjahren (11-45). Sah er bisher die These einer restaurativen Grundstimmung als neomarxistisches Vorurteil, schreibt er jetzt, daß "überkommene Gewohnheiten mitsamt der Beharrungskraft der Institutionen dominierten" (17f). Belegte er in „Die Schuld der Kirche“ (1982) die verschiedenen Positionen zur Stuttgarter Erklärung des Rates der EKD von 1945 differenziert, behauptet er hier, alle Mitglieder des Rates waren sich einig, nun auch „die Christen im Ausland auf ihr falsches und gefährliches Verhalten“ hinzuweisen (24). Indem er Martin Niemöllers unermüdliches Werben für die Anerkennung der eigenen Schuld nicht erwähnt, zeichnet er ein zu einseitiges Bild.

Der Bruderrat der EKD beschloß 1947 „Ein Wort zum politischen Weg unseres Volkes“ (Darmstädter Wort). Im Kontext der Irrweg-Diskussion der deutschen Geschichtswissenschaft (F. Meinecke u.a.) formulierte Hans Joachim Iwand im Entwurf: Der Irrweg, der in die „Katastrophe von 1933“ führte, werde nach 1945 fortgesetzt. In der Endfassung wurde diese These gestrichen. Als Irrwege benannte Iwand: Nationalismus, christlich-sozialer Konservatismus und weltanschauliche Frontenbildung. Auf Vorschlag Karl Barths wurde noch aufgenommen: Sich nicht so für die „Sache der Armen und Entrechteten“ eingesetzt zu haben, wie es das Evangelium fordert.

In der 5. These heißt es: Die Kirche hätte sich an ihren Auftrag durch den „ökonomischen Materialismus“ erinnern lassen müssen. Kritiker interpretierten das als „Sozialistenbeschluß“. Befürworter drehten die Fehldeutung um und sahen darin eine Anerkennung des Marxismus. Beides hält dem Wortlaut nicht stand. Nach dem Ende des Kalten Krieges sollte man den Text endlich genau lesen. Kurt Nowak (Leipzig) übernimmt die Deutung der Kritiker und fragt: “Wer wird nach der `passé d´une illusion´ (Francois Furet) seine Ablehnung des `ökonomische(n) Materialismus der marxistischen Lehre´ noch als historischen Irrtum bekennen wollen, wie es die Urheber des `Darmstädter Wortes´ taten?“ (120).

Greschat arbeitete heraus, daß hinter der Stuttgarter Erklärung das Geschichtsbild steht: der Nationalsozialismus sei als Produkt des Säkularismus nur durch Rechristianisierung überwindbar. Nowak lenkt zur früheren Sicht zurück: Hinter ihr stehe kein Geschichtsbild. Er will die Verbindung „Schuld und Geschichtsbild“ lösen (118ff). Denn bei einem „Geschichtsbildüberschuß“, wie im Darmstädter Wort, sei „das Schuldbekenntnis nur so viel wert, wie das ihm unterlegte Geschichtsbild. Der Schuldtext wird zum Text einer begrenzten Gesinnungsgruppe. Er verliert Wesentliches, wenn sein Geschichtsbild hinfällig wird.“ Es ist nicht neu, die Stuttgarter Erklärung gegen das Darmstädter Wort auszuspielen. Geschichtliche Schuld impliziert aber stets ein Geschichtsbild. Obwohl keiner mehr die Säkularismusthese vertritt, bleibt die Stuttgarter Erklärung ein Dokument kirchlicher Zeitgeschichte. Auch das Darmstädter Wort ist nicht hinfällig, zumal es kein „partiell marxistisches Geschichtsbild“ "kanonisierte"(118f).

