R. Dürr u.a. (Hgg.): Expansionen in der Frühen Neuzeit

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Titel
Expansionen in der Frühen Neuzeit.


Herausgeber
Dürr, Renate; Engel, Gisela; Süßmann, Johannes
Reihe
Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 34
Erschienen
Anzahl Seiten
392 S.
Preis
€ 54,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Arndt Brendecke, Historisches Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München

‚Expansion’ kann man sowohl als Vorstoß in bislang unbekannte geografische Räume verstehen, als auch als Erschließung neuer Erkenntnisräume und -methoden. Der als Beiheft der Zeitschrift für Historische Forschung von Renate Dürr, Gisela Engel und Johannes Süßmann herausgegebene Sammelband ‚Expansionen in der Frühen Neuzeit’ bezieht seinen Reiz daraus, dass er die Interdependenz dieser beiden Expansionsbewegungen thematisiert. Er greift damit eine im Rahmen postkolonialer Studien international etablierte Tendenz zur Untersuchung der epistemologischen Dimension kolonialer Herrschaftstechniken auf und führt zu diesem Zweck historische, sinologische, literatur-, kunst-, religions- und rechtshistorische Ansätze zusammen. Das breit angelegte Programm wird durch die sorgfältige Einleitung und den wiederkehrenden Rekurs der Einzelbeiträge auf das Gesamtthema methodisch gefasst.

Inhaltlich werden in einem ersten Block zunächst die ‚mittelalterlichen’ Grundlagen wie auch russische, islamische und chinesische Komplementärfälle vorgestellt. Felicitas Schmieder plädiert überzeugend dafür, die europäische Expansion vom 11. bis zum 19. Jahrhundert als Einheit zu begreifen, ohne die Unterschiedlichkeit einzelner Phasen in Hinsicht auf Programmatik und Dynamik einebnen zu wollen. Als impulsgebend für das Mittelalter werden dabei einerseits krisenhafte Momente hervorgehoben, in denen fremde Kulturkreise als militärische und geistige Herausforderungen auftraten (Kreuzzüge, Reconquista, Mongolensturm), andererseits auch Formen der Handelsexpansion. 1 Grundlegendes berührt auch Christoph Auffahrts Beitrag über ‚Weltkarten und Säkularisierung in der Frühen Neuzeit’, in dem er die These vertritt, dass die mediale Bereitstellung von Möglichkeitsräumen durch entsprechende kartografische Verfahren der eigentlichen Eroberung des Raumes gewissermaßen kausal vorausgegangen war. Dies führt zu sehr interessanten Einsichten, überzeugt aber nicht in jedem Detail, etwa wenn bei der Interpretation der geografisch-kartografischen Grundlagen des Vertrages von Tordesillas dieser nicht von dem von Saragossa (1529) unterschieden wird (S. 56f.). 2

Achim Mittags Analyse der Voraussetzungen der Expansion des chinesischen Qing-Reiches zeigt, dass sich Empirieschübe im geografisch-kartografischen Wissen und die Adaption westlicher Kenntnisse ebenso nachweisen lassen wie die Integration buddhistischer Idealvorstellungen. Er kann dabei klar herausarbeiten, dass die Zeit von der Jiajing-Periode (1552-1566) bis zum Untergang der Ming-Dynastie 1644/45 als außerordentliche Blütezeit der chinesischen Kartografie zu gelten hat und präformativ für spätere Expansionsschübe der ‚inneren Kolonisation’ war. Jan Kusbers Beitrag thematisiert das Selbstverständnis des Zaren und der russischen Elite im frühneuzeitlichen Moskauer Reich vor dem Hintergrund der Expansion in die Peripherie. Dass sich dabei bis zum 18. Jahrhundert kaum eine Entwicklung feststellen lässt, erklärt Kusber durch die relativ stabile Überzeugung, periphere Zonen wie etwa ‚Sibirien’ bereits zu ‚kennen’. Eine außerordentlich interessante Perspektive gewissermaßen auf die ‚Rückseite’ der spanischen Reconquista eröffnet Ralf Elger mit seiner Analyse eines Textes des Algeriers al-Maqqarî (gest. 1632). Der Beitrag demonstriert, dass man den intellektuellen Impuls einer Expansionsbewegung auch auf der Seite der Zurückgedrängten beobachten kann.

