Cover
Titel
Söhne ohne Väter. Erfahrungen der Kriegsgeneration


Autor(en)
Schulz, Hermann; Radebold, Hartmut; Reulecke, Jürgen
Erschienen
Anzahl Seiten
176 S.
Preis
€ 14,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrike Jureit, Hamburger Institut für Sozialforschung

Ein Drittel aller Kinder, die zwischen 1933 und 1945 geboren wurden, wuchs infolge des Zweiten Weltkrieges ohne Vater auf; bei weiteren etwa 30 Prozent war der Vater zumindest längere Zeit abwesend. Kriegsbedingte Vaterlosigkeit ist ein Massenphänomen, durch das die deutsche Gesellschaft bis heute nicht nur statistisch, sondern auch sozial und emotional geprägt ist. Der von Hermann Schulz, Hartmut Radebold und Jürgen Reulecke verfasste Band „Söhne ohne Väter“ thematisiert mit Sachbeiträgen und persönlichen Erinnerungen eine kollektive Erfahrung, nach deren Auswirkungen seit einigen Jahren zwar gefragt wird, die aber noch nicht systematisch erforscht ist. Für die Autoren steht die Frage im Mittelpunkt, welche Folgen der Verlust des Vaters hatte: Wie wären Kindheit und Jugend, wie wäre das eigene Leben verlaufen, wäre ER da gewesen?

Im Zentrum des Buches stehen Aussagen von vaterlos aufgewachsenen Männern, die nun – 60 Jahre nach Kriegsende – beginnen, ihre individuellen Biografien als Teil von Geschichte zu deuten. Kriegskinder waren sie, Söhne von Soldaten, die ihren Vater oft gar nicht kannten oder keinerlei bewusste Erinnerungen an ihn haben. In Trümmern wurden sie groß, unter stark beeinträchtigten Lebensbedingungen mit eigenen Gewalt- oder Fluchterfahrungen. Sie wuchsen in unvollständigen, häufig weiblich dominierten Familienverhältnissen auf. Der Vater war zwar abwesend, aber häufig gerade deswegen dominant – als unsichtbare Größe, als Wunschbild, als Projektion, als Sehnsucht. Sowohl die Autoren des Bandes wie auch die meisten anderen Betroffenen empfinden Vaterlosigkeit als Defizit. Bekenntnisse wie: „Ich hatte eine gute elternlose Kindheit“ (S. 35) gehören bei den Selbstaussagen zu den Ausnahmen. Die Mehrheit erlebt den fehlenden Vater bis heute als Verlust: „Das Gemeinsame aller Erfahrungen […] ist die oft nicht eingestandene lebenslange Trauer, mehr noch die meist erst spät einsetzende Wahrnehmung von Leere, von fehlendem Halt, vom Fehlen ordnender Prinzipien – und des ständigen Zwanges, diese Defizite zu überwinden.“ (S. 8) Das Leben wäre mit Vater anders gewesen, das steht außer Frage, aber wie? Was bewirkt kriegsbedingte Vaterlosigkeit? Und vor allem: Was bewirkt sie nicht? Wie unterscheidet sich Vaterlosigkeit durch Kriegseinwirkungen von anderen Trennungsumständen?

Die Selbstthematisierungen der Betroffenen sind Annäherungen an eigene Gefühle, es sind Erinnerungen und Verarbeitungen eines zentralen Lebensereignisses. Sie ergeben ein recht diffuses Bild, was Vaterlosigkeit bedeuten kann: Einsamkeit, Selbstzweifel und die unablässige Suche nach der eigenen Identität sind Lebensbeschreibungen, die der eigenen Befindlichkeit Ausdruck verleihen, aber bei der Suche nach einer spezifischen Symptomatik kriegsbedingter Vaterlosigkeit kaum weiterhelfen. Für jeden der Betroffenen bedeutet die eigene Vaterlosigkeit offensichtlich etwas anderes. Allgemeine Unsicherheitsgefühle, Zweifel an der eigenen Liebesfähigkeit, Leistungsstärke und frühe Selbstständigkeit sowie Bindungs- und Beziehungsstörungen gehören zu den häufig genannten Selbstbeobachtungen. Man gewinnt allerdings auch den Eindruck, dass Vaterlosigkeit nicht selten als Erklärung für Probleme und Konflikte dient, die möglicherweise ohnehin die eigene Biografie belastet hätten. Solche (selbst-)kritischen Überlegungen findet man im Buch leider zu wenig.

