Cover
Titel
'Ich versuche jeden zu retten'.


Autor(en)
Hosenfeld, Wilm
Herausgeber
Vogel, Thomas
Erschienen
Anzahl Seiten
1194 Seiten
Preis
€ 29,90
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Stephan Lehnstaedt LMU München

War Wilm Hosenfeld ein „ganz normaler Deutscher“? 1895 als siebtes von neun Kindern einer katholischen Familie in Mackenzell geboren, einem Dorf am Rande der Rhön, nahm er nach seinem Studium und einer kurzen Zeit beim „Wandervogel“ am Ersten Weltkrieg teil. Dort erlebte er als Unteroffizier die Kämpfe an der West- und Ostfront. Nach dem Krieg kehrte er in sein bürgerliches Leben zurück, wurde - wie sein Vater – Volksschullehrer, heiratete und zeugte fünf Kinder. Zunächst politisch im Zentrum beheimatet, trat der streng katholische Hosenfeld aus innerer Überzeugung zuerst 1933 der SA und zwei Jahre später der NSDAP bei, ohne dort allerdings durch besonderes Engagement aufzufallen. Bei Kriegsbeginn wurde er zur Wehrmacht eingezogen und diente sich, von 1940 bis 1945 in der Warschauer Etappe unter anderem als Leiter des Wehrmachtssports eingesetzt, bis zum Hauptmann hinauf. 1945 geriet er in sowjetische Kriegsgefangenschaft, wurde in einem Minsker „Prozess“ als Kriegsverbrecher verurteilt und starb 1952 in einem Lager bei Stalingrad.

Auf den ersten Blick ein nicht ungewöhnlicher Lebenslauf für einen deutschen Mann in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der keinesfalls eine fast 1200 Seiten starke Edition seiner Tagebücher, Notizen und Briefe zu rechtfertigen scheint. Doch so ungewöhnlich wie die Umstände der hier vorliegenden Edition waren auch die Handlungen Hosenfelds in Warschau. Denn er zeichnete sich dort durch seine Hilfsbereitschaft gegenüber zahlreichen Einwohnern der Stadt aus, die er mit Lebensmitteln unterstützte, ihnen Arbeit bei der Wehrmacht verschaffte und sie sogar vor dem Zugriff der SS und Polizei zu schützen versuchte. Seine ständigen Reflexionen ließen ihn im Laufe des Krieges immer mehr den Nationalsozialismus ablehnen und führten in der Tat dazu, dass er danach strebte, „jeden zu retten“. Seine Handlungsweise und die Entwicklung seiner Einstellungen heben Hosenfeld weit über die Masse der gewöhnlichen Besatzer hinaus, wären aber wahrscheinlich für immer unentdeckt geblieben, wenn nicht 1998 die Erinnerungen des polnisch-jüdischen Musikers Wladyslaw Szpilman in Deutschland erschienen wären. 1 Szpilman – dem breiten Publikum besser bekannt als „Der Pianist“ aus Roman Polanskis gleichnamigen Film – erzählt dort, dass er in seinem Warschauer Versteck von einem deutschen Offizier zwei Wochen lang mit Essen versorgt wurde. Für die deutsche Ausgabe von Szpilmans Buch wurde ein kurzer Ausschnitt aus den Aufzeichnungen eben dieses Retters – Wilm Hosenfeld – präsentiert. Der Liedermacher und Autor Wolf Biermann, der das Werk mit einem Nachwort versah, war davon so beeindruckt, dass er dem damaligen Bundesverteidigungsminister Volker Rühe empfahl, die Bundeswehr möge sich doch einmal mit Hosenfeld beschäftigen. Das hier vorliegende Buch ist das Ergebnis dieses Gesprächs, denn Rühe beauftragte das Militärgeschichtliche Forschungsamt mit einer Recherche, die schließlich zur Edition von Hosenfelds Briefen und Notizen führte.