Mit Eckhart Lobsiens Beitrag wird ein zweiter Block eröffnet, der unter dem Stichwort ‚Wissensdrang’ ‚Momente sich gegenseitig beeinflussender Expansionsbewegungen’ thematisiert. Lobsien erläutert vor dem Hintergrund der Debatte um die Pluralität der Welten einen Funktionswandel der frühneuzeitlichen Literatur, mit dem literarische Imaginations- und Erfahrungsräume für ‚andere Welten’ geschaffen wurden. Daran anschließend wird Giovanni Botero von Altmeister John M. Headley als Innovator auf dem Gebiet der Demografie, Ozeanografie, des Urbanismus und der politischen Geografie gepriesen. Headley zeigt anhand eines Ausgabenvergleiches der „Relationi Universali“, dass das Konzept ‚Europa‘ am Ende des 16. Jahrhunderts dasjenige der ‚Christianitas‘ fast verdrängt hatte und erklärt die Konzepte Boteros einerseits aus einer Art globalem Relativismus, andererseits aus der spezifischen Situation des Ex-Jesuiten Botero im Italien seiner Zeit. Der Entdeckung der osmanischen Kultur wendet sich der Beitrag von Ulrike Ilg zu. Sie zeigt, dass in der frühneuzeitlichen Beschreibung der Türkei naturkundliche Standards der Zeit Verwendung fanden, aber auch die jeweilige Situation der französischen Reisenden und Autoren zu berücksichtigen ist. 3

Cathérine Jami warnt in einem weiteren sinologischen Beitrag davor, von einem bipolaren Szenario (Europäern vs. Chinesen) und simplen Actio-Reactio-Modellen auszugehen. So sind bei den Jesuiten nicht nur einzelne Generationen und nationale Sozialisationshintergründe zu berücksichtigen, sondern auch schwankende Konstellationen zwischen Offenheit und Orthodoxie auf beiden Seiten. Im Anschluss daran erläutert Maximilian Bergengruen, ausgehend von Paracelsus, zunächst in einem sehr konzentriert argumentierenden Abschnitt, dass die Entwicklung des naturwissenschaftlichen Konzeptes Francis Bacons nicht aus der Trennung, sondern aus der teils nur doxografischen Überformung von platonischen und aristotelischen Positionen zu erklären sei. Dies verweist auf die neuplatonische Mystik des Mittelalters und führt in einem zweiten Abschnitt zu einer in Hinsicht auf die Gesamtfrage des Bandes sehr spezialistisch wirkenden Diskussion des Naturbegriffes in Mystik, Magie und Paracelsismus. Jürgen Klein greift dagegen das Herzstück der in diesem Band postulierten Verbindung der beiden Expansionen heraus. Ihm gelingt es, verschiedene Expansionsmotive und -motivationen im Wissenschaftsprogramm Bacons klar herauszuarbeiten und wissenschaftshistorisch zu kontextualisieren. Bacon selbst war sich des Zusammenhanges der beiden Expansionen bewusst, sprach von den „wide spaces of the material globe“ und den „limits of the intellectual globe“ (S. 241). Methodisch innovativ ist Michael Kempes Beitrag über die doppelte Ausdehnung der Naturhistorie im Makro- und Mikrokosmos. Er diskutiert auf der Basis seiner Arbeit über Johann Jakob Scheuchzer die Wissenspraktiken, theologischen Implikationen und Verzeitlichungstendenzen der Naturhistorie. 4

