K. Latzel: Deutsche Soldaten - nationalsozialistischer Krieg?

Titel
Deutsche Soldaten - nationalsozialistischer Krieg?. Kriegserlebnis - Kriegserfahrung 1939-1945


Autor(en)
Latzel, Klaus
Reihe
Krieg in der Geschichte 1
Erschienen
Paderborn 1998: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
429 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrike Jureit, Hamburger Institut für Sozialforschung

Feldpostbriefe haben Konjunktur. Die Zahl der Veröffentlichungen, die sich mit Soldatenbriefen befassen, ist in den letzten Jahren rapide angestiegen. Der Feldpostbrief avancierte unter Historikern und Historikerinnen zu einer bevorzug-ten Quelle, allerdings blieben methodisch fundierte Analysen dieses massenhaft vorhandenen Materials eher die Ausnahme. Klaus Latzel legt nun eine erfahrungsgeschichtlich konzipierte Untersuchung vor, die auch den methodischen Herausforderungen dieses Genres in vollem Umfang gerecht wird.

Die Studie fußt auf 39 Briefserien und umfaßt insgesamt 2749 Briefe aus dem Zweiten Weltkrieg. Da der Autor zudem vergleichende Querverbindungen zu Feldpostbriefen des Ersten Weltkriegs herstellt, basiert seine Untersuchung auf fast fünftausend Kriegsbriefen. Sicherlich kann trotz dieser Anzahl nicht von einer Repräsentativität im statistischen Sinne gesprochen werden, aber durch seinen reflektierten und zudem ertragreichen Umgang mit den Quellen gelingt es Latzel, eine überzeugende und anspruchsvolle Kriegsgeschichte 'von unten' zu präsentieren.

Im ersten Teil der Studie erarbeitet Latzel eine exemplarische Einzelfalldarstellung. Etwas unglücklich als 'Kriegsbiographie' bezeichnet, lernt der Leser Hans Olte kennen, der zwischen 1940 und 1944 nahezu vierhundert Briefe an seine Eltern schrieb. Noch beim Reichsarbeitsdienst kann der junge Mann seine Einberufung zur Wehrmacht kaum erwarten. Als er im Januar 1941 zu einem Nachrichtentrupp eingezogen wird, zieht er als stolzer Soldat und voller Siegesgewißheit in den Krieg. Doch die nächsten Jahre an der Ostfront lassen ihn an dem versprochenen Endsieg zweifeln. Konnte er bis 1941 noch seine persönlichen Vorstellungen mit den Zielen der NS-Eroberungspolitik relativ mühelos in Einklang bringen, so erwiesen sich seine eigenen Kriegserfahrungen mit dem glorreich phantasierten Bild des Soldatenlebens bald als unvereinbar. Sätze wie "Am liebsten würde ich mich verkriechen..." kennzeichnen Oltes Wandel von der Euphorie zum Entsetzen. Dabei handelt es sich um eine allmähliche, von wechselnden Stimmungen begleitete Veränderung, die sich in ihren Widersprüchen und Vielstimmigkeiten in den Briefen niedergeschlagen hat. Kurz vor seiner Gefangennahme im Sommer 1944 fragt Olte in einem seiner letzten Briefe an die Eltern: "Wann ist nun endlich dieses Morden zu Ende?"

Latzel konkretisiert anhand dieses Briefkonvoluts seinen zuvor entworfenen erfahrungsgeschichtlichen Ansatz, den er in Anlehnung an wissenssoziologische Konzepte von Koselleck, Schütz und Luhmann entwickelt. In der Feldpost begegnen wir keineswegs authentischen Kriegserzählungen, sondern den zu Erfahrungen transformierten Ereignissen, in die sich individuelle und kollektive Sinn- und Deutungsmuster eingeschrieben haben. Die Soldaten erlebten den Krieg vor dem Hintergrund ihres 'sozialen Wissens', mit dessen Hilfe sie "den Krieg und ihren eigenen Ort darin verstanden und ihren Angehörigen im Medium der Feldpostbriefe zu verstehen gaben. Dieses Wissen reicht von lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten bis zu ausformulierten Legitimations-theorien. Die Soldaten teilten es mit der Gesellschaft, die sie verlassen mußten, um in den Krieg zu ziehen. Wenn sie sich in ihren Briefen die Kriegserlebnisse plausibel zu machen suchten, dann mußten sie für diese Sinnbildungsprozesse auf das genannte Wissen zurückgreifen. Es bildete das Interpretationspotential für ihre Erfahrungen des Krieges, das sie sich weitgehend vor dem Krieg angeeignet hatten und nun auf alle Kriegsschauplätze mitschleppten." (S. 16)

