E. Kürsat: Der Verwestlichungsprozeß des Osmanischen Reiches

Cover
Titel
Der Verwestlichungsprozeß des Osmanischen Reiches im 18. und 19. Jahrhundert. Zur Komplementarität von Staatenbildungs- und Intellektualisierungsprozessen


Autor(en)
Kürsat, Elcin
Reihe
ZwischenWelten: Theorien, Prozesse und Migrationen 7.1 & 7.2
Anzahl Seiten
Band 7.1: 540 S; Band 7.2: 666 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans-Lukas Kieser, Universität Zürich Email:

In der materialreichen Habilitationsschrift der Soziologin Elcin Kürsat interessiert, um es vorweg zu sagen, vor allem die innovative Analyse der osmanischen Eliten im 19. Jahrhundert. Kürsat arbeitet einen grundlegenden, in vielen Islamismusdebatten unerkannt gebliebenen Befund heraus: die Geburt des Islamismus, als massenmediale Ideologie, im spätosmanischen Kontext. In den Jungosmanen erkennt sie die „erste Gruppe von Ideologie schaffenden und auf Massenverbreitung und -mobilisierung zielenden Intellektuellen im Osmanischen Reich“ (I, S. 20). Ihr zweibändiges Werk handelt von Interaktion in doppelter Hinsicht: „Verwestlichung“ im Hinblick auf das Verhältnis von Okzident und osmanischer Welt sowie „Komplementarität“, was das Interagieren von politischer und intellektueller Geschichte bei osmanisch-muslimischen Eliten angeht. Sie beruft sich auf den zivilisationstheoretischen Ansatz und die Prozess-Soziologie von Norbert Elias und erhebt den Anspruch, „als erste die Interdependenz zwischen Staatenbildungs- und Intellektualisierungsprozessen am Beispiel des Osmanischen Reiches aufzuzeigen“ (I, S. 19).

Kürsats Werk ist in fünf Teile aufgeteilt. Der erste Teil setzt sich mit dem „Erbe der islamischen politischen Ideengeschichte in den Herrschaft- und Gesellschaftskonzepten des Osmanischen Reiches“ auseinander. Eine gewisse Defizitperspektive prägt ihre Auseinandersetzung mit dem vorneuzeitlichen islamischen Erbe, das sonst oft – bei den Jungosmanen wie in der Orientalistik – idealisiert wird. Der zweite Teil befasst sich mit der «innergesellschaftlichen Machtfiguration» und mit Reformbestrebungen. Er thematisiert staatliche und gesellschaftliche Entwicklungen noch vor der eigentlichen osmanischen Reformzeit im 19. Jahrhundert. Auch hier überwiegt ein kritischer Unterton. „Narzisstische Kränkung“ (der osmanischen Elite) ist ein Schlüsselbegriff in Kürsats Analyse: Verwestlichung, die unumgängliche Übernahme abendländischer Errungenschaften, war vom 18. Jahrhundert an ein schmerzlicher Prozess – im Gegensatz zur souveränen Integration „fremder Elemente“ während des osmanischen Aufstiegs oder zur Zeit der Abbasiden.

Im dritten Teil kommen die Tanzimat-i hayriye, die „Neue Ordnung, die Heil bringen soll“ (1839–76), zur Sprache. Während die ersten beiden Teile gelegentlich als eine Zusammenstellung lesenswerter Lektürenotizen erscheinen, wirkt hier die Darstellung konturierter, auch was biografische Einblicke in die Reformeliten betrifft. Ein Grundproblem der osmanischen Reformschritte im 19. Jahrhundert war ihre Neben- oder Hauptfunktion als diplomatische Waffe, um die europäischen Großmächte günstig zu stimmen. So befanden sich 1839, als das erste Tanzimat-Edikt erlassen wurde, die Truppen eines nur noch formal osmanischen Ägyptens auf dem Vormarsch gegen Istanbul. Abwehr war nur mit Hilfe Europas, in diesem Fall Großbritanniens, möglich. Im Widerspruch gegen die Imperialismusliteratur der 1970er-Jahre betont Kürsat, dass die Öffnung des osmanischen Marktes für britische Waren 1838 nicht der ausbeuterische Preis dafür war, sondern primär der Erhöhung der osmanischen Zolleinnahmen diente. Aber der Zentralstaat blieb zu schwach, um seine neue Ordnung flächendeckend durchzusetzen; um seine Macht zu bewahren, musste er weiterhin Allianzen mit zum Teil reaktionären Lokalherrschaften eingehen. Insbesondere konnte das Gewalt- und Steuermonopol in keiner geschichtlichen Epoche das armenisch-kurdische Ostanatolien erfassen (II, S. 94).

