M. Dumoulin u.a.: La Belgique, les petits Etats et la construction europ

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Titel
La Belgique, les petits États et la construction européenne. Actes du colloque de côture da la VIIe Chaire Glaverbel d'études européennes 2001-2002 (Louvain-la-Neuve, les 24, 25 et 26 avril 2002) Deuxieme tirage


Herausgeber
Dumoulin, Michel; Duchenne, Geneviève; Van Laer, Arthe
Reihe
Actes de la Chaire Glaverbel d'études européennes, Vol. 3
Erschienen
Anzahl Seiten
348 S.
Preis
40,10 Euro
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Geneviève Warland

Aus der Perspektive von Historikern, Politikwissenschaftlern, Rechtswissenschaftlern und nahmhaften belgischen Akteuren der Politik beschäftigt sich der vorliegende Sammelband mit unterschiedlichen Teilaspekten des Beitrages Belgiens und kleinerer Staaten wie der Niederlande und Luxemburg (die zusammen den sog. Zollverein Benelux bilden) zum europäischen Einigungsprozess.

Ausgewählte Themen, die sich als relevant für eine geschichtswissenschaftliche Betrachtung herausstellen, befinden sich in den drei ersten Teilen dieses vierteiligen Bandes: La Belgique et la construction européenne: perspectives historiques; la Belgique et les petits Etats vus par leurs partenaires; Du rapport Tindemans à la Déclaration de Laeken: perspectives belges sur l’Union européenne. Die Beiträge bieten eine breite Palette von Überlegungen, hauptsächlich über wenig erforschte Aspekte der Rolle Belgiens zu den Anfängen Europas, mit Bezug auf politische und wirtschaftliche Faktoren in den internationalen Beziehungen.

Einige Leitfäden verbinden die Aufsätze. Der grundlegendste ist m. E. die Vermittlerrolle Belgiens als einer der „Antreiber“ der europäischen Einigung, durch die Überzeugungen hervorragender Persönlichkeiten und Friedensanhänger wie des sozialistischen Außenministers Paul-Henri Spaak, der über 20 Jahre diesen Prozess begleitete, oder des Christendemokraten Pierre Harmel, der in den 60-70er Jahren die Hindernisse des europäischen Prozesses, die aus der Weigerung Frankreichs (mit seiner Politik des „leeren Stuhls“) entstanden England als Mitglied der EWG zu akzeptieren, zu überwinden versuchte.

Diese Vermittlerrolle hat Tradition in Belgien: schon am Ende des XIX. Jahrhunderts hoben Historiker wie der Mediävist Henri Pirenne das Motiv von Belgien als einem Mikrokosmos Europas hervor und sahen das Land als ein Bindeglied zwischen seinen Nachbarländern. Dieses Motiv ist von Intellektuellen in der Zwischenkriegszeit oft aufgegriffen worden, wie im Aufsatz des Schriftstellers Franz Hellens „Un balcon sur l’Europe“, der den besonderen „europäischen Geist“ Belgiens in den Vordergrund stellte. Es diente politischen Zielen mit dem Erarbeiten des Projektes eines föderativen europäischen Staates nach amerikanischem Modell (Mouvement paneuropéen mit Richard de Coudenhove-Kalergi), aber es wirkte sich ebenso in den wirtschaftlichen Milieus (Stahlindustrie, Elektrizitätsbranche) aus, die sich der Notwendigkeit einer grenzübergreifenden Zusammenarbeit für einen starken europäischen Standpunkt gegenüber dem amerikanischen Wachstum immer mehr bewusst wurden.

Im Kontext der internationalen Beziehungen spielen Persönlichkeiten eine wichtige Rolle. So begründet M. Dumoulin seinen Aufruf zu prosopographischen Studien über die wirtschaftlichen und politischen Eliten (nicht nur Regierende, sondern auch höhere Beamte, Diplomaten und Entscheider in der Wirtschaft), um ihre Teilnahme am europäischen Prozess und ihren Einfluss auf die belgische öffentliche Meinung (die wegen der Weltkriegserfahrungen die Teilnahme Deutschlands an der EWG nicht warmherzig begrüßte) besser einschätzen zu können.