Der dritte Teil des Bandes thematisiert mit Beiträgen zur spanischen, niederländischen und französischen Expansion die Effekte der ‚Innereuropäischen Konkurrenz’. Daniel Damler führt, ausgehend vom Rechtsstreit der Erben von Christoph Kolumbus, die Argumentationen spanischer Spätscholastiker um die Rechtstitel der Eroberung bzw. die politiktheoretische Debatte um die Möglichkeit und Legitimität von Weltherrschaft vor und erläutert nebenbei Grundprinzipien des derecho indiano. Susanna Burghartz beantwortet die Frage nach den Funktionen von Berichten des Scheiterns kolonialer Unternehmen, wie sie häufig und erfolgreich publiziert wurden. Ihr klug abwägender Beitrag macht erneut deutlich, wie wichtig es ist, sich bei der Analyse der kolonialen Narrative aus der bipolaren Logik von Alteritätsdeutungen (das Fremde, das Eigene) zu befreien und die komplexe Einbettung in nationale und konfessionelle Diskurse vorzunehmen. 5Kirsten Mahlkes Analyse der ‚Histoire de la Nouvelle France’ Marc Lescarbots verdeutlicht, welche Potenziale das Thema ‚Amerika’ für die nationale Identitätskonstruktionen Frankreichs besaß. Besonders interessant ist der sich anschließende Überblick von Iris Gareis über den Zusammenhang zwischen Expansion und Utopie in Hinsicht auf die von ihr herausgearbeitete dritte Phase utopischer Konstruktionen, als nämlich nach einer Phase literarischer und missionarischer Utopien indigene Utopien den lateinamerikanischen Unabhängigkeitsdiskurs des 18. und 19. Jahrhundert mitbestimmten. Tanja Michalsky analysiert im abschließenden Beitrag eine Bildserie von Frans Post über das niederländisch-koloniale Brasilien (1624-1654), bei der die Abbildungen nicht als Medien empirischer Erfassung, sondern als Orte der mehr oder weniger subtilen Einschreibung kolonialer Herrschaftszeichen zu verstehen sind.

Als Gesamteindruck dominiert die durchweg hohe Qualität der Einzelbeiträge sowie die vergleichsweise gelungene ‚Globalisierung’ der Leitfrage, kommen doch im Falle Chinas, des Islam und Lateinamerikas mehrmals auch die epistemischen Effekte auf der nicht-europäischen Seite des durch Expansionsbewegungen vorangetriebenen Kulturkontaktes zur Sprache. Die programmatische Konzentration auf die ‚doppelte Expansion’ im geografischen und wissenshistorischen Sinne ist durchaus in der Lage, den Fliehkräften eines solchen global postulierten, aber eben doch nur anhand von Fallstudien einzufangenden Prozesses entgegenzuwirken. Je ernster man jedoch die Frage nach dem doppelten Expansionismus nimmt, desto mehr drängt sich die Frage auf, weshalb Beiträge zu den zentralen europäischen Instanzen fehlen, die das Expansionsunternehmen und seine wissenstechnische Bewältigung schon zeitgenössisch zusammendachten, d.h. etwa zur spanischen Casa de la Contratación und zum Indienrat, zu den großen Handelskompanien, zur Royal Society und ihren philosophical travellers. 6 Diese über den Band hinausgehende Neugier wird aber nicht zuletzt von ihm selbst stimuliert, so dass er als wertvoller Beitrag in einem für die deutschsprachige Frühneuzeitforschung noch keineswegs selbstverständlichen Themenbereich zu begrüßen ist.

Anmerkungen:
1 Zum Mongolensturm als Impuls epistemologischer Innovation bereits: Fried, Johannes, Auf der Suche nach der Wirklichkeit. Die Mongolen und die europäische Erfahrungswissenschaft im 13. Jahrhundert, in: HZ 243 (1986), S. 287-332.
2 Zur Diskussion über die Empirieoffenheit der kartografischen Projektionstechniken ergänzend z.B.: Padrón, Ricardo, The Spacious Word. Cartography, Literature, and Empire in Early Modern Spain, Chicago 2004.
3 Dazu: Höfert, Almut, Den Feind beschreiben. ‚Türkengefahr’ und europäisches Wissen über das Osmanische Reich. 1450-1600, Frankfurt am Main 2003.
4 Kempe, Michael, Wissenschaft, Theologie, Aufklärung. Johann Jakob Scheuchzer (1672-1733) und die Sintfluttheorie (Frühneuzeit-Forschungen 10), Epfendorf 2003.
5 Beispielgebend hierfür Schmidt, Benjamin, Innocence Abroad. The Dutch Imagination and the New World, 1570-1670, Cambridge 2001.
6 Vgl. z.B.: Carey, Daniel, Compiling Nature’s History, Travellers and Travel Narratives in the Early Royal Society, in: Annals of Science. The History of Science and Technology from the Thirteenth Century 54 (1997), S. 269-292.