Diesen Transformationsprozeß kann Latzel an zahlreichen Einzelbeispielen aus Oltes Briefen überzeugend nachzeichnen. Der junge Soldat schreibt beispielsweise am 20. Juli 1941 über seine Eindrücke in der Sowjetunion: "Man kann ja gar nicht alles schreiben, wie der Kommunismus dieses arme Volk geknechtet hat. Wir hatten ja das Buch von Dwinger, 'Und Gott Schweigt'. Es ist nicht viel übertrieben. Die Leute mußten alles abgeben an den Staat. Ach was schimpfen die armen Bäuerchen auf 'Väterchen Stalin'. Stalin kaputt, Kaputt Stalin, so hört man es immer wieder rufen. Die Bauern sind wirklich froh, daß wir gekommen sind." (S. 51) Latzel betont an dieser Stelle, daß Olte hier dankenswerter Weise sogar einer der Quellen, aus denen sich sein Weltbild speist, benennt. Olte findet alles das bestätigt, was ihm bereits zuvor aus der Lektüre dieses und sicherlich auch anderer Bücher bekannt geworden war. Er zog also bereits mit einem vorstrukturierten Bild in den Krieg. Seine von der NS-Ideologie beeinflußte Meinung über den Stalinismus erfuhr eine Konkretisierung, die aber nicht dazu führte, die eigene Deutung zu korrigieren, sondern sie nur noch verfestigte.

So überzeugend diese erfahrungsgeschichtlichen Interpretationen sind, der Leser vermißt jedoch an einigen Stellen eine sprachliche Deutung. Beispielsweise schreibt Olte am 28.4.1940 an seine Eltern: "Ich wäre bestimmt gern nach Hause gekommen und ich hatte mich riesig darauf gefreut. Am Samstagmorgen stand ich noch bei den Urlaubern. Aber da hieß es! Sondertrupp muss hierbleiben. Ihr könnt mir glauben, daß es mir in diesem Moment nicht richtig ums Herz war. Wenn ich nicht ein Mann gewesen wäre ich hätte heulen können." (S. 41) Latzel kann verdeutlichen, daß Olte gegenüber seinen 'Kameraden' nicht zeigen wolle, wie ihn der verweigerte Urlaub getroffen habe. Der Hinweis auf seine Männlichkeit lege offen, "daß dieser Teil seiner Identität etwas brüchig ist; zwar bestimmend in der Situation vor anderen Männern, aber nicht soweit internalisiert, daß er sich nicht quasi stellvertretend vor den Eltern ausweinen könnte." (S. 42) Weiterführender wäre es gewesen, an dieser Stelle die semantische Abweichung zu analysieren. Olte spricht nicht - wie üblich - davon, daß ihm "warm ums Herz" geworden sei, sondern drückt mit der Abwandlung zugleich die negative Bewertung dieser und anderer emotionaler Regungen aus. Solche Briefpassagen erlauben gerade durch ihre sprachliche Gestalt, den Zusammenhang von Emotion, Disziplin und Männlichkeit näher zu beleuchten.

Latzel kann im zweiten, eher systematischen Teil des Buches ein breites Spektrum individueller und kollektiver Kriegswahrnehmungen und Deutungen anhand verschiedener Themenfelder herausarbeiten. Dazu gehören Beschreibungen der jeweiligen Länder und Menschen, weiterhin die Wahrnehmung der gegnerischen Soldaten, Äußerungen zum Sinn und Unsinn des Krieges sowie über das Töten und den (eigenen oder fremden) Tod. Diese Passagen untersucht der Autor mittels vergleichender Sprachfeldanalysen, die durch den Rückbezug zum Ersten Weltkrieg eine veränderte Semantik mit stärker diskriminierenden und gewaltbereiten Formulierungen deutlich machen. Die unverkennbare Anpassung an die nationalsozialistischen Denk- und Verhaltensmuster bezieht sich dabei allerdings weniger auf das persönliche Erleben von Krieg und Gewalt, so daß Latzel resümiert: "So gross im Zweiten Weltkrieg verbal und auch praktisch die Tatbereitschaft gewesen sein mag, die Opferbereitschaft war ohne Zweifel limitiert - jedenfalls wenn die Opfer auf der eigenen Seite zu suchen waren. Die Nähe zum Nationalsozialismus wurde also durch die Nähe zum Tod konterkariert." (S. 373)

Latzel kann anhand seiner Untersuchung ein vielschichtiges, in Teilen durchaus ambivalentes und widersprüchliches Bild der Wehrmachtssoldaten zeichnen. Die vom Nationalsozialismus gewünschten emotionslosen Kampfmaschinen waren die meisten nicht, denn angesichts des Todes verschlug es ihnen anscheinend die Sprache. Diese Reaktion schließt allerdings eine partielle oder auch weiterreichende Übereinstimmung mit den propagierten Kriegszielen nicht aus. Nach außen latent bis manifest rassistisch, reproduzierten sie allgemeine politisch-ideologische Sinnmuster, die mit massiven Vorurteilen und Affekten einhergingen. "Die widersprüchliche Verwandtschaft von Wehrmachtssoldaten und Nationalsozialismus ging am weitesten in ihrer ausgeprägten Glaubensbereitschaft gegenüber dem Führer, in ihrer Reproduktion der Hitlermythos, dem sie wohl noch länger und stärker verfallen waren als die Zivilbevölkerung." (S. 371)

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