Viele Beiträge stützen sich weitgehend auf neu untersuchte Archivmaterialien. Selbstverständlich gehört diese Leistung zu den großen Errungenschaften der angebotenen Studien, indem sie neue Forschungsgebiete öffnen und dadurch neue Forschungsansätze fördern. Besonders erwähnenswert sind La Belgique et le Bénélux: de l’universalisme au régionalisme (T. Grosbois), La Belgique et l’association des pays et territoires d’outre-mer (PTOM) au Marché Commun (1955-57) (E. Deschamps) und La politique étrangère de la Belgique et l’intégration europénne sous l’ère Harmel (1965-1973) (V. Dujardin).

Der Band versteht sich keineswegs als Beitrag zur Selbstbehauptung Belgiens als untenbehrlicher positiver Faktor im europäischen Einigungsprozess. Kritische oder distanziertere Stimmen kommen ausführlich zu Wort. So werden behandelt : die gespaltene belgische öffentliche Meinung Europa gegenüber, die Verteidigung eigener Interesse wie in der Frage des Verhältnisses zu den Kolonien im neuen europäischen Wirtschaftsraum, die Verteidigung nationaler Souveränität wie in der Politik vom Außenminister Paul van Zeeland (1949-1954), oder auch die unaufhaltsame Suche nach internationalem Prestige durch einen strikten Legalismus und eine aktive Teilnahme am internationalen Leben. Diese erlaubt es, sowohl das Selbstbewusstsein als anerkannter Staat zu stärken, als auch auf dem Gebiet der Innenpolitik gegen Spaltungstendenzen zu wirken.

Darüber hinaus bietet dieser Sammelband ein Beispiel von Transfergeschichte (auch wenn der Begriff nie auftaucht) an: im zweiten Teil wurde der Blick anderer Gründungsstaaten der EWG (Deutschland, die Niederlande, Frankreich und Italien) sowie die Betrachtung polnischer Einwanderer über Belgien herangezogen. Die Gegenüberstellung dieser Ansätze von außen (die die Entwicklung der Rezeption Belgiens im eigenen Land teilweise studieren, wie in Italy´s View of Belgium´s Role in the European Construction (1947-1957) von A. Varsori) und der Ergebnissen des ersten Teils vervollständigen das Gesamtbild der europäischen Politik Belgiens.

Das Interesse am Band wird durch die vielen informativen Elemente über die angesprochenen Themen genährt. Es zeigt sich außerdem, daß die heutige Europäische Union aus den vielen gelungenen Verhandlungen, aber auch aus den versandeten intellektuellen Versuchen und aufgegebenen Plänen (Plan Beyen, die europäische Verteidigungsgemeinschaft in den 50er, usw.) heraus verstanden werden sollte.

Jedoch gehören m. E. zu den Schwächen dieses Buches die Themenvielfalt und das Fehlen an Kohärenz – man vermißt ein methodologisches Konzept außer einer unpräzisen chronologischen Reihenfolge – sowie die nicht weiter thematisierte Komposition von Ideengeschichte (wie im Aufsatz L’idée d´Europe en Belgique dans l’entre-deux-guerres (1919-1939) von G. Duchenne), Geschichte der internationalen Beziehungen, in deren Rahmen die meisten Beiträge stehen, sowie juristischen und politisch-historischen Einsichten. Am Beispiel dieser zweifellos anregenden europabezogenen Studie wird der Wunsch stärker, dass theoretische Kategorien aus den Politikwissenschaften (die nicht völlig außer Acht gelassen sind, wie im Beitrag von P. Deloge, La Belgique -petite puissance- et la sécurité de l’Europe au XXe siècle) und aus der Transfergeschichte bestimmte geschichtswissenschaftliche Diskurse besser prägen sollten, damit Wechselbeziehungen zwischen geschichtlichen Strukturen und den politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten sowie der Selbstinterpretation der Akteure einsichtig werden. Dadurch würde der hypothetische Gehalt der geschichtswissenschaftlichen Rekonstruktion deutlicher, und die detaillierte Wiedergabe der Einzelheiten an Komplexität, aber auch strukturierter Deutung gewinnen. Sollte man nicht dieses Buch unter dem historisch-philosophischen Aspekt der liberalen Kultur (im weitesten Sinn) Belgiens, oder unter dem verbindenden geopolitischen sowie symbolischen Gegensatz Großmacht/Kleinstaat oder auch unter der Vorstellung von Belgien als gelungener „Mischkultur“, die extern in der Vermittlerrolle vieler belgischer Hauptfiguren der internationalen Politik und intern in der belgischen Kompromissfähigkeit ihren Ausdruck findet, neu lesen können?

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