J.-Ch. Hauschild: Heiner Mueller oder Das Prinzip Zweifel

Titel
Heiner Müller oder Das Prinzip Zweifel. Eine Biographie


Autor(en)
Hauschild, Jan-Christoph
Erschienen
Berlin 2001: Aufbau Verlag
Anzahl Seiten
619 S.
Preis
DM 59,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
PD Dr. Gerd Dietrich, Humboldt-Universität zu Berlin Institut für Geschichtswissenschaften

Der Katastrophenliebhaber, der orakelnde Zyniker, der Shakespeare-Stalin-Seneca Mixer, der schwarze Skeptiker, der notorische Untergangsprophet, und welcher Bezeichnungen noch sich Heiner Müller zu Lebzeiten erfreute: sie weisen alle darauf hin, daß Geschichte sein Grundthema war, daß er mit seinem literarischen Werk gegen Geschichtslosigkeit und Gedächtnisverlust ankämpfte, daß Erinnerungsarbeit und Orientierung auf eine andere als die gegebene Wirklichkeit die Kraftquellen seines Schreibens waren. Er müßte somit auch für den Historiker von besonderem Interesse sein. Denn "Heiner Müllers Texte beschreiben das Scheitern der Hoffnung auf eine gesellschaftliche Alternative; gleichzeitig bewahren sie die Erinnerung an diese Hoffnung auf." (S.12)

Ein kurzer Text Müllers von 1958, in Korrespondenz zu Walter Benjamins ENGEL DER GESCHICHTE und diesen in anderer Situation weiterführend, trägt den Titel: DER GLÜCKLOSE ENGEL. Er spielt in dieser Biographie explizit keine Rolle, wenn auch die geschichtsphilosophische Anregung durch Benjamin benannt wird und der Grundtenor wiederkehrt. Er lautet: "Hinter ihm schwemmt Vergangenheit an, schüttet Geröll auf Flügel und Schultern, mit Lärm wie von begrabnen Trommeln, während vor ihm sich die Zukunft staut, seine Augen eindrückt, die Augäpfel sprengt wie ein Stern, das Wort umdreht zum tönenden Knebel, ihn würgt mit seinem Atem. Eine Zeitlang sieht man noch sein Flügelschlagen, hört in das Rauschen die Steinschläge vor über hinter ihm niedergehn, lauter je heftiger die vergebliche Bewegung, vereinzelt, wenn sie langsam wird. Dann schließt sich über ihm der Augenblick: auf dem schnell verschütteten Stehplatz kommt der glücklose Engel zur Ruhe, wartend auf Geschichte in der Versteinerung von Flug Blick Atem. Bis das erneute Rauschen mächtiger Flügelschläge sich in Wellen durch den Stein fortpflanzt und seinen Flug anzeigt." 1 Es ist ein Blick auf Geschichte, der jede Vorstellung von Geschlossenheit verweigert, der die Trümmer und die Wunden der Geschichte ins Auge faßt. Es ist zugleich das Bild einer versteinerten Hoffnung, das doch die Hoffnung auf die Utopie einer besseren Welt bewahren will. Durchaus im Benjaminschen Sinne ging es Müller stets um eine Darstellung von Geschichte, die Vergangenheit dazu führt, "die Gegenwart in eine kritische Lage zu bringen." 2 Darum verletzt er die Tabus, die Politik und offizielle Geschichtsschreibung in der DDR aufstellen, versteht Geschichte der DDR auch als Fortsetzung der deutschen Misere, zeigt Momente der Kontinuität zwischen Faschismus und Stalinismus, kritisiert einen linearen Fortschrittsbegriff und stellt die Erbauer des Sozialismus als bürokratisierte Macht und Bunkergemeinschaft dar. Kein Wunder, daß seine Stücke in der DDR verboten wurden und wenn überhaupt, erst Jahre, mitunter Jahrzehnte später auf die Bühne kamen, als man sie schon als "abgelegte" oder "überwundene" Geschichte behandeln konnte.