Die reformerische Ambivalenz entsprang nicht allein Sachzwängen, sondern auch einem verunsicherten, ungeklärten Selbstverständnis: einerseits festzuhalten am traditionellen muslimischen Ordnungsideal, „der Harmonie der Ungleichheit“ (mit herrschenden Sunniten und sondersteuerpflichtigen Nichtmuslimen, II, S. 135) und andererseits sich einzulassen auf eine tendenziell egalitäre, säkulare Gesellschaftsordnung, wie sie die europäischen Staaten forderten. Entging die „Verletzung des Wir-Stolzes der Mehrheit der herrschenden Elite durch die Aufgabe des Vormachtdenkens“ bisher wirklich der Aufmerksamkeit der historischen Forschung (II, S. 158)? Wohl nicht ganz, aber Kürsat hat zweifellos Recht, wenn sie ein besonderes Augenmerk auf Aspekte wie Kränkung, Selbstbild, Fremdbestimmung, Stolz und Angst in dem gleichzeitigen Ringen um Reformen, zwischenstaatlichem Verhandeln und kultureller Interaktion richtet. Dies gilt auch für ihre Abwehr von Deutungen, die die Tanzimat nur als Resultat europäischen Druckes erklären. Es gab wichtige Reformkräfte von Innen, so auch armenische Intellektuelle, die sich an der Seite der Reformer engagierten und bei der Vorbereitung der ersten osmanischen Verfassung von 1876 und im Außenministerium prominent vertreten waren (die Reformproklamation von 1856 hatte den Zutritt zu staatlichen Stellen und in repräsentative Räte eröffnet).

Die von Kemalisten portierte pauschale Sicht der Ulema als fortschrittsfeindliche Reformgegner treffe nicht zu, wie Kürsat im vierten Teil unter dem Stichwort „Bündnis der abgestiegenen und deprivierten Gruppen“ ausführt (II, S. 400). Zudem bedeutete der Ausbau der Reformbürokratie auch einen Machtverlust des Militärs, das zuvor in die Verwaltungshierarchie integriert war, obwohl primär das Militär vom Technologie-Import aus Europa profitierte. Um im spätosmanischen Kontext eine schlagkräftige Mobilisierung zu erzielen, bedurfte es daher eines Bündnisses von revolutionären Ideologen, die zum Teil aus den Ulema stammten, und Teilen des Militärs. Die politisch antiwestliche Mobilisierung beider Gruppen war von den gegensätzlichen Polen des Islamismus und des Türkismus geprägt; der eine politisch und kulturell antiwestlich, der andere prowestlich, wenn es um „Zivilisation“ ging. Was Türkisten und Islamisten verband, war die Beziehung zum Staat: Dieser sollte ihren Lebensunterhalt, ihre Karriere und insbesondere die Dominanz der eigenen kollektiven Identität garantieren. Beide Gruppen gingen davon aus, dass keine übergreifende säkulare osmanische Identität möglich sei. In der Tat war die Reformbemühung der Tanzimat nur mit einem schwachen identitätsbildenden Projekt einhergegangen, zumal sie eine relativ geschlossene Bürokratenelite förderte. Selbst die christlichen Gemeinschaften konnten nur beschränkt Vertrauen zum Reformstaat fassen, obwohl sie im Kontext der Tanzimat einen bildungsmäßigen und wirtschaftlichen Aufschwung erfuhren und privilegiert mit westlichen Akteuren interagierten.

Der fünfte und innovativste Teil von Kürsats Werk, der am stärksten auf Primärquellen fußt, geht auf die oppositionellen Jungosmanen ein. Die Bewegung der Jungosmanen der 1860er- und 1870er-Jahre ging hervor aus der Begegnung zwischen „zwei seit Jahrhunderten verfeindeten Zivilisationssphären und aus dem Anspruch, kulturelle Widersprüche und Dichotomien zwischen okzidentalen und orientalischen Staatssystemen unter den Bedingungen der Machtasymmetrie intellektuell und affektiv zu bewältigen“ (II, S. 419). Die Jungosmanen und ihre Epigonen waren nicht einfach, wie die kemalistische und gewisse Teile der okzidentalen Geschichtsschreibung lange suggerierten, säkulare, progressive und demokratische Kräfte. So sehr sie westlich beeinflusst waren, im europäischen Exil weilten und Presse, Literatur und Theater politisch-oppositionell nutzten, waren es doch die Jungosmanen, die „die ersten Ansätze der Islamismus-Ideologie“ gegen die „zersetzenden Einflüsse der westlichen Zivilisation und Übermacht Europas“ vertraten (II, S. 420). Sie argumentierten für mehr Demokratie und gegen den eigenen, als despotisch erlebten Staat der späten Tanzimat, indem sie auf islamische Prinzipien pochten, zumal sie alle vor dem Erlernen der französischen Sprache und Kultur eine islamisch-scholastische Ausbildung genossen hatten. Nur sehr beschränkt konnten sie sich als „Journalistenintellektuelle“ etablieren, ihre Abhängigkeit vom Staatsdienst oder von ranghohen Gönnern blieb die Regel: eine von vielen Eigenschaften, die sie mit der zahlreicheren Gruppe der oppositionellen Jungtürken nach ihnen teilten. Anders als diese waren sie noch nicht bereit, im Namen der Wissenschaft zugunsten ethnonationaler und rassenanthropologischer Begründungen auf islamische Prinzipien zu verzichten.

