Die niederländische Politik und die Verfolgung von Kollaborateuren

: Nachspiel. Die niederländische Politik und die Verfolgung von Kollaborateuren und NS-Verbrechern, 1945-1989. Münster 2005 : Waxmann Verlag, ISBN 3-8309-1464-4 471 S. € 39,90

: De drie van Breda. Duitse oorlogsmisdadigers in Nederlandse gevangenschap 1945-1989. Amsterdam 2005 : Uitgeverij Balans, ISBN 90-5018-661-0 280 S. € 19,95

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Strupp, German Historical Institute, Washington, D.C.

Würde man in Deutschland fragen, wann und wo die letzten unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg verurteilten deutschen Kriegsverbrecher freigelassen wurden, so würden wohl nur wenige auf das Jahr 1989 und auf die Niederlande kommen. In den Niederlanden selbst ist dagegen das Schicksal der „Drei von Breda“ weithin bekannt – wobei die „Drei“ bis zur krankheitsbedingten Entlassung des SD-Mitarbeiters und Leiters der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ in Amsterdam, Willy Lages, 1966 noch vier und nach dem Tod des KZ-Aufsehers Joseph Kotalla 1979 nur noch zwei waren: Franz Fischer und Ferdinand Hugo aus der Fünten, beide unmittelbar mit der Organisation der Judendeportation in Den Haag und Amsterdam befasst. Der innenpolitische Streit um ihre Inhaftierung bzw. Begnadigung flackerte über 40 Jahre hinweg immer wieder auf. Politiker, Juristen und Psychiater, Angehörige der Organisationen des ehemaligen Widerstands, Journalisten und die allgemeine Öffentlichkeit führten dabei hochemotionale Diskussionen, die sich im Spannungsfeld von Rechtsstaatlichkeit und „humaner“ Rechtspflege einerseits und dem angemessenen Umgang mit dem Leid der Opfer des Krieges und ihren Erinnerungen an die deutsche Herrschaft andererseits bewegten. Zudem belastete die Existenz der „Drei“ die deutsch-niederländischen Beziehungen der Nachkriegszeit, auch wenn die deutsche Seite in ihren Bemühungen, eine vorzeitige Freilassung zu erreichen, nach 1960 eher zurückhaltend operierte.

Im Frühjahr 2005 erschienen innerhalb weniger Wochen zwei Bücher, die sich ausführlich diesem Thema widmen. Harald Fühner untersucht in seiner am Zentrum für Niederlande-Studien in Münster bei Friso Wielenga entstandenen Dissertation den Umgang mit deutschen und niederländischen Kriegsverbrechern und Kollaborateuren insgesamt, während sich Hinke Piersma in ihrer an der Universität von Amsterdam von Marjan Schwegman und Hans Blom betreuten Arbeit ganz auf Fischer, aus der Fünten, Kotalla und Lages konzentriert. Da allerdings bis 1964 alle anderen inhaftierten Deutschen und Niederländer außer den „Vier“ entlassen worden waren, decken beide Bücher doch in weiten Teilen dasselbe Themenfeld ab. Fühner und Piersma beziehen sich in ihren Darstellungen zudem in ähnlicher Weise auf den Kontext des niederländischen Umgangs mit der Vergangenheit: das öffentliche Desinteresse an den Ereignissen und vor allem ihren Opfern in den 1950er-Jahren und den dramatischen Wandel seit den 1960er-Jahren, der die Erinnerung an die Kriegszeit für viele Niederländer zu einer nationalen Aufgabe machte.

Während des Krieges und unmittelbar nach Kriegsende schien in den Niederlanden eine Haltung unversöhnlicher Härte gegenüber den Kollaborateuren aus dem eigenen Land und den Deutschen zu dominieren. In der „Phase der Bestrafungen“, die bei Fühner ausführlich behandelt wird, wurden nach der Befreiung des Landes über 120.000 Frauen und Männer unter oftmals chaotischen Bedingungen in Lagern interniert. Während insbesondere beim ehemaligen Widerstand der Ruf nach Rache und Gerechtigkeit bis in die späten 1940er-Jahre anhielt, setzte sich in der Regierung bald die Erkenntnis durch, dass man sich bei der Anklageerhebung im Rahmen der „Besonderen Rechtspflege“ (Bijzondere Rechtspleging) auf die schwereren Fälle konzentrieren musste. Die Zustände in den Lagern, die Überlastung der Sondergerichte, aber auch die Schwierigkeiten bei der Feststellung individueller Schuld, die angesichts der unzureichenden Kenntnisse über die internen Strukturen insbesondere die Aburteilung von Deutschen erschwerte, ließen kaum einen anderen Ausweg. Auch die Bevölkerung akzeptierte allmählich diesen Wandel. In mehreren Wellen und unter Anpassung der Kriterien wurde ein großer Teil der Internierten noch vor 1950 freigelassen, während gleichzeitig 154 Todesurteile und viele langjährige Haftstrafen gegen die Haupttäter verhängt wurden. Während sich Fühner für diesen Zeitraum weitgehend auf die niederländischen Kollaborateure konzentriert, bietet Piersma mehr Informationen zum Umgang mit den deutschen Angeklagten und geht ausführlich auf die Biografien und Prozesse der späteren Gefangenen von Breda ein.