All das ist freilich in Müllers Lyrik, Prosa und Dramatik nachzulesen, dazu bedarf es höchstens zur Einführung einer Biographie. Wer Müller einigermaßen kennt, wird hier wenig Neues finden, auch wenn Hauschild eine Fülle von Material zusammengestellt und zahlreiche Personen befragt hat. Allein für die Kindheit und Jugend Müllers gelangen ihm Quellenfunde, die das bisherige Bild erweitern, die frühe Prägungen verdeutlichen und eine ambivalente Geschichtserfahrung beschreiben. Da wird von einem zarten schweigsamen Jungen erzählt, der Prügeleien aus dem Weg geht; vom sächsischen Linkshänder, der mit der verarmten Familie nach Mecklenburg zieht und in der Schule als "Ausländer" behandelt wird: frühe Erfahrungen von Anderssein und Ausgrenzung und einem "Traditionssozialismus", der von den kleinen Leuten herkommt. Der Grundschock und das Schlüsselerlebnis der Kindheit ist die Entmachtung des Vaters: Der Vierjährige stellt sich schlafend, als der Vater, ein angesehener sozialdemokratischer Kommunalpolitiker, von den Nazis festgenommen und ins Konzentrationslager verschleppt wird. Später wird er dem Vater Vorwürfe machen, daß er sich nicht gewehrt hat und ihn in Haßphantasien dafür umbringen. Einen neuerlichen Schock löst das opportunistisch-pragmatische Verhalten des Vaters nach jahrelanger Arbeitslosigkeit Ende der 30er Jahre aus. Zum Jahreswechsel 1944/45 noch wird das Kind in Feldgrau gesteckt (Jahrgang 1929 "Flakhelfergeneration"). Heiner Müllers "Initiation vollzieht sich im Frühjahr 1945, binnen weniger Wochen, auf dem Marsch von Wismar nach Waren ... Die traumatischen Erlebnisse unterwegs und die damals gehörten Geschichten sind Bilder, die nach Bearbeitung schreien - ein stofflicher Vorrat, aus dem der Autor Heiner Müller jahrzehntelang schöpft". (S.42/43) Die Wirrnisse und Neuanfänge nach dem Ende der NS-Diktatur werden von Hauschild eindringlich beschrieben. 1948 macht Müller in Frankenberg das Abitur. Der Vater, inzwischen SED-Bürgermeister in der sächsischen Kleinstadt, gerät mit der SED-Politik in Konflikt. Des Sozialdemokratismus und Wirtschaftsvergehens verdächtigt, verläßt er im Januar 1951 die DDR, die Mutter mit dem neunjährigen Bruder folgen ihm April/Mai 1951. Heiner Müller bleibt. Er ist der Meinung, der richtige Mann am richtigen Ort zu sein. "Was jetzt in der DDR geschehe, sei wichtig und müsse, ja könne eigentlich nur von ihm beschrieben werden, ... ohne Rücksicht darauf, wer das haben will oder nicht. Das ist ein Programm, das zu erfüllen ist." (S.86)

Die Darstellung von Kindheit und Jugend ist der interessante und spannende erste Teil des Buches. Sie gibt uns auch Erklärungen für die Brüche in dieser Biographie, über die zwei Seiten des Heiner Müller: ein zarter Mensch mit leiser Stimme und allumfassender Höflichkeit und in seinen Dramen Aggression, Haß, Blut und Tod in der Geschichte. Im zweiten Strang schreibt sich Hausschild dann weitgehend an einer chronologischen Werkgeschichte entlang und ermüdet doch etwas mit seinen Exkursen zu Stückfabeln, Publikations- und Uraufführungsgeschichten und historischen und kulturpolitischen Hintergründen. Lesenswert wird er immer dann, wenn es um die alltagsgeschichtlichen Probleme geht. Wie unsicher Müllers Existenz bis zum Ende der 70er Jahre war, mit welch fragwürdigen Auftragsarbeiten er sich in den zehn Jahren der Isolation das Überleben sicherte, welch problematisches Verhältnis er zu allem Familiären hatte, welcher Freundes- und Intellektuellenkreis sich um ihn bildete und welche Kollegen ihm Hilfe gewährten oder verweigerten. Bemerkenswert ist natürlich auch der "Spagat als Lebensform. Die deutsche Teilung bringt es mit sich, daß Müllers Werk auf eine doppelte Öffentlichkeit stößt. Aus der Konfrontation der Systeme beziehen seine Texte einen großen Teil ihrer Innenspannung und damit ihrer enormen Wirkung." Er habe "mit je einem Bein auf den zwei Seiten der Mauer" gestanden, hat er einmal gesagt. (S.369) Ob wir ihn darum als gesamtdeutschen Schriftsteller betrachten sollten, ist noch nicht ausdiskutiert. Jedenfalls konnte er nur im Osten vom Schreiben leben, weil er im Westen gespielt wurde. Und er unterschrieb die Petition gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns, wie er einige Gespräche mit Stasioffizieren hatte, um sich für Verfolgte einzusetzen.