Claudia Lepp (München) gliedert den Überblick 1949-1989/90 in vier Etappen:1949-1961, 1961-1969, 1969-1989, 1989/90 (46-93). Die EKD habe „allein schon aus kirchen- und konfessionspolitischen Gründen am Ziel eines geeinten und rechristianisierten Deutschland“ festgehalten. Obwohl sie in der Bundesrepublik ihre Position als Leitkonfession verlor, blieb sie einflußreich (46). Die „großen Debatten“ über Westintegration und Wiederbewaffnung, Militärseelsorge und Atombewaffnung erwähnt Lepp nur summarisch. Das ist wenig hilfreich für die eigene Urteilsbildung. In der DDR versuchte die SED in der 1. Etappe durch Verfolgung der christlichen Jugend (1952/53), Jugendweihe (1955ff), administrative Maßnahmen u.a. den Einfluß der Kirche zurückzudrängen.

Müssen politische Zäsuren auch kirchliche sein? Begann mit dem Mauerbau 1961 eine neue Etappe? Versuchte man nicht trotz aller Behinderungen, die Einheit der EKD zu erhalten? War nicht der 17. Mai 1958, als die Regierung der DDR die offiziellen Beziehungen zur EKD abbrach, die eigentliche Zäsur? Begann die 2. Etappe, die mit der Spaltung der EKD endete, nicht bereits mit dem der DDR-Kirche weitgehend oktroyierten Kommunique vom 21. Juli 1958 (52f)?

In der 2. Etappe lebten sich die Christen in beiden deutschen Staaten trotz Einheit der EKD auseinander. Der gesellschaftliche Umbruch („1968“) veränderte den Protestantismus tiefgreifend. Nicht erst die "Ostdenkschrift" (1965) förderte die Annäherung zur SPD (61). Der ausgeblendete „Minderheitsprotestantismus“ bewirkte sie bereits in den fünfziger Jahren. Gustav Heinemann - wegen der Wiederbewaffnung als Bundesinnenminister 1950 zurückgetreten und deshalb 1955 als Präses der EKD-Synode abgewählt - trat 1957 der SPD bei. Er, Johannes Rau, Erhard Eppler u.a. prägten Protestantismus und SPD nachhaltig. Die DDR-Kirche war in der 2. Etappe damit befaßt, ihre Verselbständigung theologisch und ab 1968 auch organisatorisch zu bewältigen. Die „Zehn Artikel über Freiheit und Dienst der Kirche“ (1963) waren der wichtigste Text. Die "Handreichung zur Seelsorge an Wehrpflichtigen" (1965) nennt die Entscheidung der Totalverweigerer und Bausoldaten "ein deutlicheres Zeichen" als den Wehrdienst (76). Eine solche Aussage findet sich in EKD-Texten nicht.

In der 3. Etappe waren EKD und Bund der evangelischen Kirchen in der DDR (BEK) selbständige Kirchenbünde. Lepps Bericht über den Weg des BEK, den sie in den Mittelpunkt stellt, als „Gratwanderung“ (Albrecht Schönherr) ist informativ und fair. Die Gestaltung der „besonderen Gemeinschaft“ zwischen BEK und EKD behandelt sie ausführlich. Bei der Friedensarbeit gibt es Überschneidungen mit dem Beitrag von Anke Silomon. Den „Konziliaren Prozeß für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung" 1988ff streift sie nur kurz. Waren für die verschiedenen Ergebnisse in Ost und West wirklich nur die „offene, pluralistische Gesellschaft der Bundesrepublik“ (84) der Grund? Die 4. Etappe umfaßt die Zeit bis zur "Neuvereinigung" von EKD und BEK im Juni 1991. In der „Loccumer Erklärung“ (1990) heißt es noch: Beide werden ihre unterschiedlichen Erfahrungen einbringen. Da das nicht gehalten wurde, fiel Verantwortlichen des BEK die Zustimmung schwer (91f). Das sollte zugegeben werden.