Parallel bereiteten Freilassungen, Haftverkürzungen und Begnadigungen von der Todesstrafe die „Phase der Begnadigungen“ und des „forcierten Schweigens“ (Fühner) über die Vergangenheit vor, die bis 1962 andauerte. Hatten die ersten Maßnahmen in dieser Richtung noch pragmatische Hintergründe, so rückte bald die Sorge um den künftigen Zusammenhalt der niederländischen Gesellschaft in den Vordergrund. Es gab ein übergeordnetes staatliches Interesse an der Reintegration der Kollaborateure, insbesondere derjenigen, die sich nur der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit den Deutschen schuldig gemacht hatten. Dabei ging man von den pauschalen Entlassungen bzw. Haftverkürzungen der Anfangsjahre zu individuellen Begnadigungen über. Das Gnadenrecht war der Exekutive vorbehalten und damit parlamentarischer bzw. öffentlicher Kontrolle weitgehend entzogen. Dieser Umstand ermöglichte der Regierung Handlungsfreiheit, führte aber auch zu scharfer Kritik an der Undurchsichtigkeit der angewandten Kriterien sowie der als unangemessen empfundenen „Barmherzigkeit“ des katholischen Teils der Nachkriegskoalitionen und ihrer Justizminister. Fühner verteidigt die Haltung der Regierung, die einen schwierigen Mittelkurs zwischen den Forderungen des ehemaligen Widerstands nach Gerechtigkeit und der Sehnsucht größerer Teile der Bevölkerung nach einem Schlussstrich steuern musste. Innerhalb weniger Jahre wurden fast drei Viertel der Todesurteile in lebenslange Haftstrafen umgewandelt. Dies betraf auch die in Breda einsitzenden vier Deutschen und führte zu einer ersten Welle öffentlicher Proteste. Piersma widerlegt die gängige Vorstellung, dass der Thronwechsel 1948 und der Amtsantritt Königin Julianas dabei eine wesentliche Rolle spielten. Die endgültige Freilassung der zu kürzeren Haftstrafen verurteilten Deutschen ging in den Niederlanden in den 1950er-Jahren übrigens langsamer voran als in den westeuropäischen Nachbarländern, und die Niederlande kritisierten wiederholt die unsensiblen deutschen Bemühungen in dieser Richtung.

In der „Phase der zweiten Bewusstwerdung“, die um 1960 begann und die Niederlande im Februar 1972 in einen regelrechten emotionalen Ausnahmezustand versetzte, rückten die Jahre der Besatzung ins Zentrum nationaler Debatten, die um Schuld und Mitverantwortung der niederländischen Bevölkerung an der Judenverfolgung kreisten und dem Selbstbild einer geschlossenen Front des Widerstandes gegen die Deutschen erste Risse zufügten. Die Ursachen für diesen Umschwung waren vielfältig: allgemeine Veränderungen der Politik und Gesellschaft in den unruhigen 1960er-Jahren, die zu neuen Formen politischer Beteiligung breiter Bevölkerungsschichten führten, Medienereignisse wie die erfolgreiche Fernsehdokumentation „De bezetting“ (1960-1965) und das weit verbreitete Buch des Historikers Jacques Presser über die Judenverfolgung in den Niederlanden (1965), aber auch der Eichmann-Prozess in Jerusalem und die deutschen NS-Prozesse der 1960er-Jahre. Die öffentlich diskutierte „Schuld“ der Niederländer hatte dabei kollektive und abstrakte Züge: Es ging nicht um die Enttarnung einzelner Täter - zu einer Wiederaufnahme der Kriegsverbrecherprozesse kam es nicht -, sondern um ein Bewusstsein dafür, als Volk insgesamt nicht genug getan zu haben, um die Verbrechen der Deutschen zu verhindern. In dieser Atmosphäre wurde die Freilassung der letzten noch inhaftierten Täter, der „Vier“ von Breda, zum Politikum und zum Gegenstand engagierter parlamentarischer und öffentlicher Diskussionen. Mehrere konkrete Anläufe in den frühen 1960er-Jahren, zu einer Lösung zu gelangen, scheiterten. 1964 und 1969 wurden Gnadengesuche der Inhaftierten abgelehnt. Dass Willy Lages im Juni 1966 als dem Tode geweiht kurzfristig aus dem Gefängnis entlassen wurde und danach noch fünf weitere Jahre in der Bundesrepublik lebte, belastete die weitere Diskussion zusätzlich und schürte das Misstrauen gegenüber humanitären Argumenten für eine Freilassung der anderen.