Die Idealisierung des abwesenden Vaters oder besser die Idealisierung seiner so schmerzlich vermissten Anwesenheit scheint eines der Hauptprobleme zu sein. Nicht immer sind Widersprüche und Selbsttäuschungen so offensichtlich wie bei einem Betroffenen, der seinen Vater im Alter von fünf Jahren das letzte Mal sah. Die fehlende Erinnerung an ihn schmerze noch heute – „wie gerne hätte ich es gelegentlich gehabt, seine Stimme mich trösten zu hören, seine Wärme zu spüren, die Berührung zärtlicher Hände zu spüren, von seinen Armen liebevoll gehalten zu werden, sein lächelndes Gesicht vor mir zu sehen!“ (S. 27) Von einem solchen Vater träumen nicht nur Kriegswaisen. Die Sehnsucht nach einem liebenden Vater tritt in diesem Fall besonders krass hervor, da der Betroffene bekennt, dass es leider zu seinen wenigen Erinnerungen gehöre, „dass auf unserem Tisch bei den Mahlzeiten immer ein Rohrstock lag. Der scharfe Knall auf den mit Wachstuch bespannten Tisch, wenn ich nicht essen wollte, hat sich mir eingeprägt“ (S. 27). Es lässt sich kaum gegen den Eindruck anlesen, dass es manchmal eben nicht nur um den Verlust des eigenen Vaters geht, sondern vielmehr um die Sehnsucht nach einem liebevollen Vater – eine Eigenschaft, die bei den in Frage kommenden Männern ja nicht gerade weit verbreitet war.

Die Selbstaussagen der Betroffenen wurden von den Autoren überwiegend durch Fragebögen erhoben und thematisch sortiert.1 Die rund 250 Textbausteine haben dadurch ihren biografischen Gesamtkontext eingebüßt. Der Leser kann zwar die Kernaussagen der Befragten nach Themen geordnet nachvollziehen, vermag sie aber nicht lebensgeschichtlich einzuordnen. Die Zeitzeugen bleiben daher weitgehend konturlos. Da es sich bei den Selbstthematisierungen um biografische Sinnstiftungen handelt, ist der fehlende Gesamtzusammenhang methodisch problematisch. Die Deutungs- und Erinnerungsmuster der Betroffenen wären als biografische Konstruktionen verständlich und interpretierbar; als Fragmente dagegen haben sie allenfalls illustrierenden Charakter. Eine Auswahl weniger, dafür aber lebensgeschichtlich dargestellter Fallbeispiele wäre hier sehr viel aussagekräftiger gewesen. Durch eine solche Vorgehensweise wäre auch der Forschungszusammenhang greifbarer geblieben, denn trotz der literarischen (Hermann Schulz), psychoanalytischen (Hartmut Radebold) und zeithistorischen (Jürgen Reulecke) Kommentierungen fehlt eine Auseinandersetzung mit den inzwischen sehr differenzierten Ergebnissen der Generationenforschung. Obgleich das Buch den Generationenbegriff im Titel führt (dort sprechen die Autoren allerdings unverständlicherweise von „Kriegsgeneration“), bleibt in der Darstellung auffallend unterbelichtet, dass sich aus den Jahrgängen der Kriegskinder eben auch die rebellierenden Studenten der Außerparlamentarischen Opposition Ende der 1960er-Jahre rekrutierten. Bevor man – etwas übereilt und oberflächlich – mal wieder eine neue Generationenbildung beschwört, wäre es sinnvoll gewesen, diese offensichtlichen Zusammenhänge empirisch und analytisch aufzuarbeiten.

Die Erfahrungen der Kriegskinder sind in den letzten Jahren wieder stärker in den Mittelpunkt getreten, vor allem durch die Auseinandersetzungen der Betroffenen selbst. Tagungen, Selbsterfahrungsgruppen, Buchpublikationen – die mittlerweile zwischen 60 und 70 Jahre alten Kriegskinder suchen nach ihrer eigenen Geschichte; sie wollen wissen, welcher Zusammenhang zwischen psychischer Symptomatik und eigenen, oft unbewussten Kriegserinnerungen besteht. Das enorme Interesse an diesem Thema zeigte sich kürzlich auch bei einem Kongress in Frankfurt am Main, den Radebold und Reulecke mitorganisiert haben.2 Mehr als 600 Zeitzeugen und Wissenschaftler folgten der Einladung des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen, des Sigmund-Freud-Instituts sowie des Fritz-Bauer-Instituts. Fachübergreifend wurde nicht nur nach den individuellen Folgen von Kriegskindheit gefragt, sondern auch nach dem Stellenwert dieser kollektiven Erfahrung in der wesentlich durch den Holocaust geprägten deutschen Erinnerungskultur. Die Befürchtung, mit den Kriegskindern würden sich abermals Deutsche zu Opfern stilisieren und damit in Konkurrenz zu den Opfern der deutschen Vernichtungspolitik treten, ließ nicht lange auf sich warten. Sicherlich kann man an der aktuellen Diskussion um Kriegskindheit vieles kritisieren, insbesondere ihre manchmal etwas aufdringliche Selbstfindungs- und Betroffenheitsrhetorik. Die Sorge allerdings, hierdurch könnten die Leiden der Holocaust-Opfer relativiert werden, ist nicht nur unbegründet; 60 Jahre nach Kriegsende erschwert sie auch notwendige Selbstbefragungen der deutschen Gesellschaft.

Anmerkungen:
1 Der Fragebogen ist leider im Buch nicht veröffentlicht; somit ist der Leser allein auf die Auswertung der Autoren angewiesen.
2 Siehe dazu den Bericht von Lu Seegers: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=766>.

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