Die thematischen Beiträge vertiefen einzelne Schwerpunkte. Zur Studie "Vergangenheit und Schuld" von Dan Diner (Leipzig und Israel) verfaßt Nowak einen Kommentar. In Anlehnung an Karl Jaspers Begriff der „moralischen Schuld“ entwickelt Diner den Begriff „Gedächtniskollektiv“ (94-116). Das Schuldempfinden der Deutschen über Generationen lasse sich nur aus der Perspektive der Opfer erklären, während Versuche der Objektivierung eher der Perspektive der Täter verpflichtet seien. Nowak bestätigt das (117-134). Haltepunkt der protestantischen Schuldgeschichte "sind nicht für verbindlich erklärte Geschichtsbilder", sondern „veränderte Erfahrungen von Mensch und Gesellschaft.“ Der Holocaust sei ihr „Herzstück“ (121f). "In der DDR war die kritische Masse in Theologie und Kirche nicht groß genug, um einen historisch und theologisch signifikanten Beitrag“ zum christlich-jüdischen Gespräch zu leisten (126). Das trifft nicht zu! Das Wort der Synode von Berlin-Brandenburg „Zur Erneuerung unseres Verhältnisses zum Judentum" (1990) war für das gesamtdeutsche christlich-jüdische Gespräch vorwärtsweisend.

Anke Silomon (Berlin) beschreibt die kirchliche Friedensarbeit von EKD und BEK (135-160). Sie beschränkt sich auf kirchenamtliche Texte, berücksichtigt weder die Friedensarbeit der Kirchlichen Bruderschaften in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre noch die reformierte Erklärung „Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche“(1982). Die Überblicke über EKD und BEK stehen unvermittelt hintereinander. Wie ist zu erklären, daß die EKD faktisch über die „Heidelberger Thesen“ (1959), die einen Atomkrieg für möglich hielten, nicht hinauskam, während der BEK sein prophetisches Amt gegen die Politik der SED-Diktatur immer klarer wahrnahm?

Robert Goeckel (USA) faßt Maßnahmen der SED gegen die Kirchen (161-177) in Sachgruppen zusammen, statt sie historisch verschiedenen Phasen zu zuordnen. So kann ein Außenstehender sich kein klares Bild von Abfolge und Wirkung machen. Detlef Pollack (Frankfurt/Oder) analysiert die kirchliche Eigenständigkeit in der DDR und beschreibt das Handeln der Kirche an drei Fallbeispielen (178-205). Hartmut Ruddies (z.Z. St. Petersburg) reflektiert über „Protestantismus und Demokratie in Westdeutschland“ (206-227). Die Öffnung des Protestantismus zur Demokratie nach 1945 sei Folge des kulturellen und politischen Pluralismus. Man erkannte, daß Religion in der demokratischen Gesellschaft in anderen Formen wirke als vor 1945, einen geringeren Stellenwert habe und sich die „Bruchzonen“ zwischen Kirche und Protestantismus mehren. Katharina Kunter (Berlin) untersucht das Verhältnis von Ökumene und EKD zu „Europa“ während des Ost-West-Konflikts (255-275). Sie resümiert, daß sich die EKD lange nicht „aus ihrer deutschzentrierten Sichtweise zu lösen“ vermochte (267). „Für weite Kreise evangelischer Christen in der Bundesrepublik (blieb) Europa eine abstrakte, ferne Idee“ (269).

Harald Schultze (Magdeburg) setzt sich mit neuen Forschungen über die Kirche in der DDR, den Quellenwert von Stasi-Akten und den Arbeiten Gerhard Besiers auseinander (277-294, vgl. 128ff). Für Thomas Sauer (Erfurt) stand die Forschung zur kirchlichen Entwicklung in der Bundesrepublik unter dem „verengten Blick“ des „barthianischen Flügel(s) der Bekennenden Kirche“ (301). Als Beleg für das "bis heute" herrschende „Restaurationsparadigma“ (300) muß wieder Hermann Diems Broschüre „Restauration oder Neuanfang in der Evangelischen Kirche?“ (1946) herhalten (298), die wohl kaum einer der Kritiker las. Das Verdikt wird durch Wiederholung nicht überzeugender! Nach der Lektüre des Buches fragt man sich: Was brachte es an neuen Einsichten?

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