Thomas Vogel kommentiert und erschließt Hosenfelds Aufzeichnungen durch zahlreiche Anmerkungen und eine immerhin knapp 140 Seiten lange Einführung, die den Lebensweg dieses ungewöhnlichen Mannes vorstellt. Wie bei der Auswahl der Briefe, Notizen und Tagebucheinträge legt auch Vogel den Schwerpunkt auf Hosenfelds Zeit in der Warschauer Etappe; der Volksschullehrer der 20er und 30er Jahre tritt dabei in den Hintergrund. Mit deutlicher Sympathie beschreibt Vogel „Ein deutsches Leben“ – so die Kapitelüberschrift -, was deutlich passender ist als der Untertitel „Das Leben eines deutschen Offiziers“, denn Hosenfeld war kein Berufssoldat. Dennoch wird damit ein Grundproblem der Edition deutlich: Hosenfeld wird kaum in seine Umgebung eingeordnet, sein Leben nur deskriptiv dargestellt, eine Analyse findet nicht statt. Inwieweit Hosenfeld repräsentativ für die Wehrmachtsetappe im Osten war, wird von Vogel nur am Rande behandelt. Die Frage, ob seine Spielräume als Sportoffizier in Warschau typisch oder lediglich situationsbedingt waren, wird nicht aufgeworfen. Ebenso bleibt außen vor, in welchem Maße sich die Wehrmachtsangehörigen von den zivilen Besatzern unterschieden. Das ist bedauerlich, denn Hosenfelds Aufzeichnungen haben nicht nur literarischen Wert, sondern erlauben durchaus Antworten auf derartige Fragestellungen. Gleichwohl: die eigentliche Kommentierung des Textes ist ausführlich und lässt in ihrer Benutzerfreundlichkeit kaum Wünsche offen. Sacherläuterungen, Querverweise und Informationen zu den erwähnten Personen sind stets zu finden und durchaus vorbildlich ausgeführt. Der Detailreichtum zeigt, dass sich das Buch nicht nur an Historiker, sondern auch an historisch Interessierte wendet.

Die hier edierte Quelle dürfte sich für die historische Forschung als überaus wertvoll erweisen. Allerdings weniger für die Rettung von Osteuropäern vor den Deutschen, als vielmehr für deren Alltag. Nur wenig ist nämlich bekannt über das Leben der osteuropäischen Besatzer abseits ihres Dienstes; Tagebücher findet man kaum in edierter Form, deutlich später aufgezeichnete Lebenserinnerungen, die sich auf die bedeutsamen Ereignisse konzentrieren, überwiegen bei weitem. Hosenfeld aber beschreibt in unzähligen Briefen ausführlich sein tägliches Leben, die Sportereignisse in Warschau, seine Abend- und Freizeitgestaltung, seinen Umgang mit Deutschen und Polen, sein religiöses Leben, seine Lektüre, seine Reflexionen über die politischen Ereignisse, und nicht zuletzt seine Hilfe für Einheimische. Deutlich zeigen seine Schriften die Routine in der Etappe einerseits und das Besondere der Okkupation andererseits. Dazu gehören beispielsweise der relative Luxus der Besatzer, der einen Mann wie Hosenfeld durchaus erstaunte, aber auch Fremdheit und gleichzeitige Nähe zu den Einheimischen.

Thomas Vogel und das Militärgeschichtliche Forschungsamt haben eine bedeutende Quelle in einer ansprechenden Aufmachung herausgegeben, die auch außerhalb der Fachwelt Aufmerksamkeit finden wird. Trotz kleinerer Schwächen ist die Edition eine beeindruckende Lektüre, was vor allem an der faszinierenden Persönlichkeit ihres Protagonisten liegt. Wilm Hosenfelds Aufzeichnungen zeigen, dass normale Menschen in außergewöhnlichen Situationen ihre Menschlichkeit bewahren können. Sie zeigen ebenfalls, dass nur wenige die dazu vorhandenen Möglichkeiten genutzt haben.

1 Szpilman, Wladyslaw: Das wunderbare Überleben. Warschauer Erinnerungen 1939-1945. Aus dem Polnischen von Karin Wolff, München 1998.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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