Im dritten Teil des Buches, in dem sich Hauschild nicht mehr an den Leitfaden der autobiographischen Erzählung halten kann, geht die Darstellung vor allem auf den Zusammenbruch der DDR und die 90er Jahre ein: Heiner Müller im Spiegel der Öffentlichkeit, als Regisseur und Interviewkünstler, als Präsident der Ostberliner Akademie der Künste und als Intendant des Berliner Ensembles, der für ostdeutsche Interessen kämpft. Doch mit dem Fall der Mauer ist ihm seine Autorposition zwischen den Stühlen, auf beiden Seiten der Mauer zugleich, abhanden gekommen. Im neuen Deutschland gibt es für ihn keinen Adressaten mehr. Die historische Grundfigur, an der er sich abarbeitete, der Clinch zwischen Revolution und Konterrevolution, hat sich aufgelöst. Es gibt für ihn keine dramatischen Stoffe mehr, keine historischen Konfrontationen, Kollisionen und Konflikte. Es kommen Zweifel an früheren Denkmodellen und Metaphern auf, und er ist nur noch zu wenigen Texten in der Lage. Das Tagesgeschehen begreift er vor allem in weltgeschichtlichen Dimensionen, und als Vater einer kleinen Tochter entwickelt einer zum ersten Mal Verantwortung und Zuneigung, der Kinder früher immer als störend empfand.

Letztlich geht Hauschilds Biographie kaum über Müllers 1992 zwar nicht selbst geschriebenen, aber als Autobiographie in die Welt gesetzten Text "Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen" hinaus. Sie bleibt sicher eine gut lesbare Zusammenstellung von Geschichten, Porträts, Reflexionen und Anekdoten.. Ob sie uns den widersprüchlichen, sich immer wieder entwindenden Protagonisten näherbringt scheint fraglich. Müller kommt vor allem selbst zu Wort, der Biograph hält sich zurück und überläßt dem Leser die Interpretation. Die sehr zahlreichen, kursiv gesetzten Müllerzitate heben sich beträchtlich vom übrigen Text ab. Sie könnten auch separat mit Gewinn gelesen werden und Müllers geistesgeschichtliche Wirkung erahnen lassen. Hausschild stellt uns zwar umfangreiches Material zur Verfügung, doch er kann sich für keinen Interpretationspfad entscheiden. "Insofern kann man das Scheitern des erfahrenen Biographen durchaus als optimistisches Zeichen sehen", schreibt die Literaturwissenschaftlerin. "Wir bekommen diese Biographie ebensowenig 'in den Griff' wie das disparate Werk. Jeder Versuch, eine so 'an-organische' Produktions- und Lebensweise in die Logik einer einzigen Chronologie zu pressen, muß mißlingen.

Ein Untoter, den zu begraben nicht gelingen will." 3

Anmerkungen

1 Heiner Müller Material. Texte und Kommentare. Hrsg. von Frank Hörnigk, Leipzig 1989, S.7.

2 Walter Benjamin: Allegorien kultureller Erfahrung. Ausgewählte Schriften 1920-1940. Hrsg. von Sebastian Kleinschmidt, Leipzig 1984, S. 149.

3 Birgit Dahlke: Kein Zweifel. Untoter im Patchwork. Jan Hauschild kann sich in seiner Heiner-Müller-Biographie nicht entscheiden, welche Interpretationspfade er einschlagen will. In: Freitag, Nr.18, 27. April 2001.

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