Die „Vereinigung des Islams“ (Ittihad-i Islam) als Zukunftsvision war ein Schlüsselbegriff osmanischer Intellektueller, wie Kürsat auf der Basis einer umfassenden Lektüre von Zeitungen, einschließlich Leserbriefen, der späten Tanzimatzeit darlegt. Sie situiert die Entstehung des Islamismus als politische Ideologie in den Jahren 1867–73, also deutlich vor der Herrschaft des Sultans Abdulhamid II., der gegen Ende des 19. Jahrhunderts das Projekt staatlicher Reform in der Perspektive eines Islamismus/Panislamismus neu formulierte. „Die Jungosmanen rekonstruierten das islamische Denkgebäude als neue und universale soziopolitische Ordnung, die sie mit westlichen politischen Idealen wie Demokratie, Repräsentation, Freiheit usw. schmückten“ (II, S. 497). Diese „neue kollektiv befriedigende, das erniedrigte Wir-Bild aufwertende Zukunftsvision“ habe auch eine Lösung für die Identitätsprobleme bringen können, die sich den Jungosmanen im Zeichen ihres Exils verschärft stellten. Erst ihr Exil in Europa, wo sie sich auf ein abgewertetes Anderssein zurückgeworfen empfanden, bewog sie, diesen mit dem Einsatz von Massenmedien verknüpften „fundamentalistischen Weg“ zu gehen, hält Kürsat mit Verweis auf Mümtazer Türköne fest.1 Indem die jungosmanische Zeitschrift Basiret 1870 für „die Orientierung an der islamischen Gemeinschaft“ optierte (II, S. 520), um eine Einheit analog westlicher Nationalstaaten zu erreichen, wies sie dem Islam bzw. Islamismus eine den westlichen Nationalismen ähnliche Funktion zu. Die jungosmanische Zeitschrift Hürriyet plädierte schon 1868 für einen starken osmanischen Staat als weltweiten „Fürsorger des islamischen Glaubens“ (II, S. 499). Das Kalifat wurde 1876 in der Verfassung verankert und gewann an Bedeutung, was mit der Entstehung internationaler islamischer Solidarität als einer „antikolonialen Bewegung und Ideologie“, namentlich in der Interaktion mit Russlandmuslimen, korrelierte (II, S. 517).

In ihren instruktiven Analysen ausgewählter Jungosmanen macht Kürsat deutlich, dass der noch nicht hinterfragte Rekurs auf den Islam bereits mit ethnozentrischen Vorstellungen vom Türkentum einherging, so bezeichnenderweise bei Ali Suavi und Namik Kemal, die beide ein prägendes Exil in einem Europa der Nationalismen durchlebt hatten. Beides wiederum verband sich mit einem zunehmenden Misstrauen gegenüber nichtmuslimischen und nichttürkischen Osmanen und ihren wirklichen oder vermeintlichen Privilegien im Reich. Schon 1868 schrieb Suavi im Namen der Muslime, wie Kürsat aus Muhbir übersetzt: „Sie können niemals dulden, dass die unter ihrer Herrschaft stehenden Völker jetzt höher stehen und dass sie selbst beherrscht werden. Sie werden alles riskieren und viel Blut vergießen!“ (II, S. 454). Bei ihrer Analyse von Identitäten und Feindbildern im Werden lässt Kürsat keinen Zweifel daran, dass sie Faktoren im Entstehen sieht, die nach den einschneidenden Balkankriegen 1912/13 zum großen Mord an den Armeniern beitrugen.

Elçin Kürsats zweibändiges Werk verlangt den Leser/innen viel ab, weil es vielschichtig und weitschweifig ist, aber auch was Äußerliches angeht (gedrängtes Layout, mehrseitige fremdsprachige Zitate, formale Corrigenda und anderes). Zwei Vorzüge überwiegen: Als eine klar gegliederte Wissenssammlung, die dank eines ausführlichen Inhaltsverzeichnisses und eines kombinierten Sach- und Namensindexes gut erschließbar ist, hat das Werk enzyklopädische Qualität. Vor allem aber ist es die eindrückliche Denkspur einer Wissenschaftlerin und „Deutschtürkin“ mit hoher Selbstreflexion. Vom Beginn an legt sie die Verortung ihrer geistigen Produktion offen und verdeutlicht aus einschlägiger Erfahrung die „prekäre Stellung türkischstämmiger Intellektueller“, wenn sie kritische Distanz zur türkischen Nationalgeschichte wagen (I, S. 11, 13). Auch das erheischt Respekt. Zu wünschen wäre, dass die Autorin eine kürzere, lesbarere Version für ein breiteres Publikum vorsieht.

Anmerkung:
1 Türköne, Mümtazer, Siyasi ideoloji olarak islâmciligin dogusu, Istanbul 1991.

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