Die Situation eskalierte, als die Regierung 1971 mit dem neuen Justizminister Andries van Agt eine Initiative zur Lösung des Problems der „Drei“ begann. Die 1969 eher informell zugesagte Mitsprache des Parlaments beim Umgang mit den Kriegsverbrechern führte im Februar 1972 zu einem emotionalen öffentlichen Hearing, das vor allem den Interessenorganisationen ein wichtiges Forum bot, zu einer dramatischen Parlamentssitzung und zu einem breiten Medienecho. Fühner und Piersma beschreiben beide ausführlich diese Ereignisse, die in bisher unbekannter Weise deutlich machten, wie sehr viele Niederländer physisch und psychisch unter der Erinnerung an die Vergangenheit litten. Für die unschuldigen Opfer der NS-Zeit musste eine Freilassung der schuldbeladenen „Drei“ als eine Leugnung ihrer Leiden und unerträgliche Belastung erscheinen. Die Regierung sah sich einer geschlossenen Front der Interessenverbände gegenüber - die Gegensätze zwischen Kommunisten und Antikommunisten aus der Zeit des Kalten Krieges waren weitgehend verschwunden - und zog am 4. März 1972 ihre Pläne zurück. Bald darauf begann man, die materielle und seelische Betreuung der niederländischen Kriegsopfer auf eine neue Grundlage zu stellen und erreichte zahlreiche konkrete Verbesserungen.

Nach 1972 war für mehrere Jahre an eine sachliche Debatte und neue Initiativen zur Freilassung der „Drei“ seitens der Politik nicht mehr zu denken. Einzelinitiativen u.a. aus Kirchenkreisen führten zu nichts. Im Vergleich zu den 1950er-Jahren hatten sich die Strukturen der Entscheidungsfindung völlig verändert. In der „Phase der Blockade“ (Fühner) bzw. in der „Sackgasse“ (Piersma), auf dem Höhepunkt der Psychologisierung des Umgangs mit der Vergangenheit, wollte kein Justizminister einen neuen Anlauf unternehmen, das Vetorecht der erstarkten Widerstands- und Kriegsopferverbände zu brechen. Kotalla starb Ende Juli 1979 im Gefängnis.

In den 1970er-Jahren weichten aber auch mehrere Affären um die Kriegsvergangenheit prominenter Niederländer, die bei Fühner breit dargestellt werden, das starre Schwarz-Weiß-Bild der Besatzungsjahre auf und schufen Raum für Zwischentöne. Der ausgewogenere Umgang mit der Vergangenheit kam in der Wiederaufnahme der Verfolgung von NS-Straftaten ab 1978, der Sicherung der großzügigen Opferregelungen in den 1980er-Jahren und eines bewusst tradierten Antifaschismus als Teil konsensualer nationaler Identität zum Ausdruck. Die Haft Fischers und aus der Füntens verlor zunehmend ihre symbolische Funktion. Ende Januar 1989 ermöglichte dann eine langfristig vorbereitete und innenpolitisch geschickt umgesetzte Initiative der niederländischen Regierung, das leidige Kapitel mit der Freilassung der beiden abzuschließen. Fischer und aus der Fünten starben wenige Monate später in Deutschland.

Mit den Studien Fühners und Piersma liegen zwei gründlich recherchierte und dokumentierte Bücher zur komplexen Thematik des niederländischen Umgangs mit Kollaborateuren und NS-Verbrechern nach 1945 vor, die sich auch als Grundlage für vergleichende Untersuchungen zu anderen Ländern eignen. Während Fühners Stärke vor allem in der sehr detaillierten Beleuchtung der Entscheidungsabläufe und der gesellschaftlichen Hintergründe liegt - die mit Blick auf das deutsche Fachpublikum gerechtfertigt ist -, gelingt Piersma die straffere und anschaulichere Darstellung. In ihren zentralen Thesen unterscheiden sie sich nur graduell: Bei beiden wird deutlich, dass der Versuch, die Jahre der Besatzung und die Verbrechen des „Dritten Reiches“ in den Niederlanden juristisch aufzuarbeiten, von Anfang an mit praktischen Problemen behaftet war und im Spannungsfeld von widerstreitenden politischen und gesellschaftlichen Interessen stand. Während die Masse der Verurteilten in den 1950er-Jahren freikam und reintegriert wurde, wurden die Gefangenen von Breda vor dem Hintergrund einer gewandelten Einstellung der Öffentlichkeit zu den Kriegsereignissen zu einem Symbol, das für die Akzeptanz des Leids der Opfer stand, aber auch die Verdrängung bzw. Abstrahierung von eigener Schuld ermöglichte. Dieser Prozess erreichte seinen Höhepunkt in den 1970er-Jahren, als die Debatte wesentlich mit psychologischen Kategorien geführt wurde und die Regierung ihren Handlungsspielraum angesichts des Drucks der Öffentlichkeit fast ganz verloren hatte.

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